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rief Arnold. Im nächsten Augenblick stand er schon verborgen in einem Haustor.

      Ich zog ihn wieder heraus, wie aus einer Schublade.

      »Warum hast du dich versteckt?«

      »Ich weiß nicht.«

      Wir aßen schweigend. Nach dem Essen sagte Arnold: »Heute gehe ich wieder ins Amt. Am Abend komme ich ins Kaffeehaus.«

      Ich erwartete ihn am Abend. Er kam nicht.

      Man fragte nicht mehr so dringend nach ihm. Man schien sich zu gewöhnen. Die Spieler blieben wieder länger an ihren Tischen. Die Sprecher begannen wieder, ihre Vorträge zu halten. Irgendein leerer, aber unbestimmter Platz füllte sich wieder. Ein Loch, das Arnold gelassen hatte, verschwand in der immer dichteren, schöpferischen, sich selbst nachzeugenden Atmosphäre.

      Plötzlich erschien Arnold. Es war gegen Mitternacht. Man rüstete schon zum Aufbruch. Ein paar Tische lagen schon im Schatten. Die flackernden Karbidlampen blies man nicht mehr aus. Es waren so wenig Menschen da, daß der Eintritt Arnolds ein dreifach starkes Aufsehen hervorrief.

      Man rückte die Stühle weg. Alle umringten ihn. Es war, als wenn er von einer langen Reise zurückgekommen oder von einer langen schweren Krankheit aufgestanden wäre. Die Kellner standen im Hintergrund, schon bereit, Arnold zu beglückwünschen, nachdem er mit seinen Freunden fertig geworden war.

      Diese Begrüßung freute Arnold, wie jedes Ereignis, das ihm bewies, daß er für jemanden einen Wert hatte, und sei es auch nur den Wert eines Zuschauers. Er, der immer am Rande stand, befand sich für einige Minuten in der Mitte. Jener Teil seiner Persönlichkeit, der das Schauspielerische, das nie entladene, schlummernde, leidende Schauspielerische enthielt, wurde geweckt und aktiv. Fünf Minuten lang stand Arnold auf der Bühne. Er spielte und verbeugte sich gleichzeitig. Nichts rührte mich so sehr wie dieser kurze Auftritt, der die entscheidenden Momente einer ganzen Rolle und eines ganzen Abends enthielt.

      Die Stammgäste begrüßten ihn so herzlich, nicht etwa, weil sie sich über seine Wiederkunft aufrichtig freuten, sondern weil seine Heimkehr ein Ereignis war. Ihr Leben war arm an Ereignissen. Die Stammgäste saßen im Kaffeehaus wie Belagerte in einer Festung. Nichts aus der Welt gelangte zu ihnen, keiner von ihnen erreichte die Welt. Sie hätten sich ebenso gefreut, wenn sie in diesem Augenblick nicht Arnold wiedergesehen, sondern wenn sie etwa erfahren hätten, daß er Selbstmord begangen habe. Sie mochten ahnen, daß etwas Wichtiges, etwas Geheimnisvolles in sein Leben getreten sei. Denn sie hatten es noch niemals gesehen, daß jemand aus einem gleichgültigen Grund länger als eine Woche aus dem Kaffeehaus weggeblieben wäre.

      Es war wirklich eine wichtige Veränderung mit Arnold vorgegangen: er hatte Fräulein Erna Wilder getroffen.

      Natürlich erzählte er das nicht bei Licht. Arnold Zipper sprach von ihr – und überhaupt, wenn er ein Geständnis abzulegen hatte – nur in der Nacht, wenn wir nach Hause gingen. Er erzählte nicht die ganze Wahrheit. Er sagte nur, nachdem wir eine halbe Stunde schweigsam nebeneinander gegangen waren, und während ich fühlte, wie er nach einem passenden Anfang suchte – er sagte nur:

      »Ich habe Erna Wilder getroffen.«

      Getroffen war ein falsches Wort. Arnold hatte sie aufgesucht, wie ich später erfahren sollte. Da sie die Wohnung ihrer Eltern vor einem Jahr verlassen hatte, mußte sich Arnold in der Schauspielschule erkundigen. Man gab ihm nicht ihre Adresse. Er wartete also vor der Schule, wie ein verliebter junger Mann es tut. Er sah sie herauskommen. Er ging ihr nach, bis sie ihr Haustor erreicht hatte und von ihrer Begleitung Abschied nahm. Bevor sie die Treppe hinaufstieg, grüßte Zipper und fragte, wie es ihr gehe.

      Das alles erfuhr ich aber erst später. Vorläufig begnügte sich Arnold mit der Mitteilung, daß Erna ein »netter, sympathischer Mensch« geworden sei. Sie hätte sich stark verändert seit dem Sommer im schlesischen Kurort. Das sei schließlich kein Wunder.

      Auf solche allgemeine Mitteilungen beschränkte sich Arnold.

      Ich fragte ihn nur, ob er jetzt wieder ins Amt gehe. Er sagte, daß er seit drei Tagen wieder arbeite, daß er aber noch keineswegs entschlossen sei, dort zu bleiben, Staatsbeamter zu sein und auf »die Welt« zu verzichten.

      Immerhin schien es mir, daß Arnold, ob er im Amt blieb oder nicht, verliebt sei. Das heißt: daß er sich in einem Zustande befinde, den man seit Jahr und Tag Verliebtheit nennt.

      Er war es zum ersten Male in seinem Leben. Ich wunderte mich darüber, weil er keine Veranlagung hatte, sich zu verlieben. Er brachte sozusagen in die Liebe nicht die geringste Voraussetzung mit. Wenn sein Verstand nicht besonders scharf und auf der Hut war, so war sein Temperament doch nicht stark genug, ihn zu betäuben. Wenn Arnold auch sentimental von Natur war, so besaß er doch Geschmack genug, die Sentimentalität zu bekämpfen. Wenn er auch empfindlich und imstande war, einem fremden Einfluß, einem Reiz, einer Stimmung zu unterliegen, so war er doch den Frauen im allgemeinen gegenüber zu gleichgültig, als daß es möglich gewesen wäre, daß er einer verfiele. Ich hatte schon längst beobachtet, daß Arnold einer der wenigen Männer war, die in der Gesellschaft von Frauen ihre Haltung nicht veränderten. Die Spieler interessierten ihn mehr. Die Frauen machten gerade noch so viel Eindruck auf ihn, daß er feststellen konnte, sie gehörten nicht zum männlichen Geschlecht. Damit war alles für ihn erledigt. Er glaubte zu wenig an sich, um eitel zu sein wie alle andern Männer. Denn auch um sich zu verlieben, muß man ein wenig eingebildet sein.

      Ich kam schließlich zu dem Ergebnis, daß Arnold sich aus Verzweiflung verliebt hatte, ähnlich wie einer, dessen Natur sich gegen den Alkohol sträubt, aus Verzweiflung ein Trinker wird. Um aus der monotonen Tragik, in der er lebte – aus der er beinahe bestand –, in eine bewegtere zu gelangen, mußte er nach einem altbewährten dramatischen Mittel suchen. Wahrscheinlich war er sich nicht darüber klar, während er es tat. (Aber auch, wenn man selbst die Gründe seiner Tat nicht kennt, so sind sie doch ihre Gründe.) Arnold hatte nichts anderes getan, als was ich ihm vor einigen Wochen gesagt hatte. Unfähig, wie er war, eine Frau zu finden, kam er auf den bequemen Ausweg, sich an eine zu erinnern, die er vor zwölf Jahren gefunden hatte. Zu gleichgültig, vielleicht auch zu faul, um eine zu wählen, kehrte er zu einer zurück, von der er glaubte, sie wäre ihm schon bekannt genug und ersparte ihm die Arbeit einer Wahl. Zu schwach, eine neue zu erleben, weckte er eine alte wieder auf. Es war sein Schicksal, kein Zweifel. Sah er sich schon einmal gezwungen, aus dem törichten Gleichmut in eine Leidenschaft zu fliehen, so suchte er nach der bequemsten aller Leidenschaften: derjenigen, in der man schon heimisch ist. Nachdem ich diese Erklärung aufgestellt hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als Erna kennenzulernen.

      Er brachte sie in eine kleine Gesellschaft von Literaten. Sie war zu klug, um selbst etwas Gescheites zu sagen – was sie bestimmt gekonnt hätte –, deshalb schwieg sie. Aber zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um andern zuzuhören, und in der Angst, zu verraten, daß sie nur an sich denke, spielte sie eine meisterhafte stumme Szene, während der jeder Zuschauer geschworen hätte, daß ihr unermüdliches, nervöses Gehirn an den Sätzen arbeite, die gesprochen wurden. Ich erinnerte mich an ähnliche Szenen, die ich selbst gespielt hatte, in der Schule, wo mir daran gelegen war, die Achtung des erklärenden Lehrers zu gewinnen, zugleich aber keine Zeit für das Zuhören zu verschwenden. Ich mußte an wichtigere Dinge denken, nämlich an diejenigen, die mich selbst angingen. Zu der Meisterschaft, die Fräulein Erna besaß, hatte ich es freilich nie gebracht. Denn sie konnte nicht nur sich selbst hingegeben sein, während es so aussah, als wäre sie dem Gespräch hingegeben! Nein! In einem ganz bestimmten Augenblick, in dem sie fühlte, daß sie nicht länger schweigen dürfe, um nicht erkannt zu werden, gelang es ihr, dem Gespräch durch einen einzigen Satz eine neue Wendung zu geben. Jetzt hatte sie es dazu gebracht, daß alle eine Viertelstunde die Frage diskutierten, die sie aufgeworfen hatte. Eine kostbare Viertelstunde für sie: denn eine Viertelstunde, in der sie wieder an sich denken konnte.

      Es waren einige Männer am Tisch, die sie eben kennengelernt hatte. Nach einer geraumen Zeit, als wir müde von den fruchtlosen und anstrengenden Gesprächen, die uns Fräulein Erna aufgegeben hatte, anfingen, Scherze zu machen und menschlich

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