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Versammlungsfreiheit, Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren, auch Religionsfreiheit – alle diese und andere Grundrechte sind alles andere als selbstverständlich. Die Deutschen können sich glücklich schätzen – und sollten die Grundrechte schützen. Auch Artikel 102: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“. Auch das ist keine Selbstverständlichkeit

      Als das Hinrichten in Deutschland abgeschafft wurde, da dachten die allermeisten Deutschen noch anders. Laut einer 1949 von den Stuttgarter Nachrichten veröffentlichten Umfrage des Allensbach-Instituts befürworteten damals 74 Prozent der westdeutschen Bevölkerung die Todesstrafe. Viele fanden die Todesstrafe nicht per se schlecht, meinten aber, die Nazis hätten es damit in den zurückliegenden Jahren doch allzu arg getrieben.

      Ein irritierendes Ergebnis, nur wenig Jahre, nachdem das „Tausendjährige Reich“ unter Schutt, Schuld und Scham ein Ende gefunden hatte. Hatten die Nazis nicht genug barbarische Urteile gesprochen, immer öfter und immer schneller gegen Kriegsende, auch für immer geringere Vergehen? Hingerichtet wurde per Handbeil, Guillotine, Strang. Mehr als 16 000 Hinrichtungen insgesamt, ausgeführt von einem Dutzend ehrgeiziger Nazi-Henker, die gut dotiert ihr blutiges Handwerk bis zum bitteren Ende ausführten, so allein in der Hinrichtungsstätte Berlin-Plötzensee 2891 Exekutionen zwischen 1933 und 1945. Der Nazi-Staat mordete nicht nur an der Front. Der Volksgerichtshof und Sondergerichte fällten Todesurteile, Scharfrichter und ihre Helfer vollstreckten – bis zum bitteren Ende.

      Doch auch nach der „Stunde Null“ wurde in Deutschland noch hingerichtet. Allein zwischen Kriegsende und der Gründung der Bundesrepublik wurden über 1000 Todesurteile verhängt, davon 128 in Gerichtssälen der Westzonen, wovon 24 dieser Urteile auch vollstreckt wurden. Die übrigen Todesurteile wurden von alliierten Gerichten gegen Kriegs- und NS-Verbrecher verhängt. So in den „Dachauer Prozessen“, die zwischen 1945 und 1948 im Internierungslager Dachau stattfanden, wo sich bis Ende April 1945 das KZ Dachau befand. 1672 Personen waren aufgrund des Verfahrensgegenstandes „Konzentrationslagerverbrechen“ angeklagt; 268 der insgesamt 426 verhängten Todesurteile wurden im Kriegsverbrechergefängnis im bayerischen Landsberg durch Hängen vollstreckt, einige vom vormaligen NS-Henker Johann Reichhardt, der nun für die amerikanischen Sieger Exekutionen durchführte. Von ihm wird in diesem Buch noch die Rede sein.

      Im September 1948 kamen im Bonner Museum Koenig die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates zusammen, um mit der Arbeit am Grundgesetz zu beginnen. Die Abschaffung der Todesstrafe wollten sie als sichtbares Zeichen im Sinne einer wiedergefundenen Humanität verstanden wissen. Freilich, nicht alle – vor allem konservativ-nationale Politiker – waren damit einverstanden. Das genaue Ergebnis ist nicht protokolliert. Historiker rekonstruierten aber später eine deutliche Mehrheit von 47 zu 15 Stimmen. Damit war die Todesstrafe abgeschafft. Das stand damals europaweit nur in den Verfassungen von San Marino und Island.

      Einmal noch wurde vollstreckt: am Morgen des 18. Februar 1949. Der Raubmörder Richard Schuh war vom Landgericht Tübingen zum Tode verurteilt worden. Und in der DDR, wo die Todesstrafe bis 1981 per Guillotine oder „Nahschuss“ 164 Mal vollstreckt worden war, wurde sie 1987 endgültig abgeschafft. Der letzte Todeskandidat, Werner Teske, war wegen „schwerwiegenden Landesverrats“ am 26. Juni 1981 durch „unerwarteten Nahschuss in das Hinterhaupt“ in Leipzig hingerichtet worden. Ob Ost oder West: Deutschland, einig Vaterland – die Todesstrafe ist abgeschafft.

      Heute kann ein Staat nur dann Mitglied der EU sein, wenn er dem staatlichen Hinrichten abgeschworen hat. Eine übergroße Mehrheit der Deutschen lehnt – anders als 1949 – heute die Todesstrafe ab. Ein Grundgesetz ohne Artikel 102 ist undenkbar geworden.

      Berlin, im April 2020: Jahr für Jahr gibt es eine sehr traurige Pressekonferenz in der deutschen Hauptstadt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International legt ihren Bericht über Todesurteile und Hinrichtungen vor: eine irritierende Bilanz der Inhumanität, ein Dokument des Schreckens. Immerhin: der aktuelle Bericht für das Jahr 2019 beginnt diesmal mit einem Hoffnungsschimmer. Die Zahl der offiziell vollstreckten Todesstrafen ist im vergangenen Jahr im Vorjahresvergleich deutlich zurückgegangen. Von (mindestens) 690 Hinrichtungen im Jahr 2018 sank die Zahl auf 657. Doch beim Weiterlesen trübt sich der helle Schein der Statistik sogleich wieder. Auch wenn es weniger registrierte Hinrichtungen gab: das wahre Ausmaß der weltweiten Anwendung bleibt unbekannt. Es ist davon auszugehen, dass die mit Abstand meisten Hinrichtungen in China stattfanden. Zahlen gibt es keine, da diese Informationen als Staatsgeheimnis behandelt werden. China unberücksichtigt, fanden 86 Prozent der weltweiten Hinrichtungen in nur vier Ländern statt: Iran, Saudi-Arabien, Irak und Ägypten. Zusammenfassend bilanziert der Bericht: Am Ende des Jahres 2019 hatten 106 Länder (die Mehrheit der Staaten weltweit) die Todesstrafe im Gesetz für alle Verbrechen abgeschafft und 142 Länder (mehr als zwei Drittel aller Staaten weltweit) sie per Gesetz oder in der Praxis nicht mehr vollstreckt. Eine erfreuliche Tatsache. Darf man sich Hoffnung machen? Im letzten Kapitel dieses Buches wird darauf noch einmal detailliert Bezug genommen.

      Um staatliches Töten – geschichtlich wie aktuell – geht es in diesem Buch. Es ist keine wissenschaftliche Studie, keine historisch stringente Abhandlung, keine politische Streitschrift. Gleichwohl will der Autor nicht verhehlen, dass er gegen die Todesstrafe ist: Sie ist barbarisch, anachronistisch – und wirkungslos. Unter den vielen Argumenten, die von Befürwortern der Todesstrafe vorgebracht werden, stehen Abschreckung und Schutz der Gesellschaft an oberster Stelle. Doch sind diese Gründe immer wieder angezweifelt worden. Das tatsächlich zentrale Motiv ist die Vergeltung, die Ansicht, „dass nur der Tod die Sühne für gewisse Verbrechen sein kann. Das Gefühl, dass mildere Strafen unzureichend sind. Die Überzeugung, dass, wer schwerste Verbrechen begeht, dafür die äußerste Strafe erleiden muss: den Tod“, wie Richard J. Evans konstatiert. In der Volkskultur – oder in Volkes Meinung – ist diese Einstellung zu allen Zeiten die vorherrschende.

      Dieses Buch beschreibt und dokumentiert verschiedene Aspekte der Todesstrafe. Vom römischen Carnifex bis zur Giftspritze in amerikanischen Todeszellen: Aberglaube, Gottesfurcht, Staatsmacht, Technikglaube, Humanitätsgedanke – die Geschichte der Todesstrafe ist immer auch eine Reformgeschichte. Einst eine öffentlich-sakrale Inszenierung – eine Versöhnung zwischen dem Sterbenden und seiner Seele und Gott –, ist es heute ein kollektives Vergeltungs- und Selbstreinigungsritual, das sich allenfalls über die Medien mitteilt.

      Keine Frage: Die Technologie des 21. Jahrhunderts hat das Töten effizienter und hygienischer gemacht. Meist ein nüchterner Raum, darin ein schlichter OP-Tisch, so sieht die Hinrichtungskammer von heute in amerikanischen Hinrichtungsgefängnissen aus. Die Hände derjenigen, die den Schalter umlegen, damit das tödliche Gift in die Venen fließt, bleiben sauber. Die biblische Losung „Auge um Auge, Zahn und Zahn“ wird in die Tat umgesetzt, nicht wie in primitiven Stammeskulturen schmerzvoll, stinkend und laut, sondern durch eine Distanz-Technologie: anonym, steril, lautlos. „Das Problem scheint nicht mehr die Todesstrafe an sich zu sein, sondern sie möglichst ‚human‘ zu gestalten“, schreibt die US-Autorin Barbara Rose.

      In den USA ist die Todesstrafe – so zynisch das klingen mag – Teil des politischen Arsenals, mit dem die Glaubenskriege ausgetragen werden. Das Recht des Staates, ein schweres Verbrechen mit der Hinrichtung des Täters zu sühnen – hier scheidet sich das liberale vom konservativen Amerika.

      Mehr als 2500 Menschen warten in den Todeszellen der US-Bundesstaaten auf ihre Hinrichtung, in den nationalen Todestrakten zusätzlich 61 Verurteilte (2019). Präsident Obama hatte den Vollzug der Todesstrafe auf Bundesebene 2014 ausgesetzt. Bereits zuvor waren Hinrichtungen durch die Bundesregierung selten gewesen: seit der Wiedereinführung der nationalen Todesstrafe 1988 wurden drei zum Tode Verurteilte hingerichtet. Der bekannteste war der rechtsextreme Terrorist Timothy McVeigh, der 1995 bei einem Bombenanschlag in Oklahoma 168 Menschen tötete. Letztmals vollstreckt wurde die Todesstrafe auf Bundesebene 2003. Damals wurde ein Veteran der US-Armee wegen Mordes an einer Soldatin hingerichtet.

      Obamas Moratorium ging zurück auf mehrere missglückte Hinrichtungen, bei denen die Verurteilten erst nach qualvollem Todeskampf starben. Der damalige Justizminister Holder forderte deshalb auch, die Strafvollzugsbehörden sollten Exekutionen nicht länger mit einer Mischung aus drei verschiedenen Giftstoffen durchführen, sondern mit einer Injektion des Präparats Pentobarbital durchführen.

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