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anrief, war Doktor Bellamy. Er wohnte kaum dreihundert Meter entfernt, in einem großen weißen Haus hinter dem Kasino, genau genommen zwischen Kasino und Mole, dort, wo sich die drei oder vier schönsten Anwesen der Stadt befanden. Man konnte seine Villa vom Fenster aus sehen. Die ebene, makellose Fassade, durchbrochen von hohen, breiten Fenstern, erinnerte an die Klinik. Auch sie strahlte Ruhe und Würde aus.

      Doktor Bellamy kam scheinbar ungerührt zum Tisch zurück, wo man ihn erwartete und die Karten schon verteilt hatte. Monsieur Lourceau, dem es missfiel, wenn der feierliche Ernst des Bridgespiels durch Belanglosigkeiten gestört wurde, zuckte mit den Schultern. Vermutlich ging das schon seit Jahren so.

      Der Doktor war kein Mann, der sich beeindrucken ließ. Seine Miene zeigte keine Regung. Er überblickte sein Blatt und sagte dann knapp:

      »Zwei Kreuz.«

      Während des Spiels begann er zum ersten Mal, Maigret verstohlen zu mustern. Seine Blicke gingen so rasch, dass man sie kaum bemerkte.

      Aus Barmherzigkeit …

      Warum schlich sich plötzlich ein Satz in Maigrets Gedanken, ganz ohne sein Zutun, und setzte sich dort fest?

      »Jedenfalls ist das mal einer, der nicht aus Barmherzigkeit handeln würde …«

      Selten hatte er in die Augen eines Menschen geblickt, die eine solche Härte ausstrahlten und gleichzeitig glühten, eines Menschen, der seine Gefühle in einem solchen Maß beherrschte, dass er gar nichts preisgab.

      An den Tagen zuvor hatte Maigret das Ende des Spiels nicht abgewartet. Er hatte noch seine übrigen Stammplätze aufsuchen müssen. Der Gedanke, auch nur das Geringste an seinen Gewohnheiten zu ändern, erschütterte ihn.

      »Sind Sie um sechs noch hier?«, fragte er Kommissar Mansuy.

      Der warf einen Blick auf seine Uhr, weiß Gott warum, und nickte.

      Diesmal ging er den Remblai bis zum Ende und am Haus von Doktor Bellamy vorbei, eines jener Anwesen, vor dem die Spaziergänger sehnsüchtig und voller Neid stehen bleiben.

      Und weiter zum Hafen, vorbei an der Werkstatt des Segelmachers, den am Weg ausgebreiteten Segeln, vorbei an der Fähre, den Blick auf die Schiffe gerichtet, die aus- und einliefen und gleich gegenüber dem Fischmarkt Seite an Seite festmachten.

      Dort war ein kleines grün angestrichenes Café, zu dem man vier Stufen hinuntergehen musste: eine dunkle Theke, zwei, drei Tische mit braunem Wachstuch. Die Männer, alle blau gekleidet, hatten ihre hohen Gummistiefel an den Oberschenkeln umgeschlagen.

      »Einen kleinen Weißwein, bitte …«

      … der weder so schmeckte wie jener im Hôtel Bel Air noch wie der in der Markthalle oder der in der Brasserie du Remblai.

      Nun blieb ihm noch, den Quai entlangzuspazieren, an seinem Ende rechts abzubiegen und durch die schmalen Straßen mit ihren einstöckigen Häusern voller Leben, Geräusche und Gerüche zurückzuschlendern.

      Als er um sechs Uhr die Brasserie du Remblai erreicht hatte, war Kommissar Mansuy soeben auf den Gehsteig getreten und zog seine Uhr auf.

      2

      Es dauerte eine halbe Stunde, aber das Warten störte ihn nicht, im Gegenteil. Kommissar Mansuy hatte zu ihm gesagt:

      »Ich habe noch im Kommissariat zu tun und muss ein paar Akten unterschreiben. Wahrscheinlich wartet noch jemand auf mich.«

      Mansuy war klein, rotblond, ein wenig schüchtern und beflissen, als wollte er immerzu sagen:

      »Entschuldigen Sie, aber ich versichere Ihnen, ich tue, was ich kann.«

      Wahrscheinlich war er als Schüler einer von den Neunmalklugen gewesen, die ihre Pausen in einer Ecke verträumen und die man für zu nachdenklich für ihr Alter hält.

      Er war nicht verheiratet und wohnte zur Untermiete in der Villa einer Witwe in der Nähe des Hôtel Bel Air. Von Zeit zu Zeit nahm er seinen Aperitif im Hotel ein, wo Maigret ihn kennengelernt hatte.

      Er wirkte ebenso wenig wie ein echter Kommissar, wie das Kommissariat einem echten Kommissariat glich: Es war in einem Privathaus an einem kleinen Platz untergebracht. Einige Räume waren nicht neu tapeziert, und man konnte noch immer erkennen, dass es sich um ehemalige Schlaf- oder Badezimmer handelte, mit hellen Flecken an den Wänden, wo zuvor Möbel gestanden hatten, und Rohren, die nutzlos geworden waren.

      Doch es hing ein Geruch darin, den Maigret liebte und beinahe erleichtert einsog, ein schwerer Wohlgeruch, so dicht, dass man ihn hätte schneiden können. Es roch nach Ledergurten und Schurwolle von Uniformen, nach Aktenstößen, erkalteten Pfeifen und auch nach den armen Teufeln, die mit ihren Hintern die beiden Holzbänke im Warteraum blankgescheuert hatten.

      Verglichen mit der Pariser Kriminalpolizei erschien das alles ein wenig unprofessionell, als spielte man Räuber und Gendarm. Im Hof wusch sich ein Polizist in Hemdsärmeln Gesicht und Hände. Im Nachbargarten gackerten die Hühner. Weitere Beamte spielten in der Wache, die sich im Eingangsbereich befand, Karten. Sie taten besonders lässig und großspurig, um wie echte Polizisten zu wirken, unter ihnen auch einige sehr junge Männer, womöglich Rekruten.

      »Darf ich Ihnen den Weg zeigen?«

      Der kleine Kommissar freute sich natürlich, jemandem wie Maigret sein Haus zu zeigen. Er freute sich und war zugleich ein wenig aufgeregt. In einem großen Büro saßen zwei Inspektoren auf den Tischen und rauchten. Der eine hatte seine Dienstmütze in den Nacken geschoben, wie in einem amerikanischen Film.

      Mansuy grüßte abwesend, öffnete die Tür zu seinem Büro und drehte sich noch einmal um.

      »Irgendwelche Neuigkeiten?«

      »Wir haben Polyte für Sie festgehalten, und der Unterpräfekt hat um Rückruf gebeten …«

      Das Wetter war herrlich. Seit Maigret in Les Sables war, hatte es nicht ein Mal geregnet. Die Fenster waren weit geöffnet, die Geräusche der Stadt drangen herein, und man sah die Familien vom Strand zurückkehren.

      Man führte Polyte in Handschellen vor, damit es seriöser wirkte. Einer jener armen Kerle unbestimmten Alters, von denen es in jedem Dorf einen gibt: zerlumpt, struppig, mit einfältigem und zugleich listigem Blick.

      »Hast du dir schon wieder die Hände schmutzig gemacht? Ich nehme an, diesmal wirst du nichts abstreiten?«

      Polyte rührte sich nicht, gab keine Antwort und hielt den servilen Blick auf Kommissar Mansuy gerichtet, der sich, eingeschüchtert durch die Gegenwart des berühmten Maigret, von seiner besten Seite zeigen wollte.

      »Ich kann also davon ausgehen, dass du es nicht abstreiten wirst?«

      Er musste seine Frage zweimal wiederholen, bevor der Landstreicher ihm ein Zeichen gab, ein Nicken.

      »Soll das bedeuten, du gestehst?«

      Ein Kopfschütteln.

      »Willst du etwa leugnen, dass du dich in den Garten von Madame Médard geschlichen hast?«

      Mein Gott, wie ihn das aufmunterte, wie viel wohler sich Maigret hier fühlte als bei den Ordensschwestern!

      Polyte schien daran gewöhnt zu sein. Er lebte in einem Bretterverschlag am Eingang der Stadt, mit einer Frau und sieben oder acht Kindern, eins verlauster als das andere.

      An jenem Morgen war er an einen Trödler herangetreten und hatte versucht, ihm zwei fast neue Bettlaken zu verkaufen, dazu Handtücher und Damenwäsche. Der Trödler war zum Schein darauf eingegangen und hatte den Polizisten gerufen, der an der nächsten Ecke Wache stand. Und Polyte war festgenommen worden, keine zweihundert Meter weiter. Unterdessen war Madame Médard, die Bestohlene, im Kommissariat erschienen.

      »Du hast dich nachts in ihren Garten geschlichen, wo ihre Wäsche noch zum Trocknen hing. Und du bist nicht zum ersten Mal über die Hecke geklettert … Erst letzte Woche hast du ihren Kaninchenstall aufgebrochen und die beiden dicksten Kaninchen gestohlen …«

      »Ich

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