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target="_blank" rel="nofollow" href="#ulink_137940d0-7a21-5324-9d47-f65056bdb6b5">1Zum gemeinsamen Weg von Marx und Engels vgl. vor allem Kern 2017 b.

      BRANNTWEIN UND MYSTIZISMUS

       Briefe aus dem Wuppertal

       1839

      »Ha, ha, ha! Weißt du, wer den Aufsatz im Telegraphen gemacht hat? Schreiber dieses [Briefs] ist der Verfasser, aber ich rate dir, nichts davon zu sagen, ich käm in höllische Schwulitäten.« (MEW 41, 371) So schreibt der achtzehnjährige Engels voll innerer Genugtuung an seinen Freund Friedrich Graeber. Abgesehen von einigen Gedichten und Reiseberichten sind die Briefe aus dem Wuppertal, die Engels unter dem Pseudonym Friedrich Oswald als Artikelserie im Telegraph für Deutschland veröffentlicht, der erste wirklich bedeutsame Text aus seiner Feder. Es ist eine brillant formulierte, schonungslose Sozialreportage über die Verhältnisse in seiner Heimat. Der Fabrikantensohn hält sich zu dieser Zeit im fernen Bremen auf, um nach dem Willen des Vaters den Kaufmannsberuf zu erlernen, und aus dieser sicheren Distanz sowie im Schutz des gewählten Pseudonyms rechnet er gründlich ab mit dem Milieu, aus dem er stammt und das ihn geprägt hat.

      Fast 200 Fabriken zählten die Städte, die sich entlang der Wupper hinzogen. Mit dem Aufschwung der Textilindustrie war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein rasanter Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen. Färber, Spinner, Weber, Flachsbleicher, Bandweber und Bortenmacher waren die vorherrschenden Tätigkeiten in Barmen und Elberfeld, mit denen sich die Masse der Bevölkerung ihr karges Brot verdiente. Bald schon hatte die heimische Textilindustrie – immer noch stark von Heimarbeit geprägt – Mühe, mit der viel stärker industrialisierten Konkurrenz in England mitzuhalten, was zu zunehmender Verarmung führte. Engels zeichnet hier drastisch und in bestechender Authentizität den körperlichen Verfall und den moralischen Niedergang der Arbeiter. Sein soziales Empfinden und seine scharfen Beobachtungen der Zustände dringen damals noch nicht zu einer Analyse der ökonomischen Mechanismen vor, wie er sie wenige Jahre später leisten wird. Und das Ganze dient erkennbar vor allem der Abrechnung mit der eigenen familiären Herkunft, von der er sich unter erheblichen Anstrengungen zu emanzipieren versucht.

      Literarisch ist Engels zunächst ganz vom Geist der Romantik und deren Idee des deutschen Volkstums geprägt, wie sie etwa Fichte, Herder oder die Gebrüder Grimm vertraten. Davon distanziert er sich in den Briefen aus dem Wuppertal bereits ausdrücklich. Engels fühlt sich einer literarischen Bewegung verbunden, die sich »Junges Deutschland« nennt und eher radikalliberale Ideen im Sinne Ludwig Börnes vertritt. Der von Karl Gutzkow herausgegebene Telegraph für Deutschland ist wichtigstes Organ dieses Zusammenschlusses. Unter dem äußeren Gewand von gefälligharmlos scheinenden Reiseberichten und Literaturkritik verbirgt sich gesellschaftspolitischer Sprengstoff. Engels’ Artikelserie ist ein hervorragendes Beispiel der Intention dieses Organs.

      Eine Hauptzielscheibe von Engels’ Kritik ist die pietistische Bigotterie, die in schier unerträglichem Kontrast zu den sozialen Zuständen steht und das Wuppertal beherrscht. Die ganz auf Innerlichkeit und intime Gottesbeziehung ausgerichtete Frömmigkeitsform ist hier allerdings gepaart mit einer kalvinistischen Ethik, die den unternehmerischen Erfolg als Zeichen der Auserwählung interpretiert und damit die sozialen Verhältnisse religiös bemäntelt. Das sollte Max Weber später in seiner berühmten Schrift Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus (Weber 2017) treffend beschreiben. Die aggressive Frömmelei bildet die ideale Ergänzung zur grausamen sozialen Realität. Engels selbst wird sich nur unter großen Mühen von seiner eigenen religiösen Prägung befreien. Von seiner späteren radikalen Religionskritik ist er noch weit entfernt. Deren Motive aber sind hier in Ansätzen bereits erkennbar.

      … Der schmale Fluss ergießt bald rasch, bald stockend seine purpurnen Wogen zwischen rauchigen Fabrikgebäuden und garnbedeckten Bleichen hindurch; aber seine hochrote Farbe rührt nicht von einer blutigen Schlacht her, denn hier streiten nur theologische Federn und wortreiche alte Weiber gewöhnlich um des Kaisers Bart; auch nicht von Scham über das Treiben der Menschen, obwohl dazu wahrlich Grund genug vorhanden ist, sondern einzig und allein von den vielen Türkischrot-Färbereien. Kommt man von Düsseldorf her, so tritt man bei Sonnborn in das heilige Gebiet; die Wupper kriecht träg und verschlammt vorbei und spannt durch ihre jämmerliche Erscheinung, dem eben verlassenen Rheine gegenüber, die Erwartung bedeutend herab. Die Gegend ist ziemlich anmutig; die nicht sehr hohen, bald sanft steigenden, bald schroffen Berge, über und über waldig, treten keck in die grünen Wiesen hinein, und bei schönem Wetter lässt der blaue, in der Wupper sich spiegelnde Himmel ihre rote Farbe ganz verschwinden. […]

      Das ist die äußere Erscheinung des Tals, die im Allgemeinen, mit Ausnahme der trübseligen Straßen Elberfelds, einen sehr freundlichen Eindruck macht; dass dieser aber für die Bewohner verlorengegangen ist, zeigt die Erfahrung. Ein frisches tüchtiges Volksleben, wie es fast überall in Deutschland existiert, ist hier gar nicht zu spüren; auf den ersten Anblick scheint es freilich anders, denn man hört jeden Abend die lustigen Gesellen durch die Straßen ziehen und ihre Lieder singen, aber es sind die gemeinsten Zotenlieder, die je über branntweinentflammte Lippen gekommen sind; nie hört man eins jener Volkslieder, die sonst in ganz Deutschland bekannt sind und auf die wir wohl stolz sein dürfen. Alle Kneipen sind, besonders Sonnabend und Sonntag, überfüllt, und abends um elf Uhr, wenn sie geschlossen werden, entströmen ihnen die Betrunkenen und schlafen ihren Rausch meistens im Chausseegraben aus. Die gemeinsten unter diesen sind die sogenannten Karrenbinder, ein gänzlich demoralisiertes Volk, ohne Obdach und sichern Erwerb, die mit Tagesanbruch aus ihren Schlupfwinkeln, Heuböden, Ställen etc. hervorkriechen, wenn sie nicht auf Düngerhaufen oder den Treppen der Häuser die Nacht überstanden hatten. Durch Beschränkung ihrer früher unbestimmten Zahl ist diesem Wesen von der Obrigkeit jetzt einigermaßen ein Ziel gesetzt worden. […]

      Die Gründe dieses Treibens liegen auf der Hand. Zuvörderst trägt das Fabrikarbeiten sehr viel dazu bei. Das Arbeiten in den niedrigen Räumen, wo die Leute mehr Kohlendampf und Staub einatmen als Sauerstoff, und das meistens schon von ihrem sechsten Jahre an, ist grade dazu gemacht, ihnen alle Kraft und Lebenslust zu rauben. Die Weber, die einzelne Stühle in ihren Häusern haben, sitzen vom Morgen bis in die Nacht gebückt dabei und lassen sich vom heißen Ofen das Rückenmark ausdörren. Was von diesen Leuten dem Mystizismus nicht in die Hände gerät, verfällt ins Branntweintrinken. Dieser Mystizismus muss in der frechen und widerwärtigen Gestalt, wie er dort herrscht, notwendig das entgegengesetzte Extrem hervorrufen, und daher kommt es hauptsächlich, dass das Volk dort nur aus »Feinen« (so heißen die Mystiker) und liederlichem Gesindel besteht. Schon diese Spaltung in zwei feindselige Parteien wäre, abgesehn von der Beschaffenheit derselben, allein imstande, die Entwicklung alles Volksgeistes zu zerstören, und was ist da zu hoffen, wo auch das Verschwinden der einen Partei nichts helfen würde, weil beide gleich schwindsüchtig sind? Die wenigen kräftigen Gestalten, die man dort sieht, sind fast nur Schreiner oder andre Handwerker, die alle aus fremden Gegenden her sind; unter den eingebornen Gerbern sieht man auch kräftige Leute, aber drei Jahre ihres Lebens reichen hin, sie körperlich und geistig zu vernichten; von fünf Menschen sterben drei an der Schwindsucht, und alles das kommt vom Branntweintrinken. Dies aber hätte wahrlich nicht auf eine so furchtbare Weise überhandgenommen, wenn nicht der Betrieb der Fabriken auf eine so unsinnige Weise von den Inhabern gehandhabt würde und wenn der Mystizismus nicht in der Art bestände, wie er besteht und wie er immer mehr um sich zu greifen droht. Aber es herrscht ein schreckliches Elend unter den niedern Klassen, besonders den Fabrikarbeitern im Wuppertal; syphilitische und Brustkrankheiten herrschen in einer Ausdehnung, die kaum zu glauben ist; in Elberfeld allein werden von 2500 schulpflichtigen Kindern 1200 dem Unterricht entzogen und wachsen in den Fabriken auf, bloß damit der Fabrikherr nicht einem Erwachsenen, dessen Stelle sie vertreten, das Doppelte des Lohnes zu geben nötig hat, das er einem Kinde gibt. Die reichen Fabrikanten aber haben ein weites Gewissen, und ein Kind mehr oder weniger verkommen zu lassen bringt keine Pietistenseele in die Hölle, besonders wenn sie alle Sonntage zweimal in die Kirche geht. Denn das ist ausgemacht, dass unter den Fabrikanten die Pietisten am schlechtesten mit ihren Arbeitern umgehen, ihnen den Lohn auf alle mögliche Weise verringern, unter dem Vorwande, ihnen Gelegenheit zum Trinken zu nehmen […].

      In

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