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war Heinrich immerhin schon bei der Geschichte von der Sintflut und Noahs Arche angelangt.

      Am ersten Abend hatte er in der Schöpfungsgeschichte davon gelesen, wie Gott in sieben Tagen die Erde gemacht hat. Gestern hatte er von Adam und Eva, vom Sündenfall, von Kain und Abel und dem Brudermord erfahren. Heute las Heinrich von Noah. Alles schien ihm aufregend lebendig, nicht wie ein Roman, sondern so, als ob es ihn unmittelbar selbst anginge.

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      Vorgestern Abend hatte Heinrich die Coffeebar besucht, eine Art christliche Talkshow, die einmal pro Woche nahe der Reeperbahn stattfand.

      Er war eigentlich nur hingegangen, um sich von seinen quälenden Gedanken abzulenken. Dort, bei der Heilsarmee, wo sich bei Kaffee und Keksen und gemütlichem Kerzenschein die Gelegenheit bot, ein paar Leute zu treffen, die er kannte, nett fand und mit denen man sich unterhalten konnte, war das vielleicht möglich. Alleine vor dem Fernsehapparat in seiner kleinen Dachgeschosswohnung war es ihm jedenfalls nicht gelungen. Nicht einmal das Europapokalspiel hatte ihn fesseln können. So setzte er sich in die U-Bahn und fuhr nach St. Pauli.

      Ganz zufällig war Heinrich vor einigen Jahren in die Coffeebar geraten. Er war nach der Arbeit über die Reeperbahn gebummelt und auf eine Gruppe Singender getroffen. Da er kein bestimmtes Ziel verfolgte, hatte er sich von einem der Heilssoldaten, die kleine bunte Handzettel verteilten, einladen lassen. Die Atmosphäre und die Leute in der Coffeebar hatten ihm gefallen. Seither kam Heinrich – unregelmäßig regelmäßig, je nach Laune, Lust und Stimmung.

      Diesmal wollte Heinrich sich ablenken. Ablenken von dem zermürbenden Kreisen in seinem Kopf, das ihm seit Tagen nachts den Schlaf und tagsüber die Konzentration raubte, weil es endlos um ein und dasselbe Thema spulte: Die Miete. Wovon sollte Heinrich seine Miete bezahlen? Der Termin war überfällig, das Geld war weg.

      Er hatte seinen Lohn an Automaten verspielt. Verspielt! Wieder verspielt. Wo er endlich eine Wohnung hatte und eine Arbeit. Und dann das. Den gesamten Lohn verspielt. Diese sch... Automaten!

      Im Gespräch mit einer Bekannten löste sich der Gedankenkrampf tatsächlich. Erstaunlich schnell. Er hatte sie an jenem ersten Abend kennengelernt, und wie an jedem Donnerstag hatte sie auch heute schon auf Heinrich gewartet und ihn mit dieser Herzlichkeit begrüßt, die er noch nie verstanden, aber dafür um so mehr genossen hatte. Eine Herzlichkeit, die so überwältigend war, dass Heinrich den unangenehmen Seitenhieb schlicht überhörte – die Frage, wo er die letzten beiden Wochen gewesen sei.

      Sie hatten nicht einmal über sein Problem geredet, sondern über alles mögliche, aber allein die Ablenkung hatte Heinrich so gut getan, dass er in einer Zigarettenpause vor der Tür den ersten klaren Gedanken seit Tagen fassen konnte.

      Wie mit einem Schlag blickte er wieder durch den Schlamassel hindurch, der noch vor Minuten so bedrohlich undurchsichtig ausgesehen hatte: Er würde Aufschub bekommen. Er zahlte seine Miete regelmäßig und meistens pünktlich. Sein Vermieter würde ihm zwei Wochen Zahlungsfrist gewähren. Außerdem würde sein Chef ihm einen Vorschuss genehmigen, schließlich war er hochzufrieden mit ihm. So einfach war das.

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      Heinrich war ein guter Arbeiter, ein echter Malocher. Er arbeitete ihm Freihafen. Kaum jemand konnte beim Löschen der Schiffsladung zupacken wie er. Per Kran wurde die Ladung aus den Bäuchen der gewaltigen Frachtschiffe mit ihren fußballfeldgroßen Stauräumen gehoben, Eisenbahnwaggons verfrachteten sie in die noch größeren Lagerhallen der Speditionsfirmen.

      „Hat sich das Boxtraining doch gelohnt“, dachte er manchmal bei der Arbeit, „auch ohne Titel und Prämien.“

      „Und“, schob es sich meistens von selbst dazwischen, schmerzhaft, weil es die verdrängte, unliebsame Vergangenheit war, die sich ungefragt zu Wort meldete, „und ohne es eigentlich anzuwenden.“

      Mit dreizehn hatte Heinrich zu boxen begonnen, doch bevor er wirklich gut war, starb sein Vater – und damit sein Ziel: Er hatte ihm all das heimzahlen wollen, was der betrunkene Vater den Söhnen und der Mutter angetan hatte.

      Weil er Spaß am Boxen gefunden und einige kleine Erfolge erzielt hatte, blieb er dennoch einige Jahre im Training. Als Hilfsarbeiter, eine andere Arbeitsstelle gab es nicht für einen Sonderschüler ohne Schulabschluss, profitierte er nun vom harten Training und der erlangten Kraft und Zähigkeit.

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      Der gemütliche Plauderteil der Coffeebar war vorüber, es folgte eine kurze Predigt. Viele Besucher verabschiedeten sich. Auch Heinrich ging normalerweise zu diesem Zeitpunkt; mit dem Hinweis, dass er früh aufstehen und schwer arbeiten müsse. Einmal hatte er sich eine Predigt angehört, das war ihm genug gewesen. Er hatte sie nicht schlecht gefunden, ohne den lästigen Kanzelton, der ihn in seiner Konfirmandenzeit regelmäßig eingeschläfert hatte. Aber besonders angesprochen hatte sie ihn auch nicht. Heinrich war nicht religiös.

      Irgendwie hatte er heute keine Lust, aufzubrechen. So saß er, als das Licht anging und die Halogenstrahler die Kanzel im Vordergrund des Saales beleuchteten, unter den vielleicht sechzig Zuhörern und lauschte den Worten des jungen Mannes. Es war keine Predigt im eigentlichen Sinn. Der Mann berichtete aus seinem Leben. Er erzählte von seiner Spielsucht.

      Heinrich saugte jedes Wort auf. Das kannte er. Genau das, was der Prediger da vorne erzählte, erlebte Heinrich auch. So ging es ihm. Genau so. Tag für Tag. Immer wieder. Der gurgelnde Strudel der Spielleidenschaft ergriff ihn und zog ihn mit Urgewalt in seine schrecklichen Tiefen hinab. So oft er sich aus eigener Kraft am Schopf gepackt und wieder herausgezogen hatte, über kurz oder lang hatte es ihn wieder gepackt. Seit er nicht mehr trank, spielte er und wenn er eine Zeit nicht gespielt hatte, griff das Verlangen zu trinken nach ihm, so stark, dass er lieber spielen ging. Das war der Strudel, der Teufelskreis, der seit Jahren an ihm zerrte. Der Strudel, dessen Kreiseln immer schneller wirbelte und der Heinrichs Widerstandskraft von Woche zu Woche aufzehrte. Und der da vorne kannte das.

      Der Prediger sprach weiter. Er erklärte, dass Jesus ihm geholfen habe. Durch ein Sündenbekenntnis und ein Gebet habe er die Kraft bekommen, mit dem Spielen aufzuhören. Die Worte trafen Heinrich wie Keulenschläge. An jedem anderen Tag hätte er, je nach Stimmungslage, entweder still in sich hinein gelacht über den Blödsinn, der ihm da untergejubelt werden sollte, oder er wäre aufgesprungen und hätte dem Kerl einen Vogel gezeigt, ihn einen Spinner genannt. Heute nicht. Heinrich wusste: Jetzt ist meine Chance. Die Chance, aufzuhören, loszukommen, freizuwerden. Er glaubte dem, was er hörte – ohne zu wissen, warum.

      Nach der Predigt hielt es Heinrich nicht auf seinem Stuhl. Er sprach den jungen Mann an. Sie setzten sich in eine abgelegene Ecke, wo sie unter vier Augen sprechen konnten, und Heinrich schilderte dem Mann seine Not. Alles platzte aus ihm heraus. Das Spielen, das Trinken, das Bereuen und das erneute Spielen. Sogar die Erlebnisse im Elternhaus, die er noch nie jemandem anvertraut hatte, berichtete er ihm. Der Mann hörte ihm lange zu, stellte ihm zwischendurch einige Fragen und gab hier und da ein paar kurze Kommentare. Als Heinrich geschlossen hatte, knieten sie nieder und beteten miteinander.

      Heinrich sprach ein Gebet nach, und in diesem Moment war ihm, als wenn die Gewichte mit einem Mal von seinen Füßen abfielen, die ihn so oft in den Strudel des Spielenmüssens herabgezogen hatten und die täglich Pfund um Pfund zugelegt hatten.

      Als sie aufstanden, war Heinrich unsicher und konnte noch nicht recht glauben, dass er da eben zum ersten Mal in seinem Leben gebetet hatte. Alles war so unwirklich. Doch zugleich war ihm seltsam wohl und leicht zumute.

      „Hast du eine Bibel? Es ist eine große Hilfe, wenn du darin jetzt liest. So kannst du Jesus besser kennenlernen. Das wird dir helfen, wenn die Lust zu spielen sich zurückmeldet.“

      Nein, Heinrich hatte keine Bibel. Der junge Mann bat ihn, einen Augenblick zu warten, verschwand in einem Nebenzimmer und kehrte mit einem Buch in der Hand zurück. Er schenkte es ihm. Heinrich sträubte sich einen Moment. Er fühlte sich durch das Gebet schon so sehr beschenkt, da wollte

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