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Briefe aus der Schweiz. Johann Wolfgang von Goethe
Читать онлайн.Название Briefe aus der Schweiz
Год выпуска 0
isbn 9783955017934
Автор произведения Johann Wolfgang von Goethe
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der Wasserfall der Reuß
Es ist was Schönes und Erbauliches um die Sinnbilder und Sittensprüche, die man hier auf den Öfen antrifft. Hier hast du die Zeichnung von einem solchen Lehrbild, das mich besonders ansprach. Ein Pferd, mit dem Hinterfuße an einen Pfahl gebunden, grast umher, so weit es ihm der Strick zuläßt; unten steht geschrieben: »Laß mich mein bescheiden Teil Speise dahinnehmen.« So wird es ja wohl auch bald mit mir werden, wenn ich nach Hause komme und nach eurem Willen, wie das Pferd in der Mühle, meine Pflicht tue und dafür, wie das Pferd hier am Ofen, einen wohl abgemessenen Unterhalt empfahe. Ja, ich komme zurück, und was mich erwartet, war wohl der Mühe wert, diese Berghöhen zu erklettern, diese Täler zu durchirren und diesen blauen Himmel zu sehen, zu sehen, daß es eine Natur gibt, die durch eine ewige, stumme Notwendigkeit besteht, die unbedürftig, gefühllos und göttlich ist, indes wir in Flecken und Städten unser kümmerliches Bedürfnis zu sichern haben und nebenher alles einer verworrenen Willkür unterwerfen, die wir Freiheit nennen.
Ja, ich habe die Furka, den Gotthard bestiegen! Diese erhabenen, unvergleichlichen Naturszenen werden immer vor meinem Geiste stehen; ja, ich habe die römische Geschichte gelesen, um bei der Vergleichung recht lebhaft zu fühlen, was für ein armseliger Schlucker ich bin.
Es ist mir nie so deutlich geworden wie die letzten Tage, daß ich in der Beschränkung glücklich sein könnte, so gut glücklich sein könnte wie jeder andere, wenn ich nur ein Geschäft wüßte, ein rühriges, das aber keine Folge auf den Morgen hätte, das Fleiß und Bestimmtheit im Augenblick erforderte, ohne Vorsicht und Rücksicht zu verlangen. Jeder Handwerker scheint mir der glücklichste Mensch; was er zu tun hat, ist ausgesprochen; was er leisten kann, ist entschieden; er besinnt sich nicht bei dem, was man von ihm fordert; er arbeitet, ohne zu denken, ohne Anstrengung und Hast, aber mit Applikation und Liebe, wie der Vogel sein Nest, wie die Biene ihre Zellen herstellt; er ist nur eine Stufe über dem Tier und ist ein ganzer Mensch. Wie beneid ich den Töpfer an seiner Scheibe, den Tischer hinter seiner Hobelbank!
Der Ackerbau gefällt mir nicht, diese erste und notwendige Beschäftigung der Menschen ist mir zuwider; man äfft die Natur nach, die ihre Samen überall ausstreut, und will nun auf diesem besondern Feld diese besondre Frucht hervorbringen. Das geht nun nicht so; das Unkraut wächst mächtig, Kälte und Nässe schadet der Saat, und Hagelwetter zerstört sie. Der arme Landmann harrt das ganze Jahr, wie etwa die Karten über den Wolken fallen mögen, ob er sein Paroli gewinnt oder verliert. Ein solcher Ungewisser, zweideutiger Zustand mag den Menschen wohl angemessen sein, in unserer Dumpfheit, da wir nicht wissen, woher wir kommen noch wohin wir gehen. Mag es denn auch erträglich sein, seine Bemühungen dem Zufall zu übergeben; hat doch der Pfarrer Gelegenheit, wenn es recht schlecht aussieht, seiner Götter zu gedenken und die Sünden seiner Gemeine mit Naturbegebenheiten zusammenzuhängen.
Auf dem St. Gotthard
So habe ich denn Ferdinanden nichts vorzuwerfen! Auch mich hat ein liebes Abenteuer erwartet. Abenteuer? Warum brauche ich das alberne Wort, es ist nichts Abenteuerliches in einem sanften Zuge, der Menschen zu Menschen hinzieht. Unser bürgerliches Leben, unsere falschen Verhältnisse, das sind die Abenteuer, das sind die Ungeheuer, und sie kommen uns doch so bekannt, so verwandt wie Onkel und Tanten vor!
Wir waren bei dem Herrn Tudou eingeführt, und wir fanden uns in der Familie sehr glücklich: reiche, öffne, gute, lebhafte Menschen, die das Glück des Tages, ihres Vermögens, der herrlichen Lage mit ihren Kindern sorglos und anständig genießen. Wir jungen Leute waren nicht genötigt, wie es in so vielen steifen Häusern geschieht, uns um der Alten willen am Spieltisch aufzuopfern. Die Alten gesellten sich vielmehr zu uns, Vater, Mutter und Tanten, wenn wir kleine Spiele aufbrachten, in denen Zufall, Geist und Witz durcheinanderwirken. Eleonore, denn ich muß sie nun doch einmal nennen, die zweite Tochter – ewig wird mir ihr Bild gegenwärtig sein –, eine schlanke, zarte Gestalt, eine reine Bildung, ein heiteres Auge, eine blasse Farbe, die bei Mädchen dieses Alters eher reizend als abschreckend ist, weil sie auf eine heilbare Krankheit deutet, im ganzen eine unglaublich angenehme Gegenwart. Sie schien fröhlich und lebhaft, und man war so gern mit ihr. Bald, ja ich darf sagen gleich, gleich den ersten Abend gesellte sie sich zu mir, setzte sich neben mich, und wenn uns das Spiel trennte, wußte sie mich doch wiederzufinden. Ich war froh und heiter; die Reise, das schöne Wetter, die Gegend, alles hatte mich zu einer unbedingten, ja ich möchte fast sagen, zu einer aufgespannten Fröhlichkeit gestimmt; ich nahm sie von jedem auf und teilte sie jedem mit, sogar Ferdinand schien einen Augenblick seiner Schönen zu vergessen. Wir hatten uns in abwechselnden Spielen erschöpft, als wir endlich aufs Heiraten fielen, das als Spiel lustig genug ist. Die Namen von Männern und Frauen werden in zwei Hüte geworfen und so die Ehen gegeneinander gezogen. Auf jede, die herauskommt, macht eine Person in der Gesellschaft, an der die Reihe ist, das Gedicht. Alle Personen in der Gesellschaft, Vater, Mutter und Tanten, mußten in die Hüte, alle bedeutenden Personen, die wir aus ihrem Kreise kannten, und um die Zahl der Kandidaten zu vermehren, warfen wir noch die bekanntesten Personen der politischen und literarischen Welt mit hinein. Wir fingen an, und es wurden gleich einige bedeutende Paare gezogen. Nicht jedermann konnte mit den Versen sogleich nach; sie, Ferdinand und ich und eine von den Tanten, die sehr artige französische Verse macht, wir teilten uns bald in das Sekretariat. Die Einfälle waren meist gut und die Verse leidlich; besonders hatten die ihrigen ein Naturell, das sich vor allen ändern auszeichnete, eine glückliche Wendung, ohne eben geistreich zu sein, Scherz ohne Spott, und einen guten Willen gegen jedermann. Der Vater lachte herzlich und glänzte vor Freuden, als man die Verse seiner Tochter neben den unsern für die besten anerkennen mußte. Unser unmäßiger Beifall freute ihn hoch; wir lobten, wie man das Unerwartete preist, wie man preist, wenn uns der Autor bestochen hat. Endlich kam auch mein Los, und der Himmel hatte mich ehrenvoll bedacht; es war niemand weniger als die russische Kaiserin, die man mir zur Gefährtin meines Lebens herausgezogen hatte. Man lachte herzlich, und Eleonore behauptete, auf ein so hohes Beilager müßte sich die ganze Gesellschaft angreifen. Alle griffen sich an, einige Federn waren zerkaut, sie war zuerst fertig, wollte aber zuletzt lesen, die Mutter und die eine Tante brachten gar nichts zustande, und obgleich der Vater ein wenig geradezu, Ferdinand schalkhaft und die Tante zurückhaltend gewesen war, so konnte man doch durch alles ihre Freundschaft und gute Meinung sehen. Endlich kam es an sie, sie holte tief Atem, ihre Heiterkeit und Freiheit verließ sie, sie las nicht, sie lispelte es nur und legte es vor mich hin zu den ändern; ich war erstaunt, erschrocken: so bricht die Knospe der Liebe in ihrer größten Schönheit und Bescheidenheit auf! Es war mir, als wenn ein ganzer Frühling auf einmal seine Blüten auf mich herunterschüttelte. Jedermann schwieg, Ferdinanden verließ seine Gegenwart des Geistes nicht, er rief: »Schön, sehr schön! er verdient das Gedicht sowenig als ein Kaisertum.« – »Wenn wir es nur verstanden hätten«, sagte der Väter; man verlangte, ich sollte es noch einmal lesen. Meine Augen hatten bisher auf diesen köstlichen Worten geruht, ein Schauder überlief mich vom Kopf bis auf die Füße, Ferdinand