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Warum hatte er nicht das Stoffgeschäft mit Nikolai Brandeis gemacht? Er wäre heute ein reicher Mann gewesen. So nahe schien der Reichtum zu sein! Zweitausend Dollar waren ihm noch verblieben. Die zweitausend Dollar, die er Brandeis schuldete. Das war gerade genug, um einen Zigarrenhandel anzufangen. Der einzige Beruf, zu dem er Lust und Begabung gezeigt hätte, wäre die Diplomatie gewesen. Er konnte immerhin noch eine Anleihe auf das Haus nehmen. Da aber auf dem Teil des Hauses, der ihm testamentarisch vermacht worden war, drei Hypotheken lasteten, war eine neue Anleihe ohne die Zustimmung seiner Mutter unmöglich. Unmöglich würde seine Mutter zustimmen. Die Firma Bernheim und Compagnie mußte ohnehin bald aufgelöst werden. Frau Bernheim wußte noch nichts davon.

      Manchmal zählte Paul Bernheim sein Vermögen nach, obwohl er es kannte. Aber es schien ihm, daß ein Irrtum möglich war und daß durch irgendein unerwartetes Wunder die wiederholte Addition eine neue Summe ergeben konnte. Wenn er jetzt noch seine Aktien nach dem heutigen Wert verkaufte, so hatte er mit den zweitausend Dollar zusammen kaum mehr als etwa fünfundzwanzigtausend Mark. Mit diesem Geld wäre ein anderer, Nikolai Brandeis, imstande gewesen, innerhalb zweier Jahre eine Million zu verdienen … Paul Bernheim aber gehörte zu den ehrgeizigen Leuten, denen ein geringes Kapital nicht einmal gut genug erscheint, verzehrt zu werden.

      Die Frühlingstage waren klar, der Himmel mit blauer Farbe nachgetüncht, die Straße weiß, mit doppelter Sorgfalt gereinigt, und die Wolken schienen endgültig aus dieser Welt verbannt. Hätte ich noch einen Wagen! dachte Paul. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so schöne Tage erlebt zu haben, in der ganzen Zeit, in der er noch einen Wagen besessen hatte. Er kam sich degradiert vor, wenn er einen Autobus oder die Untergrundbahn bestieg. Er schlief aus Hartnäckigkeit und in einer vagen Hoffnung, daß glückliche Zufälle sich über dem Haupt eines Schläfers zusammenballen können wie Wolken, immer noch täglich bis zum Nachmittag, obwohl die Vernunft gebot, am frühen Vormittag aufzustehen. War er angezogen und in der Straße, so schien der Tag selbst, der sich seinem Ende zuneigte, die Vergeblichkeit jeder Anstrengung zu beweisen.

      Ein paarmal entschloß er sich, am Vormittag Besuche zu machen. Er ging zu den Direktoren großer Verlage. Er hatte sich Vorschläge zurechtgelegt. Er war bereit, sein Vermögen zu übertreiben, von seinen Kreditmöglichkeiten zu sprechen, von seinen Verbindungen in England, an die er selbst allmählich zu glauben anfing. Er ging in eines der großen Häuser nach dem andern. Er saß in den Wartezimmern, in denen die Zeitungen und Zeitschriften des Hauses auflagen, den Wartenden gratis dargeboten wurden, damit sie mit der Gesinnung der Firma vertraut würden, ehe sie zu einer Unterredung mit ihr gelangten. Bequem waren die Wartezimmer, ein wenig überheizt und von Botenmeistern in Livreen auf erhöhten Sitzen überwacht. Die Direktoren befanden sich stets in Konferenzen. Es waren nicht mehr »wichtige« Konferenzen, wie sie früher in der Inflation Paul Bernheim selbst vorgetäuscht hatte, es waren schlichte Konferenzen ohne besondere Eigenschaften und also noch viel wichtiger – den großen Persönlichkeiten vergleichbar die ihren Titel zwar besitzen, aber nicht führen. Er saß und wartete. So ähnlich hatte man einst auf ihn gewartet. Jetzt verstand er, daß die Institution der Wartezimmer das Fegefeuer der kapitalistischen Himmel war. Nichts Grausameres als der Zwang zu einer Geduld, die fortwährend unterbrochen wird von Glockensignalen für die Boten, von der Ankunft neuer Gäste, von der zerstreuten Betrachtung der Zeitschriften, deren Absicht es ist, Trost zu verbreiten, und die dennoch die tiefste Hoffnungslosigkeit erzeugen. Es kam vor, daß Bernheim das Wartezimmer verließ, noch ehe er seinen Besuch gemacht hatte. Und einer Unterredung entronnen zu sein, die ihren Sinn schon im Wartezimmer verloren hatte, verschaffte ihm ein Gefühl der Befreiung, als wäre er aus einem Irrenhaus entlassen worden. Sooft er das Tor verließ, sah er sich um, wie man sich nach einem Hindernis umsieht über das man gestolpert ist.

      Nie mehr gehe ich in dieses Haus!

      Er fuhr wieder zu seiner Mutter.

      Die Frau Militär-Oberrechnungsrat hatte sich so gut eingelebt, als wenn sie im Haus Bernheim zur Welt gekommen wäre. Nun begrüßte sie Paul wie eine Tante. Immer noch ging Frau Bernheim ihrer Mieterin leise nach, um zu kontrollieren, ob ein überflüssiges Licht vergessen worden war, ob ein Schlüssel vom Schrank nicht so lose im Schloß steckte, daß Gefahr für seinen Verlust bestand, ob ein Fenster in der Abendstunde nicht offenblieb, das alle Motten einladen konnte, sich vom Teppich zu nähren, und ob das Waschbecken im Zimmer der Frau Oberrechnungsrat nicht endlich den Sprung bekommen hatte, den Frau Bernheim schon zitternd seit Jahr und Tag erwartete.

      »Wir sind jetzt übereingekommen«, erzählte sie Paul, »das Abonnement für die Zeitung übernimmt die Frau Oberrechnungsrat. Genau heut vor einem Monat hat es in ihr Zimmer geregnet, das Dach war beschädigt. Sie hat behauptet, ich müsse es richten. Aber ich habe ihr klargemacht, daß die Wirtin nicht verantwortlich sein kann für Löcher im Dach. Sie hat es auch eingesehn, das Dach wurde verlötet, aber seit damals regnet es nicht mehr, und ich weiß nicht, ob der Klempner uns nicht beschwindelt hat. Möchtest du nachsehn?«

      Paul stieg aufs Dach, um nachzusehn.

      Von der Höhe übersah er den Garten, der jetzt, da der Frühling begann, noch trauriger war als im Herbst – wie ein ärmlich Gekleideter trauriger ist in der Sonne als im Nebel. Paul sah den leeren Schuppen, in dem keine Wagen mehr standen, die Ställe, in denen die fremden Pferde wieherten, und den alten Hund, der jetzt schmutzig vor seinem Häuschen lag, träge, als wüßte auch er, daß es nichts mehr zu bewachen galt außer dem Koffer mit dem ungültigen Papiergeld der Frau Bernheim.

      Eines Abends legte die Mutter die Zeitung weg – seitdem die Mieterin das Abonnement bezahlte, fühlte sich Frau Bernheim frei von der Verpflichtung, alle Inserate zu lesen – und sagte unvermittelt:

      »Weißt du, Paul, ich lese jetzt in der Zeitung so viele Heiratsanzeigen!«

      »Ja«, sagte Paul gleichgültig, »eine Folge des Krieges.«

      »Die jungen Leute sind gescheit«, fuhr Frau Bernheim fort, »sie heiraten schnell, das ist gesund und garantiert ein langes Leben.«

      Sie schwieg und erwartete eine Äußerung von ihrem Sohn. Aber Paul schien nachzudenken, er hörte die Uhr ticken, die einzige, die noch in diesem Hause ging, und den zarten Wind, der in dem vorjährigen, liegengebliebenen Laub des Gartens raschelte. Frau Bernheim ergriff das Lorgnon, und erst das Geräusch, mit dem es aufklappte, rief Paul wieder in diese Stunde.

      Frau Bernheim sah ein paar Minuten lang durch das Lorgnon auf Paul. Er wußte, daß es die Vorbereitung seiner Mutter zu einem »ernsten Thema« war, und wartete.

      »Nun bist du dreißig Jahre alt, Paul«, sagte Frau Bernheim. Die Erwähnung seiner dreißig Jahre berührte ihn schmerzlich, als wären sie ein körperliches Gebrechen. Da waren nun freilich diese dreißig Jahre, und er hatte es zu nichts gebracht. Es war, als wenn sich die drei Jahrzehnte, Jahr für Jahr, Monat für Monat, Tag für Tag, neben ihm aufgehäuft hätten, ein Berg aus Zeit, und er selbst wäre tatenlos, klein und ohne Alter danebengestanden.

      »Hast du nie ans Heiraten gedacht?« fragte die Mutter, etwas strenge, das Lorgnon immer noch vor den Augen.

      »Wo gibt es Frauen?« sagte Paul.

      »Es gibt genug Frauen, mein Kind – du sollst dich umsehn!«

      Sie nahm das Lorgnon wieder ab und ließ es an die Hüfte gleiten, wie man ein Schwert in die Scheide steckt.

      Es war keine Rede mehr vom Heiraten. Immerhin, im Zug nach Berlin dachte Paul an den Vorschlag seiner Mutter. Ja, es war vielleicht Zeit zu heiraten. Ja, es war ziemlich einfach zu heiraten. Vorsicht und schneller Entschluß waren die wichtigsten Vorbedingungen. Eine Heirat war ein Weg zur Größe. Er wollte anfangen, Gesellschaften aufzusuchen.

      Er kannte aus seiner früheren Zeit, aus seiner Gönnerzeit, einen jungen Mann aus Temesvar, der sich für einen Budapester ausgab und Sandor Tekely hieß. Als Journalist und Zeichner war er nach Berlin gekommen. Er hätte ebensogut als Herrenreiter, Schwarzkünstler und politischer Agent kommen können: Das Schicksal, das mit einer gewissen Holdseligkeit über manchen jungen Leuten aus Temesvar wacht, führte Sandor Tekely zuerst in die Spielklubs, dann in die Kabaretts, hierauf in die Theater, nach zwei Jahren zum Film und schließlich wieder zurück zur

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