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der zentrale Sitz der Gehirn- und Nervensysteme, der mutmaßliche Sitz des Bewusstseins und der Persönlichkeit, den die Exekution attackiert: Als Zeichen dafür möge die Tatsache dienen, dass man es sich überall verbietet, einen Verurteilten zu exekutieren, der im Kopf nicht ganz richtig ist35, wie man so sagt. Der Verurteilte muss „normal“, „verantwortlich“ sein und seine Strafe bei vollem Bewusstsein erleiden. Er muss wach sterben. In Frankreich war es, bevor die Todesstrafe im Jahre 1981 abgeschafft worden war, im Zuge einer bestimmten historischen Sequenz, die übrigens ebenso europäisch wie französisch war und auf die wir noch zurückkommen werden, < in Frankreich also > war es vorgekommen, dass man einen solchen zum Tode Verurteilten aufweckte und seinem im Gange befindlichen Suizid entriss, damit er seine Kapitalstrafe bei voller Klarsicht und, wenn ich so sagen kann, im Kopf ganz richtig, erleide. Im Sinne all dieser historischen und rhetorischen Vorbehalte hinsichtlich des Ausdrucks „peine capitale [Kapitalstrafe]“, und bevor ich also auf meine Frage des Titels zurückkomme, nämlich nach dem, was zu Recht am Kopfende/an der Spitze [à la tête] kommt, an erster Stelle [au premier chef], an (der) Stelle der Kapitale gewissermaßen, sowie des Kapitals eines Diskurses, eines Kapitels oder eines Seminars, um seinen Status und seine Identität zu definieren, im Sinne all dieser historischen Vorbehalte möchte ich beginnen, indem ich einige Passagen und zunächst die ersten beiden Seiten aus Überwachen und Strafen von Michel Foucault (1975) lese. Ich habe sie aus mehrerlei Gründen ausgewählt, um sie gleichsam als Ouvertüre vorzulesen. Zunächst einmal deshalb, weil das ein reichhaltiges und wichtiges und für uns überaus wertvolles Buch ist, und ich empfehle Ihnen, es im Ganzen zu lesen oder noch einmal zu lesen. Obwohl Genet nicht genannt wird, ist sein letztes Kapitel, „Das Kerkersystem“, Mettray gewidmet, und Sie wissen, welch wichtigen Platz diese Strafkolonie im Leben und Werk Genets einnahm, diese Besserungsanstalt36, die „etwas ‚vom Kloster, vom Gefängnis, vom Kolleg, vom Regiment‘“37 an sich hat, wie Foucault in Erinnerung ruft. Zum anderen < wählte ich dieses Buch > deshalb, weil Foucault in seinem ersten Teil, der den Titel „Marter“ trägt, Tötungen und Ausführungen der Todesstrafe beschreibt, die von Martern begleitet werden, die zugleich auch spektakulär sind (und wir werden noch oft, tausend Mal, auf das Spektakel und die Geschichte der Szene oder Bühne, der Theatralität und der heute kinematographischen Theatralität der Exekution zurückkommen). Foucaults Buch ist kein Buch über die Todesstrafe, aber es ist ein Buch, das unter anderem von der historischen Transformation des Spektakels, der organisierten Grausamkeit der Strafe handelt, von dem, was ich, obwohl es nicht der Ausdruck Foucaults ist, das Strafen-Sehen [voir-punir] nennen werde, ein Strafen-Sehen, das der Bestrafung, dem Recht zu bestrafen als Recht-strafen-zu-sehen, ja als Pflicht-strafen-zu-sehen wesentlich innewohnt, wobei eine von Foucaults Historiker-Thesen lautet, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts, ich zitiere, „das große Schauspiel der peinlichen Strafe zu Ende [geht]; man schafft den gemarterten Leib beiseite; man verbannt die Inszenierung aus der Züchtigung. Man tritt in das Zeitalter der Strafnüchternheit ein.“38 Ich bin nicht so sicher, aber vielleicht gibt es da eine technische oder teletechnische, ja televisuelle Komplikation des Sehens [voir], ja sogar [voire] eine Virtualisierung der visuellen Wahrnehmung, auf die wir zurückkommen werden. Beccaria hat in seinem berühmten Buch Über Verbrechen und Strafen (1764), das (zu Recht oder zu Unrecht, darüber werden wir noch debattieren) als der erste große, von einem Juristen geschriebene Text zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe gilt, Beccaria, der Rousseau bewunderte, aber hinsichtlich der Frage der Todesstrafe den Gesellschaftsvertrag kritisierte, der soeben (zwei Jahre zuvor) erschienen war, Beccaria also schlug vor, die Todesstrafe (außer in zwei Ausnahmefällen, wir werden darauf zurückkommen) durch lebenslange Zwangsarbeit zu ersetzen (wir werden sehen, warum), und hatte bereits geschrieben: „Die Todesstrafe wird für die meisten zu einem bloßen Schaustück.“39 Foucault zufolge hatte die Guillotine bereits eine wichtige Skandierung markiert in dem, was er für einen Prozess des Erlöschens oder Verblassens40 hielt, ich würde sagen der Ent-Spektakularisierung, denn sie reduziert den Tod auf ein „sichtbares, aber augenblickliches Ereignis“, „beinahe ohne den Körper zu berühren.“41 Foucault zitiert jedoch die Verordnung von 1670, die „bis zur Revolution die allgemeinen Formen der Strafpraxis [bestimmte]“. (Surveiller et punir lesen, S. 41 [deutsch: a.a.O., S. 44])

      Die Verordnung von 1670 bestimmte bis zur Revolution die allgemeinen Formen der Strafpraxis. Sie sah folgende Hierarchie der Züchtigungen vor: „Tod, Folter unter Vorbehalt der Beweise, Galeere auf Zeit, Peitsche, öffentliche Abbitte, Verbannung.“ Einen beträchtlichen Anteil nehmen also die physischen Strafen ein, und sie werden durch das Gewohnheitsrecht, die Art der Verbrechen und den Stand der Verurteilten noch vervielfältigt. „Die Todesstrafe umfaßt alle Arten des Todes: die einen werden zum Tod durch Erhängen verurteilt; anderen wird die Hand abgeschlagen oder die Zunge abgeschnitten oder durchbohrt und dann werden sie erhängt; für schwere Verbrechen werden andere bei lebendigem Leibe gerädert und ihnen dann die Glieder zerschlagen; wieder andere werden so lange gerädert, bis sie eines natürlichen Todes sterben; andere werden erdrosselt und anschließend gerädert; wieder andere werden bei lebendigem Leibe verbrannt oder zuerst erdrosselt und dann verbrannt; einigen wird die Zunge abgeschnitten oder durchbohrt und sie werden dann lebendig verbrannt; andere werden mit Pferden gevierteilt; wieder anderen wird der Kopf abgeschlagen oder zertrümmert“.42

      Nun werde ich noch die ersten zwei Seiten des Buches vorlesen. Sie beschreiben eine Tötung unter dem Regime jener Verordnung, noch im Jahre 1757, am Vorabend der Revolution. Ich werde meine Lektüre beim Wort „pardon seigneur [Vergebung, Herr]“ unterbrechen, um den Übergang, in Bezug auf unser letztjähriges Seminar innerhalb desselben Seminars, deutlich zu markieren (Überwachen und Strafen lesen, S. 9-10 [deutsch: a.a.O., S. 9-10])

      Am 2. März 1757 war Damiens dazu verurteilt worden, „vor dem Haupttor der Kirche von Paris öffentliche Abbitte zu tun“, wohin er „in einem Stürzkarren gefahren werden sollte, nackt bis auf ein Hemd und eine brennende zwei Pfund schwere Wachsfackel in der Hand; auf dem Grève-Platz sollte er dann im Stürzkarren auf einem dort errichteten Gerüst an den Brustwarzen, Armen, Oberschenkeln und Waden mit glühenden Zangen gezwickt werden; seine rechte Hand sollte das Messer halten, mit dem er den Vatermord begangen hatte, und mit Schwefelfeuer gebrannt werden, und auf die mit Zangen gezwickten Stellen sollte geschmolzenes Blei, siedendes Öl, brennendes Pechharz und mit Schwefel geschmolzenes Wachs gegossen werden; dann sollte sein Körper von vier Pferden auseinandergezogen und zergliedert werden, seine Glieder und sein Körper sollten vom Feuer verzehrt und zu Asche gemacht, und seine Asche in den Wind gestreut werden.“

      „Schließlich vierteilte man ihn“, erzählt die Gazette d’Amsterdam. „Diese letzte Operation war sehr langwierig, weil die verwendeten Pferde ans Ziehen nicht gewöhnt waren, so daß man an Stelle von vier deren sechs einsetzen mußte; und als auch das noch nicht genug war, mußte man, um die Schenkel des Unglücklichen abzutrennen, ihm die Sehnen durchschneiden und die Gelenke zerhacken… Man versichert, daß ihm, obwohl er immer ein großes Lästermaul gewesen war, keine Blasphemie entkam; nur schreckliche Schreie ließen ihn die übermäßigen Schmerzen ausstoßen und oft wiederholte er: ‚Mein Gott, hab Erbarmen mit mir! Jesus hilf mir!‘ Alle Zuschauer waren erbaut von der Fürsorge des Pfarrers von Saint-Paul, der trotz seines hohen Alters keinen Augenblick versäumte, um den armen Sünder zu trösten.“

      Und der Polizeioffizier Bouton: „Man zündete den Schwefel an, aber das Feuer war so schwach, daß die Haut der Hand davon kaum verletzt wurde. Dann nahm ein Scharfrichter, die Ärmel bis über die Ellenbogen hinaufgestreift, eine etwa anderthalb Fuß lange, zu diesem Zweck hergestellte Zange aus Stahl, zwickte ihn damit zuerst an der Wade des rechten Beines, dann am Oberschenkel, darauf am rechten Ober- und Unterarm und schließlich an den Brustwarzen. Obwohl dieser Scharfrichter kräftig und robust war, hatte er große Mühe, die Fleischstücke mit seiner Zange loszureißen; er mußte jeweils zwei- oder dreimal ansetzen und drehen und winden; die zugefügten Wunden waren so groß wie Laubtaler.

      Bei diesem Zangenreißen schrie Damiens sehr laut, ohne freilich zu lästern; danach hob er das Haupt und besah sich. Derselbe Scharfrichter nahm nun mit einem Eisenlöffel aus einem Topf die siedende Flüssigkeit, die er auf jede Wunde goß. Darauf knüpfte man dünne Stricke an

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