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nur selten Gefahr, meine diagonalen Weltsichten an den Mann zu bringen. Gelegentlich ist er aber auch sehr unterhaltsam. Dann kann ich ihn im Herzen verstehen und lieben. Er ist mir Freund und gleichzeitig großer Bruder!

      Was ich dagegen absolut nicht verstehen kann, sind die sogenannten 19-Zoll-Gespräche – das Fabulieren der Instrumentalisten über Effektgeräte und Computerprogramme. Mein alter Kompagnon, der ewige André Gensicke, kann Betriebsanleitungen lesen und diese auch noch verstehen! Manchmal legt er im Auto CDs ein, die mir anhaltende Magenschmerzen verursachen. Harmoniegemetzel und Toneskapaden, die ich nur durch Zuhilfenahme halluzinogener Substanzen verstoffwechseln könnte. Derartige Beruhigungsmittel gestatte ich mir aber nicht mehr, ich habe die Drogenverkostung altersgemäß auf roten vergorenen Traubensaft reduziert. Der ewige André, musikalischer Leiter der Zöllner, hält das schon immer so. Er ist sowieso naturbreit. Bei ihm bedarf es keiner größeren bewusstseinsverändernden Maßnahmen.

      Nun ziehen wir die Nummer also gemeinsam im Kleinen durch, mit klarem Konzept, kurz vor dem Auftritt wird damit angefangen: Nach zwei, drei Gläsern begegnen wir uns, und wenn es ein richtig guter Roter ist, bleiben wir fast über das ganze Konzert im selben Film. Kompliziert wird es erst zu späterer Stunde, wenn wir nach Worten für das gemeinsam erlebte Glücksgefühl suchen. Wir würden ja so gern die Nacht über auf dem Traumschiff verweilen, aber meistens erleiden wir Schiffbruch, oder einer geht beizeiten über Bord. Mein Steuermann blickt auf den unendlichen Horizont, hält seinen Kurs für die unumstößliche Wahrheit und ergießt sich in Brachialmonologen über die allgemeine Verkennung seines Genies – manchmal rührend, gelegentlich weinerlich, oft ziemlich wütend. Weil ich es natürlich viel besser weiß, habe ich den ewigen André immer verlacht oder auch zurück gewütet. Erst in den letzten Jahren übe ich mich in Langmut. Es ist keine Weisheit, es ist auch keine Müdigkeit. Bei aller Bescheidenheit – ich glaube, dass mein Herz wächst! André Gensicke und ich sind Lebenspartner, seit dreiunddreißig Jahren sitzen wir im selben Boot. Wir sind keine engen Freunde, aber er ist trotzdem mein Bruder. Mein ungleicher Bruder. Wir sind Yin und Yang, Pat und Patachon – wir sind konträr, aber miteinander mehr!

      Um unsere alte Liebe zu beleben, bedarf es gelegentlich eines Seitensprungs. Bei meinen Lesungen lasse ich mich deshalb vom sensiblen André Drechsler auf der Gitarre begleiten. Er wohnt – wie ich – im schönen Köpenick und hilft mir, trotz seiner filigranen Finger, immer wieder bei zahlreichen Transportaktionen. Seit ein paar Tagen steht zum Beispiel ein echtes Klavier in meinem Wohnzimmer. Nach dieser Aktion musste er sich erstmal ’ne Woche ins Bett legen. Wenn wir eine dieser musikalischen Lesungen absolvieren, braucht der sensible André im Schnitt nur zwei Tage zur Wiederherstellung seiner körperlichen Kräfte. Neben dieser Tänzerfigur komme ich mir immer vor wie ein Bierkutscher. Er ist mein kleiner Bruder. Ich fordere ihn gelegentlich sehr – aber ich beschütze ihn auch gegen alle Angriffe von außen. Wer gegen ihn agiert, kann mich als seinen Feind betrachten!

      So wie die Wahrheit eine Sache der Perspektive ist, so ist doch jeder Mensch eigentlich ein Spiegelbild des jeweiligen Gegenübers. Wenn ich nur von diesen drei mir sehr wichtigen Andrés spreche, kann ich schon sagen, dass ich vor jedem von ihnen ein völlig anderer Dirk bin. Jeder von ihnen führt mich auf eine andere Art und Weise vor. Und ich weiß gar nicht, wer von den drei Dirks der wahrhaftige ist. Das ist doch der Wahnsinn! Das halte ich im Kopf gar nicht aus! Ich habe die drei Andrés ja nur exemplarisch ausgewählt, es gibt noch einige andere Hauptfiguren in meinem Leben, die mich auf besondere Weise spiegeln. Im Angesicht der drei Andrés erschrecke ich aber besonders vor der mir innewohnenden Impulsivität, raschen Stimmungswechseln und der extrem schwankenden Selbstwahrnehmung.

      Meine zwischenmenschlichen Beziehungen sind instabil, was zu erheblichen Beeinträchtigungen der eigenen Lebensqualität führt und auch das Wohlgefühl naher Bezugspersonen mindert. Ich weiß Bescheid, denn meine Mutter hat mir ein Buch über das Borderlinesyndrom geschenkt.

      Muss man haben, als Sänger. Also nicht das Buch, aber diese Behinderung. Sonst guckt nämlich keiner hin, mein Herz!

      Alter! Dit findste jetzt echt lustig, oder watt? Musste immer mal ’n Smiley zwischendurch setzen, damit man dit ooch merkt!

      Okay, ich habe mich tatsächlich darum bemüht, es humorvoll zu verpacken, aber mal ernsthaft: Ich bin davon überzeugt, dass das gepflegte seelische Ungleichgewicht die Voraussetzung des Kunstschaffens ist! Die Unfähigkeit zur Anpassung, die Getriebenheit. Übersteigerte Sehnsucht kriegt man mit der Muttermilch mit, oder eben nicht. Ob das dann Glück oder Unglück bedeutet, liegt im Winkel der Betrachtung. Ist die stürmische Mentalität eine psychische Erkrankung oder eine höhere Begabung? Diese Frage ist wirklich von Bedeutung und sollte im Einzelfall genauestens geprüft werden. Ich bin nämlich schwerstens davon überzeugt, dass nicht wenige von den klügsten und kreativsten Köpfen im Irrenhaus landen. Während mitunter ganze Länder von wahrhaft Irren regiert werden.

      In deinem Fall hätt ick ja definitiv Angst vor der Klapper. Entschuldige, aber wir wissen ja beede, dass du nich janz alleene bist! Mach mal schön weiter so ’n bisschen Musik – den übertriebenen Ehrgeiz haste ja glücklicherweise überwunden. Den großen starken Mann kannste sowieso nich mimen, bei diesem janzen emotionalen Hin- und Herjezappel. Ick steh deiner politischen, amtlichen und überhaupt jedweder strategischen Karriere eindeutig im Wege. Kannst ruhig mal ’n bisschen dankbar sein!

      Ja, bin ich, mein Herz – du bist meine Rettung! Aber haben wir nicht auch das Bedürfnis, wahrgenommen zu werden? Und vielleicht auch noch ein bisschen mehr als die meisten unserer Nachbarn? Natürlich sollten die Bühnen und der Applaus nicht zu groß sein, sonst infizieren wir uns wieder mit dem Jerusalemsyndrom. Das will ich nicht noch mal erleben – so schön das am Anfang auch sein mag, es mündet letztendlich in einen Totalschaden!

      Ganz im Ernst, es handelt sich hierbei tatsächlich um eine ausgewiesene Krankheit – bei der sich die Betroffenen für Reinkarnationen biblischer Lichtgestalten halten. Ich habe das einmal durch und bin nun hoffentlich immun. Vielleicht auch deshalb unempfänglich für diese Gefahr, weil mein Herz immer größer wird. Und ich habe trotz meines hohen Alters noch kleine Kinder im Haus, die sich ja grundsätzlich für den Mittelpunkt des Universums halten. Was in diesem Alter auch normal und gesund ist. Konkurrenz für die Restkindlichkeit, die ich mir auf Grund meines Berufes bewahren konnte, und somit eine sehr hilfreiche Erdung. Auch in Anbetracht des Horizonts. Ja, er ist bei mir erst vor wenigen Jahren sichtbar geworden, und ich möchte ihn möglichst in liebevoller Begleitung erreichen.

      Körperlos

      Im Tourleben geraten Geist und Seele zwar in Sondersituationen und werden hart auf die Probe gestellt, aber dadurch sehr gut trainiert. Wenn man den Sondersituationen in Dankbarkeit begegnet, kann mit Wachstum gerechnet werden! Leidtragend ist nur die Hülle.

      Mein Verstand sagt, dass ich mich auch hier mal kümmern müsste, und so bin ich seit fünf Jahren zahlendes Mitglied eines Sportvereins. Leider gebricht es mir an Zeit für die aktive Mitgliedschaft! Wenn ich mal zu Hause bin, müssen Berge von E-Mails abgearbeitet, Fensterbriefe geöffnet, Steuerbelege abgeheftet, Rechnungen gestellt und bezahlt werden. Und ich muss schreiben: Kolumnen, Briefe, Pläne, Konzepte, Programme, Texte, Lieder. Aber auch bei der Schreibtischarbeit fühle ich mich eigentlich noch recht fit. Erst wenn ich vom Geiste her loslasse, in den kostbaren Momenten, in denen ich nur noch die Liebste bewundern und mich an Kind und Natur erfreuen will, verlässt mich regelmäßig der Körper.

      Ab Juli bin ich immer an der Ostsee zugange, an ein paar freien Tagen stoßen diesmal meine Lebensgefährtin Johanna und die Kinder dazu. Meine große Tochter Rubini ist ebenfalls dabei, mit Sveni, ihrem langjährigen Freund. Mein Herz jubiliert – mein Körper kapituliert –, ich bin in der Mitte durchgebrochen! Trotz Rubinis physiotherapeutischen Talenten, die sie mir in hohem Maße angedeihen lässt, setze ich den Kinderwagen meines kleinen Sohns Ludwig fortan als Rollator ein.

      Johanna, Rubi und Sven müssen leider nach drei Tagen schon wieder zurück nach Berlin, folglich miete ich noch für ein paar Tage die Wohnung einer befreundeten Warnemünder Sängerin an. Also mit Egon (13), Mimi (9) und Ludwig (2), schon genanntem Kinderwagenrollator und ganz viel Gepäck. Die Wohnung ist ein malerisches Kleinod, aber leider nicht im Ansatz für Kinder konzipiert. Künstlerische Installationen,

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