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zu verpassen, hielt sich in letzter Sekunde zurück, als der Magier mit öliger Stimme verkündete, sie sei immerhin die Frau des Mannes, welcher dereinst sein magisches Erbe antreten werde. Daher wäre es nun an der Zeit, mit dem Ritual zu beginnen. Der Meister reichte dem Paar ein »Manifest« und bat darum, es laut und deutlich vorzulesen.

      »Im festen Willen, der Abtei Thelema treu zu sein, schwöre ich, dass ich jegliche Gefolgschaft zu allen Göttern und Menschen aufgebe, ablehne und verdamme, indem ich anerkenne als einziges Gesetz das Gesetz Thelema. Desgleichen schwöre ich, dass ich fraglos und unwiderruflich die Lebensbedingungen in der Abtei Thelema anerkenne und ihre Riten und Gebräuche aufrechterhalte und mich der Autorität der Frau in Scharlach und ihres Herrn, des Tiers 666, unterwerfe. Möge meine Hand dies bezeugen!«, sprachen Betty und Raoul im Chor und hoben die rechte Hand zum Schwur.

      Wenngleich es Betty in Anbetracht der mangelhaften Hygiene, die den Alltag der Abtei prägte, und der Exaltiertheit ihrer Bewohner beileibe nicht leichtfiel, passte sie sich doch in den folgenden Wochen und Monaten, so gut es ging, den Gegebenheiten an und arrangierte sich mit ihnen. Crowley, der sich als Verkünder und Prophet einer neuen Weltreligion sah, machte Raoul als seinen magischen Erben, aber auch Betty und all die anderen Aspiranten, überwiegend Künstler und Exzentriker aus England und Amerika, die sich in der Abtei die Klinke in die Hand drückten, mit der thelemitischen Ethik bekannt, welche jegliche Demokratie ebenso wie den Durchschnittsmenschen zutiefst verabscheute. »Thelema – der reine Wille« verachtete das Mitleid, verherrlichte den Krieg und strebte nach einem Herrenmenschentum.

      »Tretet nieder die Jämmerlichen und die Schwachen: Dies ist das Gesetz der Starken, dies ist unser Gesetz und die Freude der Welt!«, skandierte Meister Therion vor seinen Getreuen, die seine Lehre in einer Lautstärke wiederholen mussten, dass die Wände bebten. »Mitleid und humanitäre Gesinnung sind die Syphilis des Geistes!«, eiferte er und richtete einen glühenden Appell an seine Jünger, diese Eigenschaften radikal auszuschalten.

      Außerdem zelebrierte er mit seinen Konkubinen und Adepten – zu denen Betty gottlob nicht gehörte – sexualmagische Rituale. Den durchdringenden Schreien nach, die gellend durchs Haus hallten und einheimische Bauern und Hirten, die sich in der Gegend aufhielten, das Fürchten lehrten, musste es sich um harte sadomasochistische Praktiken handeln, die kaum jemand dauerhaft ertragen konnte. Dieser Aspekt sowie der exzessive Drogenkonsum waren wohl auch die Hauptgründe, warum Crowleys ehedem so begeisterte Anhänger nach geraumer Zeit wieder das Weite suchten – die Fluktuation in der Abtei war erheblich. Lediglich die frühere Lehrerin Alostrael, Crowleys Frau in Scharlach, die zweite Konkubine Ninette, eine ehemalige Erzieherin, und Raoul, der ausdauernder und zäher war, als Betty gedacht hatte und es seine fragile Konstitution vermuten ließ, hielten dem Meister unverbrüchlich die Treue.

      Unter den Thelemiten waren Zeitungen verboten. Jeder hatte ein magisches Tagebuch zu führen, das dem Meister vorzulegen war. Crowley sah das Ich und das Bewusstsein als hinderlich an, daher wurde in der Abtei eine Übung praktiziert, bei der es nur ihm erlaubt war, das Wort »ich« zu gebrauchen. Das gemeine Volk indessen durfte nur »man« sagen; wer diese Regel brach, musste sich mit einem Rasiermesser in den Arm schneiden.

      Da Crowley der Meinung war, Betty sei noch meilenweit davon entfernt, seine Adeptin zu werden und müsse erst einmal damit anfangen, in sich eine umfassende Spiritualität zu entwickeln, blieb sie innerhalb der thelemitischen Gemeinschaft außen vor, was ihr jedoch überaus recht war. Im Stillen konnte sie nur den Kopf darüber schütteln, was sich Crowleys Jünger, allesamt intelligente, vielfach sogar studierte Leute, von dem Mann mit dem fetten, femininen Gesicht und den starren, kalten Augen alles gefallen ließen. So pflegte er sich und seine Adepten mit einer vorgeblich aphrodisierenden Salbe aus Ziegenkot einzureiben, um die sexuelle Anziehungskraft zu steigern. Außerdem feilte er sich die beiden Eckzähne spitz, um seinen Auserkorenen den »Schlangenkuss« zu geben, indem er sie ins Handgelenk biss. War Crowley in Bettys Augen, die schon in mancherlei Abgründe geblickt hatten, ein aufgeblasener Wichtigtuer, nicht selten auch eine bösartige Witzfigur, der es Freude bereitete, andere zu quälen und zu demütigen, so stellte er für Raoul und die anderen Verblendeten den ehrfurchtsgebietenden Magier dar, dem sie sich blind unterwarfen.

      Nach ihrem ersten Zusammenstoß bei der Ankunft vermied es Betty, ihm weiterhin eine Angriffsfläche zu bieten, und ging Konflikten möglichst aus dem Weg. In der Abtei herrschte ohnehin schon genug dicke Luft. Die erste und die zweite Konkubine, Alostrael und Ninette, hassten sich wie die Pest und stritten sich bei jeder Gelegenheit, wobei nicht selten die Fetzen flogen. Den beiden Jungen Hansi und Howard, für die es weder Regeln noch Verbote gab, bereitete es ein diebisches Vergnügen, den Erwachsenen auf die Nerven zu gehen oder sie zu drangsalieren – erst recht, da sie wussten, dass es keiner der Geplagten jemals wagen würde, die Hand gegen sie zu erheben. Auch unter den restlichen Thelemiten herrschten Neid und Missgunst vor – beim Buhlen um die Gunst des Meisters, der Auslegung der thelemitischen Gesetze oder einfach, weil man einander nicht sonderlich gewogen war.

      Crowley betraute Betty mit Hausarbeiten, die in der Abtei von Thelema ohnehin Frauensache waren. So war sie einmal in der Woche für den Einkauf zuständig, wofür sie sich sogar freiwillig gemeldet hatte. Dadurch entkam sie dem Tollhaus wenigstens für einen halben Tag, konnte durch das malerische Städtchen Cefalù flanieren und sich etwas Gutes gönnen. Neben den Einkäufen für die Gemeinschaft erledigte sie auch eigene Besorgungen, wie beispielsweise den Cognac, von dem sie sich täglich eine Flasche genehmigte, seitdem sie keine Drogen mehr nahm. Ermöglicht wurde ihr dieser Luxus durch die regelmäßigen Geldanweisungen, die ihr der Sunday Express für ihre wöchentlichen Berichte zukommen ließ, welche sie für das Skandalblatt verfasste. In den schillerndsten – oder besser gesagt: düstersten – Farben erzählte sie von abscheulichen schwarzen Messen und abstoßenden Sexorgien, die Crowley und seine Jünger in der Abtei von Thelema abhielten. Zu behaupten, der Magier würde in ihren Schilderungen in schlechtem Licht erscheinen, war noch deutlich untertrieben. Ihre Artikel schickte sie als Express-Sendungen an die Redaktion und ließ sich ihre Vergütung im Gegenzug im lokalen Postamt auszahlen.

      Da Zeitungen in der Abtei verboten waren, hatte Crowley von der Schlamm-Schlacht gegen ihn, die der Sunday Express in England entfesselte, nicht die leiseste Ahnung – und Betty nicht den Funken eines schlechten Gewissens. Ganz im Gegenteil: Wenn sie sah, wie das Tier 666 in der Abtei feist auf dem Sofa thronte, sein Opiumpfeifchen schmauchte und der eifrig tippenden Alostrael seine Lebenserinnerungen diktierte, erfüllte sie ihr Wissen mit einer grimmigen Genugtuung.

      Am Sonntag, den 11. Februar 1923, ging es Raoul, der von Crowley in den Rang eines Hohepriesters berufen worden war, so schlecht, dass Betty hinunter nach Cefalù eilte, um den Landarzt Doktor Maggio, der Raoul in letzter Zeit schon häufiger behandelt hatte, zu verständigen.

      »Sie haben ja selbst gesehen, wie schlimm seine Arme aussehen«, sagte sie atemlos, als sie gemeinsam mit dem Arzt den steilen Weg zur Abtei hinaufstieg. »Der ständige Blutverlust ruiniert seinen ohnehin schon geschwächten Körper, ganz zu schweigen von der dürftigen Ernährung und den vielen Drogen, mit denen er sich zugrunde richtet. Und da ist noch etwas …« Sie stockte und musterte den Doktor vorsichtig. »In der Abtei gab es eine Katze und seit einiger Zeit ist sie nicht mehr da«, fuhr sie schließlich fort und barg vor Entsetzen ihr Gesicht in den Händen. »Sie haben sie geopfert und ihr Blut getrunken, diese kranken Schweine! Dadurch ist Raoul vergiftet worden.«

      »Sind Sie sicher?« Doktor Maggio blickte skeptisch. »Das ist ja abscheulich! Können Sie den jungen Mann denn nicht dazu bewegen, mit Ihnen gemeinsam nach England zurückzukehren?«

      Betty seufzte bekümmert. »Das versuche ich ja bereits seit einem Vierteljahr, doch er will einfach nichts davon hören. Schon in London habe ich ihn angefleht, nicht zu Crowleys Abtei zu fahren und stattdessen wieder sein Geschichtsstudium in Oxford aufzunehmen, zumal er so blitzgescheit ist. Doch er ließ nicht mit sich reden und war von der Idee, Crowleys Adept zu werden, wie besessen. Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich sagen, dieser Satan hat ihn verhext, aber ich glaube nicht an so einen Schei…, äh, Unsinn.«

      »Ein Mann wie Aleister Crowley ist durchaus in der Lage, leicht beeinflussbare Menschen zu manipulieren. Insbesondere solche, die einen Meister suchen, und das scheint mir bei Signore Loveday der Fall zu sein. Wenn er so weitermacht,

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