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am Tisch, mit einem Gefühl, als hätte mir jemand mit einem Sandsack auf den Kopf geschlagen.

      Am nächsten Tag fuhr Kristins Vater mit dem Wagen nach Stockholm. Von dort aus wollte er nach Kopenhagen fliegen. Ich hatte mich inzwischen wieder etwas beruhigt, da auch diese Nacht friedlich und ohne Zwischenfall vergangen war.

      Wir standen am Tor und sahen dem Professor nach, wie er in seinem blauen Volvo losfuhr. Neben ihm saß Märta mit Hut und Sonntagskostüm. Sie wollte Einkäufe in Stockholm machen und erst nachmittags mit Zug und Bus zurückkommen.

      „Wenn du möchtest, können wir ja Sten oder Magnus fragen, ob sie bei uns im Haus übernachten wollen“, meinte Kristin tröstend, als der Wagen zwischen den Bäumen verschwand.

      Ich schüttelte den Kopf. „Das würde in Lilletorp nur ein wildes Getratsche geben. Schließlich kann keiner von den beiden hier übernachten, ohne seinen Eltern Bescheid zu sagen – und dann hieße es bald im ganzen Dorf, daß wir Angst vor dem Spuk haben.“

      Kristin stöhnte. „Mach doch nicht immer aus allem ein Problem!“ sagte sie.

      Wir gingen ins Haus zurück. Es war ein schöner, warmer Tag; Märta hatte das Frühstück für uns auf der Terrasse gedeckt – nur für Kristin und mich, denn der Professor wollte erst auf dem Flughafen einen Imbiß zu sich nehmen. Ein Schmetterling flatterte über den Rasen, die Vögel sangen in den Bäumen, und Kristin meinte, daß sie nicht überrascht wäre, wenn plötzlich ein Elch seinen Kopf über den Zaun strecken würde.

      Natürlich wollte sie mich aufmuntern. Ich versuchte zu lächeln. „Meinetwegen schauen ein Dutzend Elche und zehn Bären über den Zaun“, erwiderte ich. „So was kann mich nicht mehr schrecken.“

      Kristin sah mich halb ungläubig, halb erstaunt an. „Was? Du bist ja richtig tollkühn geworden, Frankie!“

      „Nicht tollkühn“, sagte ich und schnitt eine Grimasse. „Aber vielleicht habe ich andere… andere Maßstäbe bekommen.“

      Ich merkte, daß sie mich nicht verstand. Eine Weile sahen wir schweigend auf den Garten, in dem es wegen des dichten Blätterdachs nur wenige sonnige Stellen gab. Plötzlich sagte Kristin: „Du, da ist eine alte Schaukel – dort, im Gestrüpp zwischen den Bäumen!“

      Ich folgte ihrem ausgestreckten Zeigefinger mit den Blicken. Zuerst sah ich nichts als ein Gewirr von Zweigen und Blattwerk. Dann aber entdeckte ich etwa einen Meter über dem Gras, in dem Margeriten blühten, ein Brett an zwei Seilen.

      Kristin setzte ihre Kaffeetasse klirrend ab und sprang auf.

      „Das muß ich mir ansehen!“ sagte sie.

      Ich folgte ihr über den gepflasterten Pfad, ein paar verwitterte Steinstufen hinunter und dann durchs hohe Gras zum Gebüsch. Da hing wirklich eine Schaukel – der Himmel mochte wissen, wie lange schon. Das Brett war bemoost und hing an rostigen Drahtseilen von einem Ast, der hoch über unseren Köpfen wie der Rüssel eines Elefanten quer durchs Laubwerk ragte.

      „Ich dachte, hier hat vor meinem Vater ewig kein Mensch mehr gewohnt“, sagte Kristin und stieß das Brett vorsichtig mit den Fingerspitzen an, daß es leicht zu schwanken begann.

      „Sicher“, erwiderte ich. „Die Schaukel hängt ja auch bestimmt schon seit einem halben Jahrhundert hier.“

      „Komisch“, sagte Kristin. „Wer mag wohl zuletzt auf dem Brett gesessen haben? Ein kleines Mädchen im langen Kleid und mit Spitzenunterröcken?“

      Und ehe ich recht wußte, was geschah, drehte sie sich um und setzte sich auf das bemooste, morsche Brett.

      „Du willst doch wohl nicht auf dem Ding schaukeln?“ protestierte ich. „Das Brett hält sicher nichts mehr aus, und wer weiß, in welchem Zustand die Drähte sind. Sie sehen aus, als wären sie schon vom Rost zerfressen – ein Wunder, daß sie überhaupt bis jetzt gehalten haben. Von dem Ast dort oben ganz zu schweigen…“

      „Ach, du mit deinen ewigen Befürchtungen!“ sagte Kristin. „Du bist eine alte Unke. Sieh doch nicht immer so schwarz! Die Schaukel hängt schon so lange hier, warum soll sie mich nicht aushalten? Schließlich bin ich kein Schwergewicht!“

      Und sie begann zu schaukeln – langsam zuerst, mit herausfordernder Miene und sichtlichem Vergnügen. Ich mochte gar nicht hinsehen. Sie gab sich immer mehr Schwung, indem sie sich mit den Füßen vom Boden abstieß; dabei zertrat sie die anmutigen Margeriten und das hohe, schlanke Gras.

      „Sei doch nicht so leichtsinnig!“ bat ich. „Los, komm jetzt wieder herunter!“

      Kristin lachte nur. Sie sah richtig übermütig aus, wie sie da zwischen Licht und Schatten im Laubwerk schaukelte, mit fliegenden Haaren und glänzenden Augen. Sie erinnerte mich an ein Foto von Hamilton, nur daß ein langer, rüschenbesetzter Rock passender gewesen wäre als ihre abgewetzten Jeans.

      „Juhu!“ schrie sie und schwang sich noch höher hinauf, daß die Blätter und Zweige rauschten und raschelten. „Das macht Spaß!“ In ihren Jubelschrei mischte sich plötzlich ein grauenhaftes Knacken und Krachen. Es war ein Laut, der mir fast das Blut in den Adern erstarren ließ.

      Unwillkürlich wich ich zurück. Kristin kam mir entgegengeflogen; für einen Moment sah ich ihren offenen Mund und ihre schreckgeweiteten Augen.

      Die Schaukel schwang zurück, weg von mir – ein furchtbares Ächzen, dann geschah es: splitternd und krachend brach der Ast nieder, der die Schaukel hielt. Er wurde vom Gestrüpp aufgefangen, doch die Schaukel senkte sich ganz plötzlich. Es sah verrückt aus, fast wie eine Trickszene in einem alten Film.

      Ich stand da, hilflos, wie versteinert, konnte nichts tun als zusehen, während Kristin wie eine Puppe vom Brett geschleudert wurde, ein Stück durch die Luft schnellte – vorwärts, wie von einer unsichtbaren Hand gestoßen – und mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden landete.

      Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen. Nichts geschah; das Knacken und Rauschen verklang, die leere Schaukel schleifte übers Gras. Kristin lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, in seltsam verrenkter Stellung, leblos wie eine Marionette.

      Plötzlich erwachte ich aus meiner Betäubung. Ich stürzte zu ihr hin, kniete neben ihr nieder, rief ihren Namen. Doch Kristin rührte sich nicht.

      15

      Ich dachte: Sie ist tot! Kristin ist tot!

      Ich kann nicht beschreiben, wie sehr mich dieser Gedanke entsetzte. Er verursachte mir körperliche Schmerzen – es war, als würde sich mein Herz zusammenkrampfen, nein, mein ganzer Brustkorb bis hinauf zur Kehle, so daß ich kaum noch Luft bekam.

      Wie versteinert starrte ich auf sie nieder. Die eine Hälfte ihres Gesichts lag gegen das Gras gepreßt. Die andere war hinter ihren langen blonden Haaren verborgen. Ich wagte es nicht, das Haar zurückzustreichen und ihr Gesicht anzusehen. Ich wagte es überhaupt nicht, sie zu berühren.

      Regungslos kauerte ich neben ihr. Ein Sonnenstrahl fiel auf ihren Hinterkopf, ließ ihr Haar glänzen. Da sah ich es – ungläubig zuerst, voller Angst, einer Täuschung zu erliegen. Doch dann bemerkte ich es wieder: Die blonden Haarsträhnen, die wie ein Fächer über Kristins rechte Gesichtshälfte gebreitet waren, bewegten sich sacht. Sie atmete!

      Vor Erleichterung kamen mir die Tränen. Mit zitternden Fingern strich ich ihr Haar zurück. Ihre Augen waren geschlossen, doch ich sah ihr Lid zucken. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, so daß ich einen Teil ihrer Zähne sah.

      Sie war sehr blaß. Ich hörte sie leise stöhnen, beugte mich zu ihr, legte meine Lippen an ihr Ohr und flüsterte: „Kristin – hörst du mich? Komm zu dir, Kristin, bitte!“

      Das Stöhnen wurde lauter. Ihre Lippen bewegten sich. Ich merkte, daß sie versuchte, die Augen zu öffnen.

      Ich zitterte vor Ungeduld. Ich konnte es kaum erwarten, bis sie mich wieder ansah, wieder mit mir sprach, sich bewegte. Am liebsten hätte ich sie geschüttelt; doch ich wußte,

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