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Ellenbogenfreiheit. Daniel C. Dennett
Читать онлайн.Название Ellenbogenfreiheit
Год выпуска 0
isbn 9783863935276
Автор произведения Daniel C. Dennett
Жанр Документальная литература
Серия eva taschenbuch
Издательство Bookwire
Hier möchte ich auf eine gefährliche Eigenart philosophischer Praxis hinweisen, die in diesem Buch eine besondere Untersuchung erfährt: die absichtliche Übervereinfachung von Aufgaben, die von dem Vorstellungsvermögen der Philosophen ausgeführt werden soll. Eine verbreitete Strategie in der Philosophie ist es, eine bestimmte Art von Gedankenexperimenten zu bilden, die ich eine Intuitionenpumpe nenne (Dennett 1980 und Hofstadter und Dennett 1981). Solche Gedankenexperimente (im Gegensatz zu denjenigen Galileis oder Einsteins zum Beispiel) sind nicht dazu gedacht, strenge Argumente, die Konklusionen aus Prämissen beweisen, zu illustrieren. Eher sollen eine Reihe von phantasiereichen Reflexionen im Leser hervorgerufen werden, die letztlich keine formale Konklusion erreichen, sondern ein Gebot der „Intuition“. Intuitionenpumpen sind schlauerweise so aufgebaut, daß sie die Aufmerksamkeit des Lesers auf „die wichtigen“ Merkmale konzentrieren und den Leser davon abhalten, in den schwer zu verfolgenden Details steckenzubleiben. Daran ist im Prinzip nichts falsch. Eine der höchsten Berufungen der Philosophie ist es in der Tat, Wege zu finden, um Menschen zu helfen, den Wald zu sehen und nicht bloß die Bäume. Aber Intuitionenpumpen werden oft mißbraucht, wenn auch selten absichtlich.
Der häufigste Mißbrauch ist vielleicht, daß man ein Ergebnis ableitet – ein tiefgefühltes intuitives Urteil – aus der besonderen Einfachheit des vorgestellten Falles und gerade nicht aus dem wirklichen Gehalt des Beispiels, das so einfach und klar dargelegt wurde. Könnte es nicht so sein, daß das Schicksal der Wespe nicht deswegen zu furchtbar ist, weil ihre Handlungen und „Entscheidungen“ verursacht werden, sondern weil sie so einfach verursacht werden? Wenn es so ist, dann kann der anerkannte Unterschied zwischen dem Gegenstand unserer Intuitionenpumpe und uns – unserer Komplexität – verhindern, daß wir die Schrecklichkeit, die wir in dem einfachen Fall sehen, erben. Vielleicht sollten wir lachen, nicht erschaudern; vielleicht ist diese Intuitionenpumpe genauso wie die Alptraumschlange, die ihren Schwanz verschlingt und das so lange macht, bis sie sich vollständig selbst aufgefressen hat.
Aber das wird nur eine detaillierte Untersuchung ergeben. Sind wir sphexhaft? Sind wir in wichtiger Hinsicht sphexhaft? Wir kennen sicher einige Menschen, die es sind: Hochgradig Geisteskranke, Zurückgebliebene, Hirngeschädigte. (Zum Beispiel beschreibt Whitaker (1976) eine hirngeschädigte Frau, die überhaupt keine Sprache mehr verstehen konnte, die aber alles genau nachäffte, was zu ihr gesagt wurde – bis auf die grammatikalischen Fehler, die sie immer korrigierte!) Viele erschütternde Experimente von Psychologen scheinen etwas über die Dimension unserer Sphexhaftigkeit zu enthüllen: Milgrims klassische Horrorgeschichte über die gehorsamen Folterer (Milgrim 1974), Experimente über menschliche Irrationalität von Kahneman, Tversky und vielen anderen (Kahneman, Slovic und Tversky 1982)5, und natürlich die berühmten, wenn auch nicht offiziell anerkannten Anekdoten über Studenten, die Skinners wirksame Konditionierungstechnik anwandten, um ihre Psychologieprofessoren dazu zu bringen, sich während der Vorlesung am Ohr zu kratzen (Brewer 1974). Das wahrscheinliche Ausmaß unserer Sphexhaftigkeit wird ein zentrales Thema des zweiten Kapitels sein.
Das verschwindende Selbst: Ein anderes Merkmal, das in der Geschichte von der Wespe im Hintergrund lauert, ist jenes schauerliche Gefühl, das man oft bekommt, wenn man Insekten und andere niedere Tiere beobachtet oder etwas über sie erfährt: Diese ganze geschäftige Aktivität, aber es ist niemand zu Hause! Wir betrachten eine Welt, die scheinbar klug konstruiert, dann aber von ihrem Konstrukteur verlassen worden ist. Die Ameisen und Bienen und sogar die Fische und Vögel sie „bewegen sich nur wie Räder im Getriebe“. Sie verstehen nicht oder schätzen nicht richtig ein, was sie eigentlich machen, und auch in ihrer Nachbarschaft ist kein verstehendes Selbst zu finden. Das ist die Angst vor dem unglaublichen verschwindenden Selbst.
Wiederum scheinen wir klare Fälle zu kennen, die zwischen Insekten, Fischen und uns selbst liegen. Geisteskranke und Hirngeschädigte zum Beispiel werden offenbar mitunter ganz zutreffend so beschrieben, daß sie kein Selbst haben, daß sie lebendig und beseelt sind, aber keine Seele besitzen. Wenn wir unsere mentalen Aktivitäten von „zu nahe“ betrachten, tritt oft dasselbe Phänomen des Verschwindens ein. Wie Mozart einmal von seinen musikalischen Einfällen sagte: „Woher und wie kommen sie? Ich weiß es nicht, und ich habe nichts damit zu tun.“6 (Hervorhebung hinzugefügt). Wenn der Determinismus wahr ist, so scheint es, dann gibt es für unser Selbst keine Ellenbogenfreiheit und keine Arbeit, die es tun kann. Können wir unser Selbst finden, oder ist die Wissenschaft auf der Schwelle zu zeigen, daß es (wir?) eine Illusion ist (sind) – so wie die Illusion, daß die Wespe ein Selbst ist (oder hat)?
Die Wissenschaft führt uns ins Innere der Dinge, und es ist nicht wahrscheinlich, daß die detaillierte, innere Ansicht unserer Gehirne, die uns die Wissenschaft liefert, irgendeine wiedererkennbare Version dessen enthüllt, was Descartes die res cogitans oder das denkende Ding nannte, das wir „aus Introspektion“ so gut kennen. Wenn wir aber den Blick auf unser Selbst verlieren, sobald wir an wissenschaftlicher Objektivität gewinnen, was wird dann mit Liebe und Dankbarkeit (und Haß und Groll) geschehen?
„Was soll ich aber tun, wenn ich nicht einmal Bosheit habe? Infolge dieser verwünschten Gesetze der Erkenntnis unterwirft sich nämlich auch meine Bosheit der chemischen Zersetzung. Man sieht: das Ding hebt sich auf, die Vernunftgründe verdunsten, der Schuldige ist nicht zu finden, die Beleidigung bleibt nicht Beleidigung, sondern wird zum Fatum, zu einer Art Zahnschmerz, an dem niemand schuld ist, …“ (Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Untergrund, Darmstadt 1974, S. 448).
Das schreckliche Geheimnis: Die Wissenschaft scheint oft nahe daran zu sein, uns zu viel zu sagen, Pandoras Büchse zu öffnen und das eine oder andere schreckliche Geheimnis zu offenbaren; sobald wir es hören, lähmt es uns. Es lähmt uns, indem es eine Illusion zerschlägt, die für unser Weiterleben als Handelnde absolut notwendig ist. Unsere eigene Rationalität wird uns zugrunderichten, weil, haben wir erst einmal die Wahrheit gesehen, wir unfähig sein werden, uns selbst länger zu betrügen. Es ist leicht einzusehen, wie das schreckliche Geheimnis selbst vermutlich die Lähmung schafft, denn es geschieht wieder einmal in Analogie zu etwas, das oft passiert und das in der Tat lähmend und oft erschütternd sein kann. Angenommen etwa, wir verbringen den Tag in Oxford damit, über die entsprechenden Vorzüge der Restaurants in London zu debattieren und versuchen dann zu entscheiden, welches wir am Abend ausprobieren wollen. Dann erfahren wir, daß die Züge nicht fahren oder daß alle Restaurants an diesem Tag geschlossen sind oder daß wir in dem Raum in Oxford eingeschlossen sind oder daß es einfach zu spät ist, um nach London zu kommen. Wir haben gerade erfahren, daß dieses besondere Bemühen um Entscheidungsfindung äußerst zwecklos war. Es gab keine wirkliche Gelegenheit für uns zum Handeln; es gab keine wirklichen Alternativen, zwischen denen man entscheiden konnte. Wenn also die Wissenschaft uns zeigen könnte, daß es niemals wirklich irgendwelche Gelegenheiten gibt, würde uns das nicht – sollte uns das nicht – dazu bringen, Entscheidungen ganz und gar aufzugeben?
Wie Tolstoi in der letzten Zeile von „Krieg und Frieden“ schreibt, „(Es ist) unumgänglich, sich von der ebenso vom Bewußtsein empfundenen Freiheit loszusagen und die von uns nicht wahrgenommene Abhängigkeit zu erkennen.“ Aber das wäre schrecklich, so scheint es, denn würde es nicht zu wahrhaft schlimmer und selbstzerstörerischer Resignation und Apathie führen? Denken wir zum Beispiel an die widerliche Resignation derjenigen, die den Nuklearkrieg als vollkommen unausweichlich betrachten und es folglich als nicht der Mühe wert erachten, daß man versucht, ihn zu verhindern. Sollten wir nicht die Verbreitung jeder Behauptung beklagen (selbst wenn sie wahr wäre – vielleicht besonders dann, wenn sie wahr ist), die diese Art von Einstellung bestärkt?
Was soll das schreckliche Geheimnis sein? Vielleicht ist es die Tatsache des Determinismus. (Oder die Tatsache des Indeterminismus!) Auf jeden Fall sollten wir es schleunigst an die Öffentlichkeit bringen, denn es impliziert, daß Freiheit eine Illusion ist. Zu