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zu meinen, sie bestünden und wirkten unabhängig vom menschlichen Urteilsvermögen und Willen. Genau so beschreibt Rousseau dann auch die beiden ursprünglichen Anlagen, die er den Menschen beilegt: Selbstliebe (amour de soi-même) und Mitleid. Beide betrachtet er als Anlagen, die uns von Geburt an mitgegeben sind und uns veranlassen, auf die Welt zu reagieren, ohne dass Meinungen oder Wille eingreifen, und damit »vor dem Verstand«. Insofern als diese Anlagen unabhängig vom Urteilsvermögen und vom Willen wirksam werden, unterscheiden sie sich nicht der Art nach von den Anlagen der Tiere. Tatsächlich hält Rousseau sie für Anlagen, die den Menschen und (zumindest einigen) anderen Tieren gemeinsam sind.

      Wie das Wort besagt, ist der amour de soi-même (oder das Äquivalent: der amour de soi) eine Form der Selbstliebe im allgemeinsten Sinne oder des Eigeninteresses, deren Wesensmerkmal darin besteht, dass sie »uns leidenschaftlich um unser [individuelles] Wohlergehen und unsere eigene Erhaltung besorgt macht« (DU, 73 / OC III, 126). (Im zweiten Teil des Zweiten Diskurses führt Rousseau eine weitere Form der Selbstliebe im allgemeinen Sinne30 ein, den amour propre, dessen Ziele sich wesentlich von denen des amour de soi-même unterscheiden. Da diese Unterscheidung in Rousseaus Denken eine große Rolle spielt, werde ich von nun an die französischen Ausdrücke verwenden.) In seiner ganz und gar natürlichen Form, also noch bevor irgendeine Meinung darüber, worin unser Wohlergehen besteht, unser Eigeninteresse leiten kann, wirkt der amour de soi-même auf rein tierische Weise, und das bedeutet, der Naturmensch ist dazu disponiert, auf die Welt mit einem Verhalten, das unsere individuelle Erhaltung und unser Wohlergehen fördert, mehr oder weniger »mechanisch« und ohne »jegliche Reflexion« zu reagieren (DU, 170 / OC III, 154).31 Rousseau denkt hier sicherlich daran, dass Menschen gleich anderen Tieren mit Anlagen geboren werden, die sie Lustempfindungen aufsuchen und Schmerzempfindungen meiden lassen. Diese Anlagen bewegen Geschöpfe, dazu, die Objekte in der Welt zu suchen – oder im Falle von Schmerzen zu meiden –, welche diese Empfindungen in ihnen hervorzurufen neigen (E, 111 / OC IV, 248). Zudem ist die Natur darauf angelegt – und in dieser bescheidenen Hinsicht teleologisch strukturiert –, dass die unreflektierten Reaktionen solche Geschöpfe meistens zu einem Verhalten führen, das letztlich ihr Wohl qua Naturwesen fördert, und das heißt: ihr Überleben und Wohlergehen.

      Die zweite Anlage, die Rousseau unserer ursprünglichen Natur zuschreibt, eine, die Menschen ebenfalls mit anderen Tieren teilen, ist Mitleid (pitié). Sie »flößt uns einen natürlichen Widerwillen dagegen ein, irgendein fühlendes Wesen, vor allem unseresgleichen, umkommen oder leiden zu sehen« (DU, 73 / OC III, 126). Dieser natürliche Widerwille gegen das Leiden anderer hat Folgen für das Verhalten von Naturwesen, da der Widerwille als eine Art von Schmerz ihnen einen Beweggrund liefert, das Leiden anderer zu verhindern. Eine Reaktion, die das Mitleid in uns auszulösen vermag, ist die, den Anblick des Leidens anderer zu fliehen, doch das Leiden zu lindern ist, vor allem wenn es nicht mit Mühe verbunden ist, zweifellos eine andere. Rousseaus These, Mitleid gehöre zu unserer ursprünglichen Natur, läuft auf die Behauptung hinaus, dass der Mensch von Natur aus kein ausschließlich selbstsüchtiges Geschöpf ist. Stattdessen ist er fähig, Schmerz allein aufgrund der Wahrnehmung des Schmerzes anderer zu empfinden, und damit ist das Fundament für eine Art natürlicher Sorge um das Wohlergehen anderer gelegt. Auf einer höheren Stufe ist damit die Antriebskraft für solche moralischen Tugenden wie Barmherzigkeit, Güte und Großzügigkeit gegeben (DU, 173 f. / OC III, 155). Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Anlage zum Mitleid ein wichtiges Element in der Erklärung des hauptsächlich wohlwollenden Charakters des ursprünglichen Naturzustands ist: »Wenn er [der Mensch im Naturzustand] nicht dem inneren Impuls des Mitleids widersteht, tut er niemals einem anderen Menschen Böses an, nicht einmal irgend einem fühlenden Wesen. Nur in dem berechtigten Falle, in dem seine eigene Erhaltung ihn parteiisch macht, ist er verpflichtet, sich selbst den Vorzug zu geben« (DU, 73 / OC III, 126).

      Die beiden Anlagen sind hinsichtlich ihrer Antriebskraft nicht gleichwertig, auch wenn Mitleid, wie aus diesem Zitat deutlich hervorgeht, oft ein Gegengewicht zum natürlichen Eigeninteresse des Menschen bildet und es mildert. In schweren Konflikten – etwa wenn die Selberhaltung auf dem Spiel steht – gewinnen die Ziele des amour de soi-même die Oberhand gegenüber dem Mitleid, denn, wie Rousseau unzweideutig erklärt, macht sich dieses nur »unter gewissen Umständen« und auch dann nur, verglichen damit, wie sich der amour de soi-même bei der Bedrohung seiner Grundinteressen Gehör verschafft, »mit leiser Stimme« vernehmbar (DU, 173 – 77 / OC III, 154 ff). Rousseau ist daher der Ansicht, dass sich die ursprüngliche Natur des Menschen durch zwei Motivationsquellen auszeichnet – den amour de soi-même und das Mitleid –, dass wir aber, obwohl wir fähig sind, uns zur Linderung des Leidens anderer unabhängig von den Vorteilen bewegen zu lassen, die wir selbst daraus ziehen, im Grunde eigennützige Wesen bleiben, zumindest in dem vergleichsweise schwachen Sinn, dass unser eigener Schmerz letztlich für uns mehr ins Gewicht gefällt als der Schmerz anderer und dass unsere Neigung, das Leiden anderer zu lindern, von der Selbstliebe in den Schatten gestellt wird, sobald die Hilfe für unsere Mitmenschen zu einem erheblichen Schaden für uns selbst führt. Rousseau spürt in den Zwecken dieser beiden ursprünglichen Anlagen wie auch in ihrer relativen Stärke die Grundlage der »Maxime der natürlichen Güte« auf, die uns mit der allgemeinen Regel für das »natürliche« menschliche Verhalten »aller Menschen« ausstattet: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu« (DU, 177 / OC III, 156). Der Sinn, in dem diese Maxime eine Regel für das Verhalten des Menschen bildet, kann natürlich sehr verschieden sein, je nachdem, ob wir an das Verhalten im Naturzustand denken oder an das Handeln des Menschen innerhalb entwickelter sozialer Bedingungen. In jenem – wo es an gegenläufigen Tendenzen, ausgelöst durch künstliche Bedingungen, fehlt, »ist niemand versucht, ihr nicht Folge zu leisten« – beschreibt die Maxime, wie Menschen sich tatsächlich verhalten, während sie in diesen die Form eines echten Gebots annimmt und die Menschen, die sie in der Tat befolgen oder auch nicht befolgen können, anweist, wie sie handeln sollten. (Wie Rousseau festhält, beinhaltet die »Natürlichkeit« der Maxime zudem, dass zivilisierte Geschöpfe einen »Widerwillen gegen üble Taten« empfinden, wenn sie ihnen in der Welt begegnen, sogar dann, wenn sie die Urheber sind.)

      Für Rousseau, wie auch für die meisten seiner Vorläufer und Zeitgenossen, war es hinreichend offensichtlich, dass die Menschen in erster Linie eigennützige Wesen sind, um dafür nicht weiter argumentieren zu müssen. Wahrscheinlich würde kaum einer von uns dem nicht beipflichten. Gleichwohl lohnt es sich, die beiden hauptsächlich stillschweigenden Überlegungen zu artikulieren, auf die sich Rousseaus These stützt. Die erste ist durch und durch empirisch: Schon allein die Beobachtung des Verhaltens unserer Mitmenschen wie auch das, was wir über das Leben von Männern und Frauen in anderen Zeiten (und an anderen Orten) wissen, macht deutlich, dass Eigennutz ein zentrales Element menschlicher Psychologie ist – oder, um es anders zu sagen, dass Individuen ihrer Natur nach starke Motive haben, ihr eigenes Wohl, so wie sie es verstehen, zu fördern. Ein zweites, weniger triviales Argument untermauert das erste: Die oft zu beobachtende Eigennützigkeit der Individuen lässt sich mit guten Gründen als etwas verstehen, was einem rein biologischen Naturzweck dient, nämlich dem Fortbestand und dem körperlichen Wohlergehen eben des Organismus, der von der Natur dazu »programmiert« ist, sein eigenes Wohl zu befördern. Die These, der amour de soi-même gehöre wesentlich zur Natur des Menschen, beruft sich damit nicht nur auf die empirische Beobachtung des tatsächlichen Verhaltens – was, wie Rousseau bemerkt, dazu führt, kontingente, aber sehr oft beobachtete Merkmal der Menschen zu Unrecht für Teile ihrer unveränderlichen Natur zu halten (DU, 67, 79 / OC III, 123,132) –, sondern auch auf eine allgemeinere Auffassung jener Zwecke (in diesem Fall die körperliche Erhaltung), zu deren Erreichen die Geschöpfe der Natur ausgerüstet sein müssen, wenn sie die grundlegendsten Triebe des Lebens sollen befriedigen können.32

      Zweifellos ist die Behauptung, Mitleid gehöre ebenfalls zur ursprünglichen Natur des Menschen, sowohl was uns selbst als auch was Rousseaus Zeitgenossen betrifft, sehr viel umstrittener, und möglicherweise widmet er darum den sie stützenden Argumenten größere Aufmerksamkeit. Erstens ist Rousseau darauf bedacht, mehrere Beispiele für ein uns vertrautes menschliches Verhalten vorzulegen, die ohne die These des natürlichen

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