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die kleine zusammengekauerte Gestalt an der Haustür lehnen.

      »Rudi!« stieß er erschrocken hervor und war im nächsten Moment bei ihm.

      Langsam hob der Junge den Kopf.

      »Gerrit.«

      Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern.

      Kurzerhand nahm Dr. Scheibler den Jungen auf die Arme, trug ihn zu seinem Auto und legte ihn auf die Rückbank, um ihn sofort in die Klinik zu bringen. Rudi ließ es widerstandslos geschehen. Anscheinend war er zu keiner Bewegung mehr fähig. Er mußte bereits völlig durchgefroren sein.

      Kaum fünf Minuten später erreichte Dr. Scheibler die Waldsee-Klinik und brachte Rudi sofort auf die Station und in ein freies Zimmer. Hier zog er ihm vorsichtig die nasse Kleidung aus und wickelte ihn in eine warme Decke. Erst in diesem Moment fielen Dr. Scheibler die Schrammen im Gesicht und das leicht geschwollene, bläulich verfärbte linke Auge des Jungen auf. Unwillig runzelte er die Stirn. Was war da passiert? Es war offensichtlich, daß Rudi geschlagen worden war, und ebenso klar war für Dr. Scheibler, daß er die ganze Nacht im Freien zugebracht haben mußte.

      Ohne lange zu überlegen ging er ins Ärztezimmer, trat ans Telefon und rief bei den Gerlachs an.

      Nach mehrmaligem Klingeln meldete sich Kurt mit verschlafener Stimme.

      »Scheibler«, gab sich Gerrit knapp zu erkennen. »Rudi ist bei mir.«

      »Das haben wir uns schon gedacht«, entgegnete Kurt lakonisch. »Er ist uns am frühen Nachmittag weggelaufen.«

      »Nachdem er offensichtlich geschlagen worden war.«

      »Aber nicht von uns«, verwahrte sich Kurt. »Rudi hatte eine Prügelei mit einem Klassenkameraden. Er kam völlig verdreckt nach Hause, und Christa muß ein wenig heftig reagiert haben. Jedenfalls stürmte der Junge dann wie ein Wilder davon, und wir gingen davon aus, daß er sich zu Ihnen geflüchtet hat. Da Sie ja sowieso das Wochenende mit ihm verbringen wollten, ließen wir es gleich dabei bewenden.«

      »Das sollten Sie beim nächsten Mal lieber nicht tun«, erklärte Dr. Scheibler und hatte Mühe, seinen Zorn zu unterdrücken. Wie verantwortungslos würden die Gerlachs eigentlich noch handeln? »Zum einen ist die Strecke von München nach Steinhausen nicht gerade ein Katzensprung, wenn ein Kind sie zu Fuß bewältigen will. Außerdem wissen Sie ganz genau, daß ich Arzt bin und gelegentlich Nachtdienst habe. Ich bin vor einer Viertelstunde aus der Klinik gekommen und habe Rudi vor der Haustür gefunden – naß bis auf die Haut und entsprechend unterkühlt. In Zukunft, Herr Gerlach, versichern Sie sich bitte, ob meine Frau oder ich zu Hause sind, wenn Rudi wieder einmal vor einer Überreaktion Ihrer Gattin davonläuft. Ansonsten könnte es nämlich passieren, daß ich Sie doch noch wegen Unterlassung der Aufsichtspflicht anzeige.«

      »Was erlauben Sie sich!« brauste Kurt auf. »Ich werde…«

      Dr. Scheibler hörte gar nicht mehr hin, sondern legte einfach auf, dann kehrte er zu Rudi zurück. Der Junge war inzwischen eingeschlafen, und seine Wangen hatten sich unnatürlich rot verfärbt. Liebevoll streichelte Gerrit über die dichten Locken des Jungen, dann drehte er ihn behutsam auf die Seite, befreite seinen Unterkörper von der Decke und kontrollierte vorsichtig seine Temperatur. Das Ergebnis beunruhigte ihn sehr. Rudi hatte beängstigend hohes Fieber, und Dr. Scheibler ahnte bereits, woran das lag.

      Als er Herz und Lunge des Jungen abhörte, bestätigte sich sein Verdacht. Die Lungengeräusche ließen auf eine beginnende Entzündung schließen. In diesem Moment öffnete Rudi langsam die Augen.

      »Gerrit«, murmelte er schwach. »Wo warst du denn so lange?«

      Dr. Scheibler setzte sich zu ihm ans Bett und streichelte sein heißes Gesichtchen.

      »Ich hatte Nachtdienst«, erklärte er. »Rudi, so etwas darfst du nie wieder tun. Wenn du zu mir kommen willst, dann mußt du vorher anrufen und dich vergewissern, daß Steffi oder ich zu Hause sind. Allein auf dem Weg von München bis hierher hätte dir schon allerhand passieren können, und dann auch noch bei diesem Wetter – Rudi, du hättest dir da draußen den Tod holen können.«

      »Nicht schimpfen, Gerrit, bitte nicht schimpfen«, flüsterte Rudi, und dabei füllten sich seine Augen mit Tränen.

      »Ich schimpfe ja nicht.« Liebevoll streichelte Dr. Scheibler über Rudis Haare. »Ich mache mir doch nur Sorgen um dich.«

      »Bin ich denn so krank?«

      Dr. Scheibler nickte. »Ja, mein Junge, ich fürchte schon.«

      Rudi schob die Decke zurück und legte eine Hand auf seine Brust. »Hier tut’s furchtbar weh, Gerrit.«

      »Ich weiß, mein Kleiner.« Er deckte den Jungen wieder zu. »Du mußt für ein paar Tage Penicillin-Spritzen bekommen. Das ist nicht sehr angenehm, aber es muß sein, Rudi. Ich werde auch…«

      »Na endlich!«

      Kurt Gerlachs Stimme unterbrach Dr. Scheibler.

      »Sie hätten mir am Telefon wenigstens mitteilen können, wo Sie den Jungen hingebracht haben«, fuhr er mit vorwurfsvoller Stimme fort. »In mühsamer Kleinarbeit mußte ich das erst noch herausfinden. Ich fürchte, Herr Dr. Scheibler, damit haben Sie Ihre Kompetenzen bei weitem überschritten. Immerhin haben meine Frau und ich noch immer das Sorgerecht für Rudi.«

      Dr. Scheibler wußte, daß dieser harte Ton mit seinem nicht gerade diplomatisch geführten Telefongespräch von vorhin zusammenhing. Aber er hatte allen Grund gehabt, entsprechend ungehalten zu reagieren.

      »Wie soll ich das verstehen, Herr Gerlach?« fragte er jetzt und schaffte es dabei noch immer nicht, den etwas aggressiven Unterton aus seiner Stimme zu verbannen. »Wollen Sie Rudi vielleicht in diesem Zustand nach Hause holen? Das kann ich als Arzt nicht verantworten.«

      »Im Grunde ist es mir völlig gleichgültig, was Sie verantworten können und was nicht«, entgegnete Kurt äußerst arrogant. »Aber soweit ich es sehe, scheint Rudi wohl wirklich ein wenig krank zu sein.« Er bedachte Dr. Scheibler mit einem eisigen Blick. »Eine Behandlung durch Sie lehne ich allerdings entschieden ab. Ich verlange einen Kinderarzt. Über so etwas wird diese Klinik ja wohl verfügen.«

      »Was ist hier los?«

      Dr. Scheibler atmete unmerklich auf, als hinter ihm so unerwartet Dr. Daniels Stimme erklang. Jetzt wandte er sich um und bedachte Dr. Daniel mit einem eindringlichen Blick.

      »Herr Direktor, gut daß Sie hier sind«, erklärte er, und seine Förmlichkeit machte Dr. Daniel sofort stutzig. Normalerweise sprachen sie sich ja beim Vornamen an. »Das ist Herr Gerlach.«

      Noch immer begriff Dr. Daniel nicht so ganz, worum es hier eigentlich ging. Sicher war ihm der Name Gerlach ein Begriff; er kannte ja auch den kleinen Rudi. Aber ihm war nicht klar, was Gerrit mit seiner förmlichen Ansprache bezwecken wollte. Trotzdem ging Dr. Daniel vorsichtshalber darauf ein. Er begrüßte Kurt, dann sah er Gerrit an.

      »Gibt es irgendwelche Probleme, Herr Dr. Scheibler?« erkundigte er sich.

      »Und ob es die gibt«, mischte sich Kurt ein. »Mein Neffe ist krank, und ich verlange einen Kinderarzt.«

      Dr. Daniel wandte sich ihm zu. »Ich kann Ihnen versichern, daß Ihr Neffe bei Dr. Scheibler medizinisch in den allerbesten Händen ist.«

      »Das ist mir egal«, entgegnete Kurt mit schroffer Stimme. »Ich will den Kontakt zwischen meinem Neffen und diesem Herrn ein für allemal unterbinden, weil ich der Ansicht bin, daß sein Einfluß auf Rudi nur negativ sein kann.« Mit beinahe drohendem Blick sah er Dr. Daniel an. »Wenn Sie nicht umgehend einen Kinderarzt hinzuziehen können, dann lasse ich Rudi in eine andere Klinik bringen.«

      »Das wäre unverantwortlich!« brauste Dr. Scheibler auf. »Rudi hat hohes Fieber und…«

      Mit einem kurzen, eindringlichen Blick bedeutete Dr. Daniel ihm zu schweigen, dann sah er Kurt wieder an. »Ich werde Dr. Bürgel anrufen. Er arbeitet als niedergelassener Kinderarzt in der Kreisstadt, kümmert sich aber auch um entsprechende Fälle hier in der Waldsee-Klinik.«

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