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seine Tätigkeit längst vergessen. Er wäre imstande gewesen, einen Mord zu vergessen, jahrelanges Gefängnis und einen Typhus. Dieser seiner Fähigkeit entsprach seine Begabung, die Gegenwart auszunützen. Es war, als hinge die Hurtigkeit, mit der er jede günstige Gelegenheit aus jeder Situation herauszuklauben verstand, unmittelbar mit der Vergeßlichkeit zusammen, ähnlich wie die Eigenschaft einer gesunden Konstitution, sich an winterlichen Frösten wie an sommerlichen Hitzen zu stärken, mit ihrer andern Eigenschaft zusammenhängt, Krankheiten schnell und gründlich zu überstehen. Es wäre unrecht gewesen, Sandor Tekely etwa für »charakterlos« zu halten. Er war vergeßlich – genauso, wie er aufmerksam war. Und wie ein Schmetterling Süßigkeit aus jeder Blume saugt, so konnte Sandor Tekely aus jeder Gesellschaft, in die er geriet, eine Beziehung, eine Verbindung und eine Freundschaft mitnehmen. Er war einer der sichersten Beweise für den Wandel der Gesellschaften, die Unsicherheit der alten Klassen und ihrer neuen Angehörigen, der Schwankungen gesellschaftlicher Werte und die unbegrenzte Ratlosigkeit der neuen Häuser, in denen die Architektur moderne »Empfangsräume« geschaffen hatte. Sorglos und nur auf Beziehungen bedacht, flatterte Tekely von einer Hausfrau zur andern, ohne Unterschiede zu merken, besuchte er die Maskenbälle, die in jenem Jahr den Karneval noch lange überdauerten, stets in der gleichen Tracht eines Rokoko-Prinzen, sonstige Abende im Smoking, mit einer Weste, die ihre eigenen Rockklappen trug, immer mit einem Lächeln, das aus vollen, dunkelroten Lippen und tadellosen, blanken Zähnen gebildet wurde, immer mit der Bereitschaft, jedem zum erstenmal eine Freundlichkeit zu sagen und zum zweitenmal eine Vertraulichkeit.

      Nicht mit Unrecht dachte Paul Bernheim jetzt an Sandor Tekely. Bernheim wußte von Tekelys Gewohnheit: zweimal in der Woche in einem ungarischen Restaurant zu essen, um den Zusammenhang mit dem mütterlichen Boden nicht zu verlieren. Er traf ihn einmal. Tekely war erfreut. Er liebte es, wenn ihn gutgekleidete Männer in diesem Restaurant aufsuchten, in dem er einmal lange auf Kredit gegessen hatte. In diesem Restaurant übertrieb er seine gewohnte Vertraulichkeit. Er vermengte sie mit einer herzlichen Freude, der zu entnehmen sein sollte, daß der Gast eine Persönlichkeit von außergewöhnlicher Bedeutung sei.

      Wo Paul Bernheim (»lieber, lieber Freund«) so lange verborgen gewesen sei?

      Und er selbst?

      Oh, kein Geheimnis! Seine Beschäftigungen zahlreich. Erstens war er an jenem Inseratenunternehmen beteiligt, das die neue Reklameform der Poststempel am Kopf der Zeitungen verbreitet hatte. Zweitens half er in der Propaganda-Abteilung der großen amerikanischen Filmgesellschaft, die seit einem halben Jahr in Deutschland arbeitete. Drittens machte er mit einem Freund zusammen eine Weltkorrespondenz in allen europäischen Sprachen für Tagesneuigkeiten und feuilletonistische Mitteilungen. Viertens besorgte er die Übersetzungsrechte fremder Autoren für Deutschland und deutscher Autoren für das Ausland. Schließlich ließ er sich aktuelle Lustspielstoffe einfallen und verkaufte sie an bekannte Dramatiker. Es winkte außerdem etwas Neues, nämlich die Gründung, die ein Mann namens Nikolai Brandeis plane.

      »Wer? – der Russe Brandeis?« wiederholte Paul.

      »Sie kennen ihn?« rief Tekely und ergriff Bernheims Arm.

      »Sie kennen Brandeis persönlich?«

      »Ja«, sagte Paul, »warum ist das so merkwürdig?«

      »Oh, nicht merkwürdig, aber eine glänzende Beziehung!«

      Und Tekelys vorgetäuschte Wertschätzung verwandelte sich in eine echte Bewunderung. »Brandeis, Brandeis! –« wiederholte er in dem Ton, in dem ein Läufer in antiken Zeiten einen Sieg ausgerufen haben mochte. »Wissen Sie nicht? Brandeis ist der große Mann von morgen. Einer der Männer, die aus dem Osten kommen und hier ihr Glück machen. Seit einem halben Jahr gehören ihm hier zwölf Häuserblocks am Kurfürstendamm. Er fängt an, Stoffläden und Gemischtwarenhandlungen in der ganzen Provinz anzulegen. Man sagt, daß er das Land mit Warenhäusern zu überschwemmen gedenkt. In jeder kleinen Stadt ein Warenhaus. Sein Motto: Für den Mittelstand. Er verbreitet Aufrufe zur Rettung des Mittelstandes, hat eine Bank gegründet und soll eine außergewöhnlich reiche und schöne Frau aus Serbien mitgebracht haben. Sie könnte seine Tochter sein. Man sieht sie beide bei jeder Premiere. Sie soll eine russische Fürstin sein, die nach Belgrad geflüchtet war, mit einem sagenhaften Schmuck. Sie war schon bereit, ihn zu verkaufen, da traf sie Brandeis. Wie lang haben Sie ihn nicht gesehn? Rufen Sie ihn doch an, wenn Sie ihn kennen? Oder warten Sie: Vielleicht ist er morgen bei ›Schwarz und Weiß‹.«

      »Was ist ›Schwarz und Weiß‹?«

      »Der Maskenball des Neuen Hockeyklubs, wissen Sie nicht? Wollen Sie eine Einladung? Hier! Haben Sie eine Feder? Ich will gleich Ihren Namen ausfüllen. Doktor Paul Bernheim, nicht?«

      Es war ein frischer, heiterer Abend, der Himmel hell wie am frühen Morgen und der Mond so nahe und irdisch, daß er wie ein Bruder der großen, silbernen Bogenlampen aussah. Paul segnete diesen Tekely. »So eine Begegnung sollte man ein paarmal in der Woche machen. Dieser Junge weiß alles und beschert Glück. Alles hängt von diesem ›Schwarz und Weiß‹ ab. Ich werde dort etwas Entscheidendes erleben oder nirgends mehr. Auf zu ›Schwarz und Weiß‹. Hockey ist ein sympathischer Sport!«

      Der große Saal des Kasinos, in dem das Fest stattfand, war in ein Labyrinth verwandelt. Unerwartete Winkel zwischen vorgetäuschten Mauern, Logen und Verstecke hatten den Zweck, die Gäste, die sich geheimen Genüssen hingeben wollten, nicht nur unsichtbar zu machen, sondern auch in der ständigen Furcht vor Überraschungen zu erhalten. Denn es gab keine Ecke, die nicht tückisch genug war, abgeschlossen zu scheinen und dennoch einen verborgenen Zugang zu besitzen. Es war die Innenarchitektur eines Sadisten. Paul Bernheim stellte sich endlich in der Nähe des Eingangs auf, um die Ankommenden sehen zu können. Aber Brandeis kam nicht. »Ich habe es mir denken können«, sagte Paul. »Als ob dieser Sandor Tekely mir nicht schon oft falsche Sachen erzählt hätte.« Traurig war er und bitter. In dieser Gesellschaft des Hockeyklubs kannte einer den andern auch in der Verkleidung. Ja, es war anzunehmen, daß jeder vom andern vorher gewußt hatte, in welchem Kostüm sein Bekannter kommen würde. Alle Anwesenden hatten so sehr das Gefühl, zu einer Familie zu gehören, daß sie die paar verlorenen Fremden, die wahrscheinlich alle nur der Tekely mitgebracht hatte, mit dem erstaunten, etwas erzürnten Blick ansahen, den man für Eindringlinge übrig hat. Auf zwei einander gegenüberliegenden Estraden lebten sich die Musiker aus. Sie ließen keine Pause aufkommen. Wenn eine schüchterne Stille aufzublühen begann, nachdem eine Kapelle einen Tango beendet hatte, fiel die andere Kapelle mit einem Jazz über die lautlose Minute her und zermalmte sie zwischen Trommel und Saxophon. Unermüdlich tanzten die Paare. Paul Bernheim sah keine Möglichkeit, in dieser geschlossenen, wenn auch sehr verkleideten Gesellschaft einem entscheidenden Schicksal zu begegnen, wie er es heute noch den ganzen Abend gehofft hatte. Er trug einen dunklen Domino, ein Kostüm, das, wie ihm schien, der Begegnung mit einem entscheidenden Schicksal entsprach. Aber es meldete sich kein Schicksal.

      Sagen wir lieber: Es meldete sich scheinbar kein Schicksal. Denn ein Mädchen in einer Art Haremskostüm, mit goldenen Schuppenbrüsten und einem türkisblauen, breiten Band um die Stirn, in wehenden, weißen Pumphosen und blauen Sandalen mit goldenen Spangen zog Paul Bernheim in einen der Winkel, mit sanfter Gewalt, wie sie Frauen anwenden, die ein ehrsames Leben führen, und die den Eindruck erweckt, daß sie nichts anderes wollten als die Bewegung eines Freudenmädchens aus einer Hafenstadt nachahmen. Es war schon gegen zwei Uhr morgens, und Bernheim hatte nichts mehr Entscheidendes zu erwarten. Also ergab er sich dem wortkargen Genuß, den Körper des Mädchens an sich zu ziehen. Die Frau verlangte zu trinken, und er erhob sich, um ihr ein Glas Champagner zu bringen – denn man verteilte Champagner in Gläsern am Büfett. Er fühlte ihre Bemühungen, die leichte Erregung, in der sie sich bereits befand, noch zu verstärken.

      Wozu war ein Kostümfest gut? Ich langweile mich, dachte sie. Alle kennen mich und wagen nicht einmal einen Scherz. Dieser junge Mann ist fremd. Er ist vielleicht nicht klüger als die anderen, aber er hat den Vorzug, mich nicht zu kennen.

      Sie sagte ihm also kurz entschlossen, daß sie sich langweile. Sie klagte über die scheuen Männer, die sie alle beim Rufnamen und sogar beim Spitznamen kannte. Sie entfachte

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