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en gros, und verdiente dreihundertundfünfzig Kronen im Monat.

      Und hieß Gabriel Stieglecker.

      Und weiters ist über ihn zu sagen, daß er, um nicht ganz zu verhungern, nach Nebenverdiensten suchte und einige fand. Er leistete bei den Firmen Brüder Pollacek, Simon Silbers tein und Bruder, Rosalie Funkel Aushilfsdienste jeden Monat einige Tage vor Ultimo. Zusammen hatte Gabriel Stieglecker sechshundertundfünfundsiebzig Kronen im Monat. Und davon starb er nun schon drei Jahre und fünf Monate lang.

      Er war ein ausgezeichneter, prompter und verläßlicher Buchhalter. Die Firmen Brüder Pollacek, Simon Silberstein und Bruder und Rosalie Funkel konnten sich dank den Leistungen des Gabriel Stieglecker einen eigenen Buchhalter ersparen. Er hielt ihre Bücher in Ordnung, wußte auch, was vor Steuerbehörden und Polizei verborgen bleiben mußte, und war diskret wie ein Brunnenloch.

      Gabriel Stieglecker liebte seinen Beruf. Die grüne Tinte bevorzugte er vor der blauen und vor dieser die rote. Aber am liebsten war ihm die violette. Alle Buchhalter der Welt schrieben Zahlen in schwarzer Kaisertinte. Gabriel Stieglecker schrieb grundsätzlich violette Zahlen. Er behauptete, von der violetten Tinte bestimmt zu wissen, daß sie dauerhafter sei als die andere und mit einer unerreichbaren Intensität durch die Poren des Papiers dringe. Ja, es sei sogar anzunehmen, daß mit violetter Tinte geschriebene Ziffern noch lange nach dem völligen Zerfall des Papiers gleichsam wie transparente Bilder in der Luft fortbeständen.

      Was die von Gabriel Stieglecker geschriebenen Ziffern selbst betrifft, so ist zu bemerken, daß sie niemals mit andern zu verwechseln waren. Sie hatten eine persönliche Note, einen Charakter, waren Individualitäten. Die 3 hatte keinen Bauch, die 2 keinen Buckel, die 7 keinen Schwanz. Sondern alle Ziffern hatten »Linie«, waren zart und schlank wie moderne Frauen und konnten an künstlerischem Schwung nur von Modellzeichnungen in den neuesten Modezeitschriften übertroffen werden.

      Denn Gabriel Stieglecker liebte seine Geschöpfe, die Ziffern. Er blies ihnen sozusagen seinen Atem ein, und davon erschienen sie so unterernährt. Er spielte mit ihnen wie ein Knabe mit Zinnsoldaten, er ließ sie in Doppelreihen aufmarschieren und markierte den Rand eines Exerzierplatzes durch einen grasgrünen Strich. Oder er richtete mit roter Tinte ein Blutbad unter ihnen an, das aber niemals mutwillig und schrankenlos sich über das Blachfeld ergießen durfte, sondern mittels eines Lineals gewissermaßen in säuberliche Kanäle abgeleitet wurde. Ordnung mußte sein, auf jeden Fall.

      Nur so ist es zu verstehen, daß Gabriel Stieglecker nun schon den sechsten Monat des vierten Jahres mit sechshundertundfünfundsiebzig Kronen Monatslohn stirbt. Ich sage: »stirbt«, nicht etwa aus Vergeßlichkeit, sondern mit Absicht. Denn die Geschichte ist wahr, Gabriel Stieglecker heißt anders, aber er lebt. Die Geschichte ist übrigens zu merkwürdig, als daß jemand anderer als das Leben sie erfunden haben könnte. Wie aus dem Folgenden zu ersehen ist.

      Gabriel Stieglecker war immer noch Gast am Stammtisch im Cafe Aspern, wo er allsonntäglich einen Schwarzen mit Sacharin trank. Und allsonntäglich mußte er, der gerade damit beschäftigt war, über den seltsamen Patinaglanz seiner gestern erstandenen violetten Tinte nachzudenken, Vorwürfe anhören. Warum er denn noch immer nicht eine Gehaltserhöhung verlangt habe? Und ob er denn nicht einsehe, daß er schändlich ausgebeutet würde? heutzutage? von der Firma? der sauberen Gesellschaft?

      Um diese Vorwürfe rasch und sicher vergessen zu können, ging Gabriel Stieglecker jeden Sonntag nach der Stammtischsitzung ins Büro Zahlen schreiben. Gabriel Stieglecker erledigte das ganze Montagsmorgenpensum und wäre eigentlich sehr glücklich darüber schlafen gegangen, wenn ihn nicht die Sorge geplagt hätte, daß er - am nächsten Morgen nichts mehr zu tun haben würde.

      So waren Gabriel Stiegleckers Sonntagsnächte qualvoll und zerrissen. Gabriel Stieglecker war überhaupt gegen Sonntage.

      An einem und demselben Tag geschah folgendes:

      Die Wäscherin kündigte eine zehnprozentige Erhöhung an; die Elektrische führte den Zweikronentarif ein; und die Wirtin erhöhte den Mietzins mit Rücksicht auf die »Verteuerung der Elektrizität« um dreißig Kronen.

      (Daß Gabriel Stieglecker trotzdem kein elektrisches Licht im Zimmer hatte, setze ich als selbstverständlich voraus und erwähne es nur zum Zweck der Beruhigung aller jener, die sich etwa über das Vorgehen der Wirtin Gabriel Stiegleckers aufregen sollten.)

      Diese drei Katastrophen veranlaßten den zweiten Buchhalter Gabriel Stieglecker, sich beim ersten Buchhalter Rat zu erbitten.

      Der erste Buchhalter nahm seine Brille ab, die er bei der Arbeit trug, und setzte den goldenen Zwicker auf; was er sonst nur zu tun pflegte, wenn ihn der Prokurist rufen ließ.

      Der erste Buchhalter sah aber nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, durch die Mitte der Zwickergläser, sondern über deren oberen Goldrand hinweg auf Gabriel. Dabei neigte er den Kopf auf die Brust, und es sah aus, als wollte er mit imaginären Hörnern gegen Gabriel anrennen.

      »Die zwanzigprozentige Aufbesserung dürfte Ihnen doch wohl genügen, oder nicht?« sagte der erste Buchhalter, der nur deshalb erster war, weil er schon zweiunddreißig Jahre im Hause Ziffern schrieb; nur mit Kaisertinte natürlich.

      Seine Frage war geflüstert, aber sie trug deutlich die Tonfarbe eines etwa in Wolkenpölstern gedämpften Donnergrollens.

      »Ich habe keine zwanzigprozentige Aufbesserung erhalten!« stöhnte Gabriel.

      »Dann müssen Sie sie verlangen«, sagte der erste Buchhalter laut, wobei er den Zwicker wieder abnahm und die Brille aufsetzte.

      Infolgedessen mußte sich Gabriel Stieglecker entfernen.

      Er ging an seinen Schreibtisch und dachte nach. Eine zwanzigprozentige Aufbesserung direkt verlangen konnte man nicht. Wohl aber konnte man unter behutsamer Berufung auf die seinerzeit gütigst erfolgte Aufbesserung an alle Angestellten und mit Rücksicht auf die durch die allgemeine Teuerung besonders erschwerte Lebensführung um eine Gehaltserhöhung von fünfzig Kronen ergebenst ansuchen.

      Gabriel Stieglecker tauchte eine neue Feder in die violette Tinte mit dem seltsamen Patinaglanz und schrieb einen Brief an seinen Chef. Er bat um fünfzig Kronen und zeichnete schließlich nicht nur hochachtungsvoll ergebenst, sondern auch noch ganz tief, in der unteren Ecke rechts, seinen Namen. So tief, daß der Familienname fast unter den Tisch gefallen wäre.

      Am nächsten Morgen fand Gabriel Stieglecker auf seinem Tisch einen Brief, in dem ihm die Firma mitteilte, daß sein Gehalt ab Fünfzehnten dieses um fünfundzwanzig Kronen mehr betrage.

      Zu Hause fand Gabriel Stieglecker zu seiner großen Überraschung einen anderen Brief vor. Und zwar von der Firma Simon Silberstein und Bruder, bei der Gabriel aushilfsweise Buchhalter war. Vielleicht stand darin um Gottes willen, daß die Firma auf seine weiteren Dienste verzichte? Dann konnte er freilich verzweifeln.

      Aber die Firma Simon Silberstein und Bruder teilte dem Buchhalter Gabriel Stieglecker mit, daß sie ihren Betrieb bedeutend erweitert habe und daß sie ihn als ersten Buchhalter mit einem Anfangsgehalt von tausend Kronen zu engagieren wünsche. Gabriel Stieglecker möchte sofort schriftlich mitteilen, ob er diese Stellung anzunehmen »bereit, eventuell in der Lage« wäre.

      Gabriel Stieglecker überzeugte sich zuerst von der Echtheit der Unterschrift und setzte sich sofort an seinen Schreibtisch, um seine Bereitwilligkeit zum Eintritt bei der Firma Simon Silbers tein und Bruder unter den ihm im Schreiben Zahl soundso mitgeteilten Bedingungen kundzugeben. Aber er erinnerte sich, daß er zu Hause keine violette Tinte habe. Mit schwarzer Kaisertinte aber konnte er einen Brief von solch entscheidender Bedeutung natürlich nicht schreiben.

      Während er Polenta mit Sauce aß, kamen ihm Bedenken. Jetzt mußte er natürlich kündigen! Aber wie? Konnte man so ohne weiteres einen Brief an die Firma schreiben? Ging das so? Jetzt war er dreiundzwanzig Jahre im Hause. Noch zwei Jahre, und er würde ein Jubiläum feiern. Der Chef selbst würde kommen und ihm ein Präsent überreichen, vielleicht eine außertourliche Zuwendung, und der Prokurist würde eine kleine Rede halten, und der Oberbuchhalter würde seinen goldenen Zwicker aufhaben. Konnte man so ohne weiteres kündigen?

      Und wenn schon! Die Kündigung

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