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als warten. Er wartete, bis die halbe Stunde um war. Nach wenigen Minuten nahm Madame Maigret ihr Strickzeug zur Hand, um Haltung zu wahren. Da sie Mademoiselle Rinquets Anwesenheit Tag und Nacht ertragen musste, nahm sie auf sie Rücksicht. Wann immer sie etwas sagte, beeilte sie sich hinzuzufügen:

      »Nicht wahr, Mademoiselle Rinquet?«

      Dann zwinkerte sie Maigret zu, und er erriet, dass die Damen einander ihre Wehwehchen nicht zumuten mochten. Vor allem Madame Maigret scheute sich davor, umso mehr, als sie nebeneinander ans Bett gefesselt waren.

      »Ich habe meiner Schwester eine Karte geschrieben. Sei so gut und bring sie zur Post.«

      Er hatte die Ansichtskarte, auf der die Klinik mit ihrer hübschen weißen Fassade und dem grünen Tor zu sehen war, in die linke Tasche seines Jacketts gesteckt.

      Ein belangloses Detail. Linke Tasche? Rechte Tasche? Diese Frage sollte ihm am selben Abend um elf Uhr noch zu schaffen machen.

      Seit vielen Jahren, seit jeher sozusagen, hatte jede seiner Taschen eine eigene Bestimmung. In die linke Hosentasche gehörten der Tabakbeutel und das Taschentuch – sodass es immer voller Tabakkrümel war. In die rechte die beiden Pfeifen und das Kleingeld. Hinten links, vollgestopft mit unnützen Papieren, die Brieftasche, die eine Gesäßhälfte dicker erscheinen ließ.

      Schlüssel trug er nie bei sich. Und wenn doch, verlor er sie. In die Taschen seines Jacketts steckte er kaum etwas, vielleicht eine Streichholzschachtel in die rechte. So hatte er Platz für Zeitungen oder Briefe, die er in die linke Tasche schob.

      Hatte er das auch an diesem Tag getan? Vermutlich. Er hatte am Milchglasfenster gesessen. Schwester Marie des Anges war zwei- oder dreimal hereingekommen und hatte verstohlen, jedoch mit Nachdruck in seine Richtung geblickt. Sie war sehr jung, ihr Gesicht glatt und rosig.

      Ein Dummkopf hätte vielleicht behauptet, sie sei in ihn verliebt, denn sie hatte es immer sehr eilig, ihn an der Treppe abzuholen, und verhielt sich ungeschickt, wenn er im Zimmer war.

      Er wusste es besser, im Grunde rührte ihr Verhalten von einer kindlichen Naivität und Unbedarftheit.

      Allein ihr Einfall, ihn Monsieur 6 zu nennen, um ihn vor der Neugier der Leute zu schützen, die ihm zuwider war. Er mochte es nicht, wenn man mit seinem Namen hausieren ging. Er hatte schließlich Ferien.

      Aber womöglich gefielen ihm die Ferien in Wahrheit überhaupt nicht. Das ganze Jahr hatte er geklagt, sich nach ein paar ruhigen Tagen gesehnt, nach leeren Stunden, die sich endlos aneinanderreihten und über die er frei verfügen konnte, Tage ohne Verpflichtungen, ohne Termine. In Paris, in seinem Büro am Quai des Orfèvres war ihm das wie ein unvorstellbares Glück vorgekommen.

      Fehlte ihm nun etwa Madame Maigret?

      Nein. Er kannte sich. Er grummelte. Er grollte. Und wusste doch, dass es ihm mit diesem Urlaub nicht anders ergehen würde als mit allen anderen. In sechs Monaten, in einem Jahr würde er denken:

      »Du lieber Himmel, wie gut ging es mir doch in Les Sables …«

      Diese Klinik, in der er sich so unbehaglich fühlte, würde ihm wie ein zauberhafter Ort vorkommen, und mit Rührung würde er an das unschuldige, leicht errötende Gesicht von Schwester Marie des Anges zurückdenken.

      Er zog niemals seine Uhr hervor, bevor die Glocke der kleinen Kapelle nicht halb vier geschlagen hatte. Er gab sogar vor, er hätte sie nicht gehört. Ob Madame Maigret sich tatsächlich täuschen ließ? Denn immer war sie es, die sagte:

      »Es ist Zeit, Maigret …«

      »Ich rufe dich morgen früh an«, erklärte er, während er sich erhob. Als wäre das eine große Neuigkeit.

      Er rief jeden Morgen an. Im Zimmer gab es kein Telefon, aber Schwester Aurélie am Empfang antwortete stets:

      »Unsere liebe Patientin hatte eine ausgezeichnete Nacht.«

      Bisweilen fügte sie hinzu:

      »Der Herr Pfarrer wird ihr gleich Gesellschaft leisten.«

      Seine Tage verliefen geregelter als die eines Häftlings im Zuchthaus von Fresnes. Er verabscheute Verpflichtungen. Allein der Gedanke, sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort einfinden zu müssen, brachte ihn in Rage. Nun hatte er sich selbst einen Zeitplan erstellt und folgte ihm gewissenhafter als die Eisenbahn.

      In welchem Augenblick mochte wohl der Zettel in seine linke Jackentasche gesteckt worden sein?

      Er war kariert, wahrscheinlich aus einem Notizbuch gerissen. Die Wörter darauf waren mit Bleistift geschrieben, in einer gleichmäßigen und, wie ihm schien, weiblichen Handschrift.

      Suchen Sie aus Barmherzigkeit die Patientin in Zimmer 15 auf.

      Die Unterschrift fehlte. Nur diese Worte. Er hatte die Ansichtskarte seiner Frau in die linke Tasche gesteckt. War der Zettel schon dort gewesen? Möglich. Er hatte seine Hand vielleicht nicht sehr tief in die Tasche geschoben.

      Aber als er die Karte schließlich in den Briefkasten an der Markthalle geworfen hatte?

      Vor allem irritierten ihn zwei Wörter: aus Barmherzigkeit.

      Warum aus Barmherzigkeit? Wer ihn sprechen wollte, konnte es einfach tun. Er war doch nicht der Papst.

      Aus Barmherzigkeit … Das passte zu der süßlichen Atmosphäre, die ihn jeden Nachmittag einhüllte, zu dem wie mit einem Radiergummi verwischten Lächeln der Schwestern und den scheuen Seitenblicken von Schwester Marie des Anges.

      Nein! Er zuckte mit den Schultern. Die Vorstellung, Schwester Marie des Anges könnte ihm einen Zettel in die Tasche gesteckt haben, lag im fern. Eher noch Schwester Aldegonde, die immer genau dann im Flur vor dem großen Saal etwas zu schaffen hatte, wenn er vorüberging. Schwester Aurélie hingegen saß immer hinter ihrer Scheibe am Empfang.

      Obwohl … Ihm fiel ein, dass sie, als er hinausgehen wollte, vor ihrem Büro gestanden und ihn bis zur Tür begleitet hatte.

      Und da er schon einmal dabei war – warum nicht die alte Mademoiselle Rinquet? Er hatte ihr Bett gestreift. Oder Doktor Bertrand? Ihm war er auf der Treppe begegnet …

      Er wollte nicht darüber nachdenken. Im Übrigen war es sinnlos. Er hatte den Zettel abends um halb elf gefunden. Kaum war er im Hôtel Bel Air auf seinem Zimmer angelangt, hatte er wie immer, bevor er sich auszog, seine Taschen geleert und den Inhalt auf die Kommode gelegt.

      Wie an den Tagen zuvor hatte er viel getrunken. Das war weder seine Schuld noch seine Absicht gewesen. Die Tage in Les Sables hatten ihm diesen Rhythmus vorgegeben.

      So musste er zum Beispiel schon morgens um neun, kaum dass er die Treppe heruntergekommen war, ein Glas trinken.

      Um acht brachte ihm Julie, das kleinere der beiden Zimmermädchen mit den dunkleren Haaren, den Kaffee ans Bett. Warum stellte er sich schlafend, wo er doch schon seit sechs Uhr wach war?

      Auch so eine Angewohnheit. Urlaub bedeutete auszuschlafen. Dreihundertzwanzig Tage im Jahr und öfter stand er im Morgengrauen auf, und jedes Mal schwor er sich:

      »Wenn ich erst in den Ferien bin, werde ich mich richtig ausschlafen!«

      Sein Zimmer lag zum Meer hin. Es war August. Er schlief bei offenem Fenster. Die Vorhänge aus altem rotem Rips ließen sich nicht zuziehen, und so sorgten sowohl das Sonnenlicht als auch das Rauschen der Brandung am Sandstrand dafür, ihn zu wecken.

      Gleich darauf übernahm die Dame aus Nummer 3. Sie hatte gemeinsam mit ihren vier Kindern im Alter zwischen sechs Monaten und acht Jahren das Zimmer zu seiner Linken bezogen.

      Eine Stunde lang Gebrüll, Gezeter, ein Hin und Her. Maigret sah deutlich vor sich, wie sich die Dame mit ihrer nörgelnden Brut herumschlug: halb angekleidet, barfuß in Latschen, mit offenen Haaren. Den einen steckte sie in die Ecke, den anderen ins Bett, der Älteste fing sich eine Ohrfeige und weinte, den Schuh der Kleinen konnte sie nirgendwo finden und verzweifelte schließlich daran, den Kocher in Gang zu bringen, um das Fläschchen für das Jüngste aufzuwärmen. Der Spiritusgeruch drang unter der

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