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Kritik der Ungleichheit. Frederick Neuhouser
Читать онлайн.Название Kritik der Ungleichheit
Год выпуска 0
isbn 9783787338290
Автор произведения Frederick Neuhouser
Жанр Документальная литература
Серия Blaue Reihe
Издательство Bookwire
Wir sind jetzt in der Lage, die in Teil I des Zweiten Diskurses dargelegten Hauptelemente von Rousseaus Argument zusammenzufassen, dass nicht die Natur die Quelle sozialer Ungleichheit ist. Seine Argumentation lässt sich als Zurückweisung dreier möglicher natürlicher Erklärungen der sozialen Ungleichheit – wie auch aller Kombinationen der drei – verstehen. Erstens sind soziale Ungleichheiten nicht die unmittelbaren oder notwendigen Folgen natürlicher Ungleichheiten. Obwohl es Letztere gibt, erklären sie weder die Existenz sozialer Ungleichheiten im Allgemeinen noch warum bestimmte Individuen die Stellung einnehmen, die ihnen innerhalb der bestehenden Hierarchien zufällt. Wenn natürliche Ungleichheiten überhaupt bei der Beschaffenheit sozialer Ungleichheit ins Gewicht fallen, dann nur zu einem sehr kleinen Teil, und spürbar sind sie, wenn überhaupt je, nur im Rahmen von sozialen Praktiken und Institutionen, für deren Entstehen der Mensch, nicht die Natur verantwortlich ist und die daher im Prinzip auch anders aussehen könnten. Zweitens liefern die beiden natürlichen Leidenschaften des Menschen, Mitleid und amour de soi-même, den Menschen keinen Anreiz, Ungleichheiten schaffen zu wollen, außer unter bestimmten Bedingungen des Mangels, denn für die Endzwecke eines jeden ist es gleichgültig, wie gut oder wie schlecht es anderen beim Erreichen ihrer natürlichen Zwecke ergeht. Drittens gibt es keinen Grund zu glauben, dass die Bedingungen (solche des Mangels), unter denen Mitleid und amour de soi-même die Menschen veranlassen könnten, nach einem Vorteil gegenüber anderen als Mittel zur Erreichen ihres Endzwecks zu streben, als notwendig oder typisch in einer Welt gelten, in der Begierden nicht von unnatürlichen Leidenschaften verändert worden sind und in der künstliche soziale Einrichtungen Knappheit nicht zu einer systematischen Notwendigkeit gemacht haben.
Der Gedanke, der uns zu den Themen führt, die im nächsten Kapitel abzuhandeln sind, ist der folgende: Wenn soziale Ungleichheit eher als unser Werk denn als das der Natur zu begreifen ist, dann müssen wir irgendwie verständlich machen, was uns dazu motiviert, sie zu erzeugen, und wie wir gesehen haben, liefert uns weder das Mitleid noch der amour de soi-même dafür eine Erklärung. Im 2. Kapitel werden wir den positiven Teil von Rousseaus Ansicht über den Ursprung der Ungleichheit untersuchen, seine Darstellung dessen, wie systematische soziale Ungleichheiten möglich und nahezu unvermeidlich werden, sobald eine bestimmte »künstliche« Leidenschaft, der amour propre, seinem Bild der ursprünglichen Natur des Menschen zugefügt wird.
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