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Gastwirt eine lange und komplizierte Geschichte.

      Seine Kutsche sei etwa fünfzehn Kilometer vom Dorf entfernt zusammengebrochen, er sei von einem Bauern auf dessen Wagen bis zum Dorf mitgenommen worden und jetzt brauche er ein Pferd, da er dringende Geschäfte in Rouen zu erledigen habe.

      Der Wirt glaubte ihm seine Geschichte ohne weiteres und erkundigte sich im ganzen Dorf und in der Umgegend nach Pferden, die zum Verkauf angeboten würden.

      Glücklicherweise war es leicht, ein Tier mit einem ganz passablen Stammbaum aufzutreiben. Der im Dorf ansässige Burgvogt, der durch die Revolution verarmt war, züchtete seit einiger Zeit Pferde, erhielt jedoch, wie er sagte, für seine Tiere nur selten einen vernünftigen Preis.

      Natürlich konnte er sie an die Armee verkaufen, aber die drückte den Preis bis auf den letzten Sou herab, wo er doch ohnehin schon oft beim Verkauf eines Pferdes ein Verlustgeschäft machte.

      Als er merkte, daß Armand reich genug war, um einen anständigen Preis zu zahlen, bemühte er sich beinahe rührend darum, es ihm recht zu machen.

      Nach kurzen Verhandlungen, die bei einer Flasche Wein endeten, setzte Armand seine Reise auf dem Rücken eines temperamentvollen schwarzen Hengstes fort.

      Es überraschte Armand nicht, daß das Land hier gut bestellt war, die Leute in den Dörfern einen zufriedenen Eindruck machten und die Kinder rotbackig und wohlgenährt waren. Die schändlichen Sansculotten und blutbefleckten Szenen auf Gillrays Karikaturen, die ganz England hatten schaudern lassen, waren durch saubere Straßen und ordentliche Bürger ersetzt worden.

      Die Frauen in den Dörfern, mit ihren roten Jacken aus leichtem Wollstoff, mit den Latzschürzen und den langen, flatternden Zipfeln an den weißen Hauben, hatten ein freundliches Wort für jeden, der die Märkte besuchte, um ihre leuchtend bemalten Eier zu kaufen.

      Sie klapperten mit ihren Holzschuhen mit scharlachroten Troddeln fröhlich über die Pflastersteine, und in den Gasthöfen servierten sie duftenden Kaffee, schaumige, gelbe Omeletts und lange, knusprige Brötchen mit der ihnen eigenen Geschicklichkeit.

      In den Provinzstädten jedoch sah es ganz anders aus. Hier bekam man bereits die Härte des Wirtschaftskrieges, den Napoleon angefangen hatte, zu spüren. Für Tausende von französischen Staatsbürgern bedeutete er den Ruin. Es gab keinen Absatzmarkt für überschüssige Produktionen, die Steuern stiegen in zerschmetternde Höhen, während der Konsum sank; die Scharen hungernder Bettler wurden von Tag zu Tag größer.

      Den passenden Hintergrund bildeten die Schlösser, Burgen und Landsitze, die während der Revolution zerstört worden waren, die geplünderten und verlassenen Kirchen, die entweihten Grabstätten und zerschlagenen Altäre.

      Nur auf den Feldern, von denen die jungen Männer zwangsweise zum Heeresdienst eingezogen worden waren, gab es noch Vollbeschäftigung. Hier, wenn auch nirgendwo anders, wurden die Jahre der Vernachlässigung und Zerstörung rasch wieder aufgeholt.

      Armand hatte es nicht eilig, nach Paris zu gelangen. Er war sich der Risiken und Schwierigkeiten, die ihm bevorstanden, und der Tatsache, daß er hier in Frankreich ein gefährliches Spiel spielte, wohl bewußt.

      Er dachte an die Geschichte, die einer der Würdenträger an der Universität oft erzählte: dieser hatte einmal versucht, nach Mekka zu gelangen, indem er vorgab, ein arabischer Pilger zu sein.

      »Die wichtigste Kunst der Tarnung«, pflegte er den aufmerksamen Studenten zu sagen, »ist es, in der Sprache, derer man sich bedient, zu denken.«

      Armand hatte jene Worte nie vergessen, und während er nun durch Frankreich ritt, übte er sich darin, nur noch Französisch zu denken, was ihm natürlich leichter fiel als anderen Leuten.

      Seine Mutter hatte, als er noch klein war, Französisch mit ihm gesprochen; seine allerersten Worte als Kleinkind waren sogar eine Mischung aus Französisch und Englisch gewesen. Wenn er und seine Mutter zusammen waren, hatten sie immer Französisch geredet, und oft hatte sie liebevoll zu ihm gesagt: »Du mußt auch mein Sohn sein, nicht nur der deines Vaters. Dein Vater kann dir sehr viel geben - deine Stellung, deinen Titel, den großen Reichtum, den du eines Tages erben wirst -, aber auch ich kann dir etwas Wertvolles geben. Ich kann dich das Geheimnis eines ausgefüllten Lebens lehren, kann dir die Kunst beibringen, über dich selbst zu lachen, und ich kann dir von der Freude und dem Schmerz des Liebens erzählen.«

      Er erinnerte sich daran, wie sie in solchen Momenten den Kopf in den Nacken warf und ihr ganzer Körper sich ein wenig bog, als fühlte sie eine tiefe Sehnsucht, wenn sie ausrief: »Tiens! Aber diese Engländer! Sie wissen nicht, wie man liebt! Wenn du älter bist, Armand, werde ich dir eine Menge darüber erzählen!«

      Als er jedoch alt genug war, um derartige Dinge zu verstehen, war sie nicht mehr da. Seine faszinierende, bewundernswerte, kleine französische Mutter starb, als er gerade siebzehn geworden war.

      Nur zu lebendig erinnerte er sich noch des Schocks, den er erlitt, als er von ihrem Tod erfuhr. Er wußte noch, daß er auf eine Schale mit Frühlingsblumen im Salon - dem Zimmer, das ganz besonders ihr gehört hatte - gestarrt und dabei gedacht hatte, daß auch sie sterben würden, daß auch ihre Schönheit vergehen würde, genau wie die seiner Mutter.

      Er hatte es seinem Vater nicht verübelt, daß er wieder heiratete. Er hatte verstanden, daß die Leere in den Räumen, wo seine Mutter gelacht und gescherzt hatte, unerträglich dumpf und schmerzlich wurde.

      Er hatte geahnt, daß für seinen Vater jegliche Gesellschaft, und sei sie auch noch so alltäglich, besser war, als allein dazusitzen und auf eine Stimme, die nie mehr ertönen würde zu lauschen oder auf Schritte, die sich nie wieder nähern würden, oder auf das Rascheln eines Kleides, das seine Besitzerin nie wieder tragen würde.

      Auch er hatte dieses schmerzliche Verlangen nach etwas, das für immer aus seinem Leben entschwunden war, kennengelernt. Auch er hatte sich gefragt, ob das Leben wohl je wieder so wie früher sein werde, ohne den Menschen, der es so ausgefüllt, der es zu so etwas Wundervollem, Aufregendem gemacht hatte.

      Seine Mutter war sehr hübsch gewesen, und er wußte, daß er ihr sehr ähnelte, mehr als seinem Vater, und daß sie mit gutem Grund so oft gelacht und ihn »mein kleines französisches Baby« genannt hatte.

      Im ersten Jahr nach ihrem Tod konnte er es nicht einmal ertragen, an sie zu denken. Er sprach nicht mehr Französisch, und hörte auch nicht zu, wenn irgendjemand Französisch sprach; doch als der erste, schlimmste Schmerz über den Verlust verklungen war, lernte er jede Erinnerung an sie, jedes ihrer Worte, das er noch wußte, schätzen und wie einen Schatz hüten.

      Und jetzt fiel ihm alles wieder ein - ihre Sätze, ihre Ausrufe, die faszinierenden und amüsanten kleinen Redewendungen, die sie immer gebrauchte und die ihn jedes Mal wieder zum Kichern brachten.

      Während er über das weite Land dahinritt, in dem sie geboren war, hatte er das Gefühl, als begleite sie ihn und führe ihn durch dieses größte Abenteuer, auf das er sich je eingelassen hatte.

      Nach zehn Tagen gelangte Armand in die Nähe von Paris. Das Wetter war herrlich warm, doch eine sanfte Brise wehte über das Land, so daß es sich selbst um die Mittagszeit gut weiterreiten ließ.

      Inzwischen wartete Armand ungeduldig auf den Moment seiner Ankunft am Ziel. Er hatte keine Pläne, keine Vorstellungen, was geschehen sollte, sobald er in Paris eintraf, und doch war er von dem Drang beseelt, auf schnellstem Wege dorthin zu gelangen.

      Er wollte die Aufgabe, die er übernommen hatte, beginnen, wollte sich an die Arbeit machen. Die Reise hatte ihm Gelegenheit gegeben, sich gut vorzubereiten, auf alles - und sei es noch so seltsam, noch so unerwartet - gefaßt zu sein.

      An einem Mittwochabend ritt er die lange, gerade Straße entlang, die zu dem Dorf St. Denis führte. Die ersten Sterne erschienen am Himmel, der Mond ging auf. Armand zog seine Uhr aus der Tasche, es war bereits Viertel vor zehn.

      Er war ebenso müde wie sein Pferd. Eigentlich hätte er schon fünfzehn Kilometer vorher zu Abend essen und sich in einem Gasthof zum Schlafen einquartieren sollen, aber er steckte voller Ungeduld. Jetzt jedoch, da er in St. Denis war

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