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schmeißen sie mich raus.«

      »… Lösegeld. Is ja nich so, als hätten wir was zu verschenken, oder?«

      Lenina hörte, was Tis sagte und wusste, dass die Männer am Grill über sie sprachen. Mit einem Mal wurde ihr warm. Der Gedanke, dass man sie hier als Geisel festhalten könnte, um Geld zu erpressen, war ihr nicht gekommen, aber abwegig erschien er ihr nicht. Was hieß da nicht abwegig? Von irgendetwas mussten diese Leute ja leben. Sicher reichten die paar angenagten Teile, die sie aus Mülleimern erbeuteten, nicht aus, um satt zu werden. Womöglich setzten sie den Blinden in Fußgängerzonen und ließen ihn betteln. Vielleicht klauten sie, ganz sicher plünderten sie auch die Container hinter den Lebensmittelläden. Reichte das? Hasen erbeuteten sie unter Garantie nicht jeden Tag. Ob sie wohl auch Ratten und Tauben aßen? Lenina merkte, dass sie nichts über diese Leute wusste, rein gar nichts. Es kam ihr seltsam vor, denn es handelte sich um Menschen wie sie, die noch dazu in derselben Stadt lebten. Wie konnte es sein, dass sie ihr bisher nie aufgefallen waren? Lief sie so blind durch die Gegend oder kreuzten sich ihre Wege einfach nicht?

      Die beiden Griller zerlegten die Hasen und verteilten die Stücke an alle. Während des Essens herrschte eine gefräßige Stille. Als Anti sich die fettigen Hände an seiner Hose abrieb, schüttelte es Lenina und um dieses Gefühl nicht nach außen auszustrahlen, fragte sie: »Gegen was bist du eigentlich, Anti?«

      Der Angesprochene musste offensichtlich erst über diese Frage nachdenken, denn er ging wortlos zum See und zog ein paar Flaschen Bier heraus, die sie dort zum Kühlen versenkt hatten. Er bot jedem eine an – die bis auf Lenina auch von allen angenommen wurden – und setzte sich ihr gegenüber. Er nahm einen tiefen Schluck, rülpste laut und provokant und antwortete: »Ich bin gegen alles!«

      Lenina schüttelte den Kopf und fasste nach: »Wie gegen alles? Geht das?«

      »Klar, geht das. Ich bin gegen alles, was die Politik macht.«

      »Na ja, das sind Leute, die ihr gewählt habt.«

      »Nee! Ich gehe schon lange nicht mehr wählen.«

      »Dann darfst du dich auch nicht beschweren«, meinte Lenina mit unschwer zu erkennender Missbilligung.

      Anti sah sie gönnerhaft an und das konnte Lenina leiden wie Hausarrest. »Was?«, fragte sie.

      »Bringen sie euch das in der Schule bei? Demokratie, Wahlrecht, Mitbestimmung?«

      Lenina nickte. »Natürlich wird das gelehrt, aber nicht nur Lehrer sprechen darüber, auch Eltern, Journalisten und alle anderen auch. Wer sein Wahlrecht nicht ausübt, der darf nicht mosern.«

      »Wer will es mir denn verbieten? Du etwa?«

      »Ich kann und will dir gar nichts verbieten, aber ich finde es nicht richtig, auf der einen Seite zu schimpfen und nichts gegen die angeprangerten Zustände zu unternehmen.«

      »Ach, Mädchen, was glaubst denn du, was einer wie ich ausrichten kann. Überlege dir bitte mal, was eine Stimme von all den Millionen Stimmberechtigten ändern kann«, hier ließ er Lenina Zeit für eine Antwort, aber die blieb sie ihm schuldig. »Nichts, rein gar nichts! Das ist wie ein Tropfen im Ozean. Wir haben keine Lobby. Wir haben keine Politiker, die sich für uns einsetzen, denen geht es am Arsch vorbei, wenn wir im Winter erfrieren …« Lenina unterbrach ihn: »Das stimmt doch gar nicht! Jedes Jahr heißt es aufs Neue, man würde euch Container hinstellen, die ihr nicht nutzt.« Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust. Der Mann sollte nicht denken, sie wisse überhaupt nichts über sie. Gut, ihre Kenntnisse hielten sich in den Grenzen dessen, was die Zeitungen ab und zu berichteten, aber das musste sie dem ja nicht auf die Nase binden.

      »Weißt du, mit was für Auflagen das verbunden ist?«, fragte Anti, der seine Wut nicht verbergen konnte.

      »Was?«

      »Der Einzug in die Container.«

      »Nein.«

      »Dann schwätz hier nicht dumm rum!« Anti stand vor Zorn bebend auf und stampfte davon.

      Hilflos sah Lenina Eve an und fragte: »Warum reagiert er so gereizt? Er hätte mir ja sagen können, was es für Auflagen gibt.«

      »Wolf. Es geht um Wolf, unseren Hund. Anti hat ihn vor Jahren angeschleppt, da war er mehr tot als lebendig. Er hat ihn gepflegt und aufgepäppelt. Wir dachten nicht, dass er lernen würde, auf drei Beinen zu laufen, aber du hast ja gesehen, dass es sehr gut klappt. Er dürfte ihn nicht mit in die Unterkunft nehmen und er würde es niemals übers Herz bringen, ihn sich selbst zu überlassen. Außerdem müssen wir uns alle registrieren lassen, und das geht bei mir zum Beispiel nicht.«

      Lenina hörte gespannt zu. So langsam kamen ihr die Lebensgeschichten dieser Leute so interessant vor wie ein spannender Roman. »Warum geht das bei dir nicht?«

      »Ich bin ein zweites Kind …« Eve schien ihren Gedanken nachzuhängen und gab Lenina damit die Gelegenheit sich über das Gesagte zu wundern, denn eigentlich gab es keine zweiten Kinder. Es herrschte eine strikte Ein-Kind-Politik. Der Planet durfte nicht weiter in seiner Existenz bedroht werden, indem immer mehr Menschen auf ihm herumkrabbelten und nach Nahrung und Wasser verlangten. Die Maßnahmen galten schon so lange Lenina denken konnte. Sie schluckte, bevor sie nachfragte: »Was soll das heißen? Hatten deine Eltern eine Ausnahmegenehmigung?«

      »Nein, die hatten sie nicht, sonst hätten sie mich wohl nicht in den Müll geworfen.« Eve stand auf und stampfte ebenfalls davon. Lenina kam sich dumm und unbeholfen vor. Sie blickte die alte Frau an. »Ich mache alles falsch, dabei interessiert es mich wirklich.«

      »Es liegt nicht an dir, Kindchen. Die beiden werden durch die Fragen an eine schmerzhafte Vergangenheit erinnert. Ich erzähle dir, wie das damals war …«

      Sie erzählte Lenina, wie sie auf der Suche nach Verwertbarem die Mülltonnen durchwühlte und durch ein leises Wimmern auf eine bestimmte Tonne aufmerksam wurde. Zuerst dachte sie, sie hätte sich getäuscht und der Deckel hätte sich im Wind bewegt und damit das Geräusch verursacht, aber dann war dieses Wimmern lauter geworden, als sie den Deckel zurückschob. Im ersten Moment sah die Tonne aus wie alle anderen. Mom schichtete den Müll vorsichtig um und sah in blitzeblaue Kinderaugen, die sie groß anblickten. Dieser Blick traf sie mitten ins Herz und sie nahm das Bündel schnell an sich. Sie ahnte, dass jemand ein zweites Kind hatte entsorgen wollte und eilte mit ihm davon. In der Gruppe, die damals noch viel größer war, stieß sie zuerst auf Ablehnung, aber jeder, den dieses hübsche Mädchen anlächelte, liebte es sofort wie sein eigenes Kind und so zogen sie es gemeinsam groß.

      »… wir nannten sie Eve, weil sie für uns nicht das entsorgte zweite Kind, sondern unser erstes Mädchen war. Wir lieben sie, aber sie hat keine Papiere, mit denen sie sich ausweisen könnte und keiner von uns weiß, was man mit Menschen anstellt, die es eigentlich nicht geben dürfte.«

      »Was sollte man schon mit ihnen anstellen? Man würde ihr wahrscheinlich Papiere ausstellen.«

      »Na, Kindchen, da wäre ich mir nicht so sicher. Wenn du deinen Ausweis verlieren solltest, bekommst du garantiert einen neuen, aber Eve … Auf der Straße wird gemunkelt, dass diese Menschen – sofern sie denn tatsächlich so dumm sind, sich an den Staat zu wenden – auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Ob man sie in Arbeitslager steckt, für Auslandsdienste einteilt, oder tötet weiß ich nicht, aber ich will es auch lieber nicht herausfinden.«

      Lenina wollte heftig widersprechen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Was, wenn diese Gerüchte stimmten? Konnte es sein, dass Menschen spurlos verschwanden, dass sie vom Staat beseitigt wurden? Durfte sie solche Gedanken überhaupt zulassen? Es brodelte regelrecht in ihr. Kein Mensch, erst recht nicht, die vom Volk gewählten Politiker, hatte das Recht, andere Menschen zu töten! Beim besten Willen konnte sie sich nicht vorstellen, dass die normalen Leute davon wussten. Ihre Eltern ahnten sicher nichts davon, oder? Nein! Das hätte sie auf jeden Fall mitbekommen. Wenn das stimmte, was auf der Straße gemunkelt wurde, dann musste die Öffentlichkeit davon erfahren, aber bevor man mit solchen Gerüchten hausieren ging, mussten sie auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht werden. Und das konnte sie nicht, erst recht nicht ganz alleine, aber wer konnte ihr helfen? Wem konnte sie so abstruse

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