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eigentlich fürchtete.

      Es war eine Doppeltür. Die erste war aus Holz, und die zweite war gepolstert. Sie erinnerte so von ungefähr an eine Kassaschranktür, nur war sie lautlos und vornehm. Wenn man die Tür nur ansah, fühlte man schon weiche Müdigkeit. Sitzend auf gepolsterten Lederstühlen, war man in den vorhypnotischen Zustand versetzt, in den man unbedingt fallen mußte, wenn der Herr Reckzügel jemanden anredete. Im Zimmer standen breite, behagliche Ledersofas um einen nußbraunen Tisch. In der Ecke links wuchtete ein massiver Schreibtisch, und an der linken Wand schlief die braune Feuerkassa mit ihren zugefallenen metallenen Klappenlidern über den Schlössern. In der Luft aber war ein sinnbetörender Duft von Havanna, Ananasäpfeln und Perolin.

      Dieses Zimmer malte sich Gabriel so deutlich aus, daß er in eine Art Lethargie fiel. In diesem Zustand schrieb er einen Brief an die Firma Simon Silberstein und Bruder, in dem er hervorhob, daß er die Ehre wohl zu schätzen wisse, aber mit Rücksicht auf sein langjähriges Verhältnis zu dem Hause, in dem er jetzt seit nunmehr dreiundzwanzig Jahren bedienstet sei, um eine Bedenkzeit von acht Tagen bitten müsse.

      Diese acht Tage waren die unangenehmsten in Gabriels nicht sehr angenehmem Leben.

      Gabriel Stieglecker hatte sogar seine Ziffern vergessen. Er dachte nicht mehr recht an sie, und es kam vor, daß er – man denke! – mit schwarzer Kaisertinte eine ganze Zahlenreihe auf der Soll-Seite schrieb. Hier und dort hatte sogar eine 2 schon einen Buckel, eine 7 schon einen Schwanz. Es war schrecklich.

      Am Montag hatte sich Gabriel zu entscheiden. Am Sonntag ging er nicht in sein Stammcafe. Und auch nicht ins Büro.

      Vielmehr machte Gabriel einen Spaziergang durch den Stadtpark in Anbetracht des schon frühlingsmilden Wetters. Und begegnete der Firma Simon Silberstein und Bruder.

      Die Firma Silberstein und Bruder war unerhört freundlich mit Gabriel. Sie nahm die Voraussetzung, daß er als Buchhalter eintreten würde, als schon gegeben an und ließ sich überhaupt nur mehr in Detailfragen ein. Schließlich lud sie ihn auch noch zu einem bescheidenen Nachtmahl im Parkrestaurant ein. – –

      Als Gabriel am Sonntagabend heimkehrte, stand es bei ihm fest, daß er bei der Firma Silberstein und Bruder eintreten würde.

      Er stand um fünf Uhr früh auf, rasierte sich und machte mit einem Stuhl Gelenksübungen. Er atmete tief, hielt den Atem ein und führte sich überhaupt sehr sonderbar auf. Er gymnastizierte sich Mut zu. Dann fuhr er ins Büro mit der Straßenbahn; zum ersten Male seit der Einführung des Zweikronentarifes.

      Er setzte sich schnell und mit jünglinghafter Gebärde an den Schreibtisch, tunkte eine neue Feder in die violette Tinte mit dem seltsamen Patinaglanz und schrieb, schrieb seine Kündigung.

      Just als er hochachtungsvoll ergebenst schließen wollte, kam der Diener. Gabriel sollte zum Chef.

      Seit dem ersten Jänner, an welchem Tage Gabriel Stieglecker nach althergebrachter Sitte dem Chef viel Glück zum neuen Jahre gewünscht hatte, war Gabriel Stieglecker nicht in dem gefährlichen, hypnotisierenden Zimmer gewesen. Was wollte der Chef? Vielleicht hatte er schon eine Ahnung und wollte gar Gabriel zuvorkommen? Nun! Desto besser!

      Im Zimmer des Chefs duftete es sehr nachdrücklich nach Zigarren, Ananas und Perolin.

      Der Herr Reckzügel senior stand in der Mitte unter dem Kronleuchter, dessen unterster Messingknopf sich bequem in seiner Glatze spiegelte, und hielt einen dunkelblauen Rock in der Hand.

      Gabriel blieb hart an der gepolsterten Tür stehen. Er war betäubt. Wie durch eine sehr dicke Wand hörte er den Chef:

      »Herr Stieglecker, ich wollte nur sagen, daß ich diesen noch an und für sich« – Herr Reckzügel sagte immer »an und für sich« – »sehr gebrauchsfähigen Rock in meinem Schrank gefunden habe. Ich glaube bemerkt zu haben, daß Sie sich gegenwärtig leider in nicht sehr günstigen Verhältnissen befinden. Ich wollte nur sagen, daß an und für sich nichts daran wäre. Sie wissen, wie ich es meine, wenn Sie et cetera.« Herr Reckzügel sagte immer »et cetera«, wenn er nichts Passendes wußte. Gabriel Stieglecker wankte mit dem Rock hinaus und an seinen Schreibtisch. Hier brach er zusammen. Den Kündigungsbrief zerriß er in unzählige Fetzen. Und dachte dabei angestrengt nach, daß er den Rock zerreiße.

      Wie konnte man da kündigen? Der Rock, der Rock! Durfte er so undankbar sein? Einen Rock hatte ihm der gegeben, und er sollte kündigen?! Das tat er nicht, er, Gabriel Stieglecker.

      Sondern er tat folgendes: Er tunkte abermals eine neue Feder in die violette Tinte mit dem seltenen Patinaglanz und schrieb an die Firma Simon Silbers tein und Bruder, daß er für die gestrige freundliche Einladung sehr dankbar sei, jedoch mit Rücksicht auf ganz besondere, erst im Laufe der letzten Stunde eingetretene Umstände gezwungen sei usw.

      Dann schrieb Gabriel mit derselben Feder tadellos schlanke Ziffern mit violetter, patinaschimmernder Tinte auf die Haben-Seite. Es waren die herrlichsten Ziffern, die Gabriel Stieglecker je geschrieben hatte.

      undatiert

      Von dem Orte, von dem ich jetzt sprechen will, mochte es wohl einst geheißen haben, daß er außerhalb der Stadt liege. Heute kann davon längst nicht mehr die Rede sein. Zwar grenzt er noch an freiliegende Felder und sumpfige Wiesen, aber an seiner rissigen Mauer, die ihn rings umgibt, kleben, wie Schwalbennester an Dachrinnen, armselige Häuschen, in die sich die Armut geflüchtet hat, vor deren schmutzigen gelben Türen keifende Weiber schwatzen und schmierige Kinder sich balgen. Im Frühling ruft der Kuckuck dort und stört die eifrigen Frauen in ihrem Geschwätz, die Amsel pfeift wohl auch dazwischen, und abends kann der Lauscher das reinste Nachtigallengold aus den kleinen Sängerkehlen rinnen hören.

      Der Ort, von dessen Lage ich erzähle, ist der alte Friedhof meiner Vaterstadt. Die verwitterte Inschrift auf dem längst geschlossenen Eingangstore zeigt die Zahl 1470. Seit ungefähr fünfzehn Jahren ist der Friedhof vom löblichen Magistrat meines Heimatstädtchens gesperrt. »Aus sanitären Gründen« – hieß es in der Kundmachung. Die Leute in meiner Heimat erfreuten sich meistens eines langen Lebens – sie lebten oft hundert Jahre und wohl noch mehr darüber. – Der kleine, alte Friedhof bekam also selten neue Einwohner. Das änderte sich nun eines schönen Tages – oder besser: Jahres. Meinen hochachtbaren Mitbürgern schien es nicht sonderlich auf Erden zu gefallen, und sie traten frühzeitig die Reise in jenes unbekannte Land an, von dessen Gefilden kein Wanderer je wiederkehrt. Aber ihre sterblichen Überreste wurden nicht mehr auf dem alten Friedhof bestattet, sondern mußten sich einen etwas längeren Weg gefallen lassen. In der Nähe des sogenannten Grenzwaldes befand sich die neue Ruhestätte der Toten. Der alte Friedhof aber wurde gesperrt.

      Natürlich mußte man einen Wächter haben, der Enkeln und Urenkeln die Gräber ihrer in Gott ruhenden Vorfahren zu zeigen hätte, wenn es jenen etwa einmal einfallen würde, ihre Großväter und -mütter aufzusuchen, sei es, um sich bloß einmal so recht auszuweinen und getröstet wieder fortzugehen, sei es, um die Toten, die sich doch gewiß eines großen Ansehens beim lieben Herrgott erfreuten, um eine kleine oder größere Protektion anzugehen. Aber merkwürdigerweise wollte keiner das Wächteramt übernehmen. Endlich entschloß sich dazu ein alter Magistratsdiener, ein bekannter Freigeist, der aus einer nahegelegenen deutschen Kolonie stammte, äußerst wortkarg war, mit keinem Menschen verkehrte, riesige Mengen Tabak schnupfte und in seinem ganzen Wesen wohl recht in jenen düstern Ort passen mochte. Er hatte übrigens viele der dort Ruhenden bei ihren Lebzeiten wohl gekannt und konnte etwaigen forschenden Urenkeln zuverlässige Auskunft geben. Ein Stück freier Erde war noch übriggeblieben, und auf diesem baute sich der Martin Schwab Kartoffeln und rote Rüben an. Er bezog ein kleines Stübchen in dem Wächterhause, das zugleich ein Seiteneingang in den Friedhof war, schnupfte Tabak, briet Kartoffeln und kam selten zum Vorschein.

      Auf jenem Friedhof pflegte ich nun als Gymnasiast viele Stunden zu verbringen. Pochte ich an die Türe des alten Martin, so erschien in einer viereckigen Öffnung die scharfe Hakennase meines Freundes, und eine hohle Stimme fragte: »Hast du Tabak?« Wenn ich hierauf das kleine mitgebrachte Päckchen an die Nasenlöcher des Martin hob, so roch er lange, lange daran, so etwa

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