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du der Straßenreinigung die Arbeit abnehmen oder hat dich Joe rausgeworfen, weil du dein Bier nicht bezahlen konntest?«

      »Ja, weil ich mein ganzes Geld an dich verliehen habe.« Kurz fragte ich mich, ob der Angreifer von vorhin wieder bei Bewusstsein war. Vielleicht lag er noch immer auf dem nassen Boden und wurde selbst Opfer eines Verbrechens. Verdient hätte er es allemal.

      »Ich bin überfallen worden«, sagte ich, weil ich wusste, dass Lennie ohnehin keine Ruhe geben würde.

      »Ach, du Kacke.« Einen Moment lang schien er echt betroffen zu sein. Aber wirklich nur einen Moment lang. »Wie konnte das passieren? Wie viele waren es? Ist dir was passiert?«

      Zunächst geizte ich mit Informationen, doch Lennie war wie ein Bluthund und ließ nicht locker. Schließlich gab ich klein bei und erzählte die ganze Geschichte. Selbst jenen Teil mit den geheimnisvollen Fremden, den ich selbst nicht ganz verstanden hatte. Bloß den Punkt mit der Dunkelheit ließ ich aus. Lennie hätte mir ohnehin nicht geglaubt.

      »Und du hast keine Ahnung, was für Typen das gewesen sind?«

      »Nein, nicht die Geringste.«

      »Na ja, sei froh, dass sie da waren. Wer weiß, wie die Sache sonst ausgegangen wäre.«

      Damit war das Thema erledigt. Sich am Kopf kratzend, suchte Lennie den Tisch ab und verschwand in Richtung Küche. »Was deine Kohle angeht …«, rief er auf halben Wege, »… ich hab sie noch nicht zusammen.«

      »Was für eine Überraschung.«

      »Hey, die Zeiten sind hart. Das ganze verdammte Leben ist hart.«

      »Erspar mir die Leier. Du könntest dir mal was Originelleres einfallen lassen.«

      Lennie kehrte aus der Küche zurück und winkte mit zwei ungeöffneten Bierflaschen. Als ich ihm zunickte, fiel mir erneut auf, wie blass er war. Noch blasser als ich, und das wollte was heißen. Unter seinen Augen waren dunkle Furchen, als hätte er seit Wochen nicht mehr geschlafen.

      »Bist du okay?« Ich musterte ihn mit besorgtem Blick. Er schien im ersten Moment nicht zu verstehen und sah mich verständnislos an.

      »Dein bleiches Gesicht«, verdeutlichte ich.

      Mein Freund winkte ab. »Ich fühle mich nur etwas matt. Wahrscheinlich fehlt mir einfach ein bisschen Schlaf.«

      »Wahrscheinlich ist gut. Du siehst aus, als hättest du die ganze Woche durchgemacht.«

      »Ich schlafe schlecht. Nichts Besonderes.«

      Ich betrachtete ihn skeptisch und gab ihm die Zeit, mir mehr über sein Problem zu erzählen. Als nichts passierte, nickte ich. »Nicht, dass du mir krank wirst. Dann kann ich noch ewig auf mein Geld warten.« Ich zwinkerte ihm zu, aber er sah es nicht.

      »Keine Sorge, wirst sehen, bald bin ich wieder in Topform.«

      »Du warst noch nie in Topform, Lennie.«

      Er setzte sich neben mich aufs Sofa und reichte mir ein Bier. Eigentlich hatte ich nur auf einen Sprung vorbeischauen wollen, aber seit ich saß, waren meine Arme und Beine schwer geworden. So schnell bekamen mich keine zehn Pferde mehr hoch.

      Es war weit nach Mitternacht, als ich nach Hause fuhr. Noch immer schmerzte mein ganzer Körper vom Angriff, und mein Schädel fühlte sich an wie eine Kirchenglocke, die zu oft geläutet wurde. Darüber, wie ich morgen den Tag überstehen sollte, dachte ich lieber nicht nach.

Zweiter Tag

      3 – Norman

      Der Morgen begann so, wie der Abend davor geendet hatte. Die Blessuren und Schürfwunden versicherten mir beim Aufstehen, dass sie mich den ganzen Tag an den Überfall erinnern würden. Kopfschmerz und Müdigkeit begleiteten mich ins Badezimmer. Hinzu kam, dass mir der Kaffee ausgegangen war. Auch der Arbeitstag entwickelte sich zur mittleren Katastrophe.

      Obwohl ich meinen Job seit fast zwanzig Jahren ausübte, war ich noch immer nicht so abgebrüht, dass mir manche Dinge nicht trotzdem an die Nieren gingen. Wenn, so wie heute, die Leiche eines kleinen Mädchens gebracht wurde, das die Eltern hatten verhungern lassen, und ich auch noch jener Unglückselige war, der die Obduktion vornehmen musste, kamen sofort alle Zweifel wieder hoch.

      Am Anfang meiner Karriere war ich voller Hoffnung und Tatendrang gewesen. Ich hatte die Gerichtsmedizin als detektivischen Geniestreich gesehen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Doch dies hier war nicht CSI oder irgendeine andere Medical-Detectives-Show. Es ging nicht darum, nahezu perfekte Verbrechen aufzuklären oder im Schicki-Micki-Milieu zu ermittelten. Ständig kamen Leute auf grausame Weise ums Leben oder töteten sich selbst, sodass es mir zunehmend schwerer fiel, an das Gute im Menschen zu glauben. Wahrscheinlich lächelte ich deshalb so selten.

      An Tagen wie diesem fragte ich mich ernsthaft, ob ich den Job bis zur Pensionierung durchhalten würde. Manchmal war es einfach nur beängstigend. Das vollkommene Gegenteil dessen, was ich früher einmal darin gesehen hatte. Andererseits: So lange es Gewaltverbrechen und – zumindest auf den ersten Blick – unnatürliche Todesfälle gab, besaß ich einen krisensicheren Job. Das war in der heutigen Zeit keine Selbstverständlichkeit.

      Die Autopsie des Mädchens hatte mich bis zum frühen Nachmittag beschäftigt, doch auch danach wurde der Tag nicht besser. Zwar bekam ich keine weitere Leiche auf den Obduktionstisch, aber in Ruhe meine Berichte abzuarbeiten, war ebenfalls unmöglich. So abwegig dies für Außenstehende klingen musste, aus dem Leichenschauhaus waren wieder einmal Leichen verschwunden bzw. kurzfristig verlegt worden, wie es mir der Verantwortliche erklärte. Kurz gesagt: Die Leute hatten keine Ahnung, wo sich die toten Körper derzeit befanden.

      Wenn sich so etwas als einmalige Sache entpuppt hätte, wäre es noch zu verkraften gewesen, aufgrund der Unfähigkeit bestimmter Behörden und Personen, geschah so etwas sehr viel häufiger, als man es sich vorstellte. Möglicherweise hatte nur jemand in der Verwaltung geschlampt oder einer hatte die falsche Lieferung in Auftrag gegeben. Zig Erklärungen waren möglich und keine einziger davon gefiel mir. Trotz allem war ich überzeugt davon, dass wir die Toten mit Respekt behandeln sollten. Schließlich endeten wir alle früher oder später zugedeckt auf einer metallenen Bahre.

      Wie alle Menschen, wusste ich einen Platz, an den ich dachte, wenn mir die Arbeit über den Kopf wuchs. Allerdings war dies bei mir kein Heim mit Frau, Kindern und einem zahmen Golden Retriever. So etwas besaß ich schon lange nicht mehr. Bei mir war es die Bar meines Freundes Joe. Auch an diesem Abend war mein Buick unterwegs dorthin und ich freute mich darauf, die bekannten Gesichter wieder zu sehen. Eventuell würde ja Lennie vorbeischauen und mir mein Geld zurückzahlen. Oder Joe erzählte mir mehr von seinen Jazz- und Blues-Konzert-Plänen.

      An die Frauenstimme von gestern Abend vermied ich jedweden Gedanken. Ebenso an den Überfall auf dem Weg zum Auto. Dies waren einfach bizarre Vorfälle, über die sich niemand den Kopf zerbrechen sollte. Jeden Tag geschahen Dinge, die nicht wirklich viel Sinn ergaben. Die Nachrichten waren voll davon.

      Zur Einstimmung auf den Kneipenabend hatte ich mir einen Radiosender eingestellt, dessen Musikprogramm dem von Joe sehr ähnlich war: Stones, Springsteen, Led Zeppelin und die Doors drückten sich hier für gewöhnlich die Klampfe in die Hand. Und da Gott ein Typ mit viel schwarzem Humor war, lief momentan ein Song, der nicht unpassender hätte sein können: Lou Reed's Perfect Day. Ich mochte den Song, obwohl mein heutiger Tag sehr weit davon entfernt gewesen war, perfekt zu sein.

      Während ich den Buick von einer Straße in die nächste lenkte, malte ich mir aus, wie köstlich Joes Bier schmecken würde. Herrlich prickelnd und angenehm kühl. Den Geschmack spürte ich bereits auf der Zunge. Dazu ein Schinken-Käse-Sandwich oder was die Küche sonst hergab. Eine Sekunde lang war ich in Gedanken und genau in dieser Sekunde passierte es.

      Es war fünfzig Meter hinter der grünen Ampel und es war die Hauptverkehrsstraße. Wie aus dem Nichts tauchte vor mir ein Mann auf der Straße auf. Ich erschrak und biss die Zähne zusammen. Mein rechter Fuß wechselte vom Gaspedal zur Bremse und trat sie bis

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