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Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter
Читать онлайн.Название Gabriele Reuter – Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962814076
Автор произведения Gabriele Reuter
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
Es war in diesem Winter die Mode, kleine ovale Kränze zu tragen. Eugenie hatte auch diesen Schmuck verschmäht. Ihr Haar war nicht einmal sehr kunstvoll geordnet, der seine blonde Kopf mit den scharfblickenden grauen Augen und den am Tage etwas hartroten Farben war in einen Puderschleier gehüllt, der ihm ein verwischtes, saniertes Aussehen gab. Aber von den köstlich geformten Schultern und Armen schien förmlich ein Glanz, ein sanftes weißes Licht auszustrahlen. Um den Hals war statt einer goldenen Kette ein Streifchen farblosen Illusionstülls gewickelt und neben dem Ohr zu einer kindischen Schleife geknüpft. Eine Laune … Agathe wusste, dass ihre Freundin an der Stelle unter dem Ohr eine hässliche Narbe besaß.
»Die versteht’s … Na, Kinder – alle Achtung! Die versteht’s!« sagte Onkel Gustav mit ehrfurchtsvollem Ausdruck. Er galt in der Stadt für den feinsten Kenner weiblicher Schönheit. Seine geschiedene Gemahlin sollte eine bezaubernde Frau – ein wahrer Dämon an Reiz gewesen sein, erzählte man sich.
Als Agathe die Fülle eleganter Erscheinungen sah, verlor sie plötzlich jede Hoffnung auf Erfolg. Sie wurde unsicher, wusste nicht, wie sie stehen, wie sie die Hände halten, wohin sie blicken sollte. Ihre Mutter kam zu ihr heran und nahm ihr den schwanbesetzten Kragen ab, den sie in ihrer Verwirrung umbehalten hatte. Die Regierungsrätin flüsterte ihr zu, nicht so ein ernsthaftes Gesicht zu machen, sonst würde kein Herr sie zum Tanz auffordern.
Gott! Das wäre entsetzlich! Agathe begann eine Angst zu fühlen, wie sie bisher in ihrem jungen Leben noch nicht gekannt hatte. Getrieben von dieser Angst, deren sie sich doch schämte, drückte sie sich hinter ihre Freundinnen und flüchtete in eine Ecke des Saales.
Es wäre ja eine solche Schande gewesen, auf ihrem ersten Balle sitzen zu bleiben! Sie bereute, Martins Anerbieten, den Eröffnungs-Walzer mit ihr zu tanzen, nicht angenommen zu haben. Heute Morgen kam ihr das wie ein armseliger Notbehelf vor – jetzt wäre sie glücklich über den Notbehelf gewesen. Sie sah Eugenie in der vordersten Reihe umringt von fünf bis sechs Herren, die ihre Tanzkarte von Hand zu Hand gehen ließen und eifrig darüber beratschlagten. Und zu ihr war immer noch niemand gekommen …
Neben ihr stand ein hässliches ältliches Geschöpf, mit sanften ergebenen Augen, das tröstend zu ihr sagte: »Es sind immer so viel mehr Damen als Herren da.« Große Gruppen von jungen Männern sprachen unbefangen miteinander, es fiel ihnen gar nicht ein, dass man von ihnen erwartete, sie sollten tanzen.
Ein kahlköpfiger Assessor, der für sehr gescheut und liebenswürdig galt, streifte langsam an den Damenreihen vorüber. Er sah durch seinen Klemmer jede Einzelne an, vom Stirnlöckchen bis herunter auf die weißen Atlasschuhe prüften seine Blicke. Er kam auch zu den Schüchternen im Hintergrunde. Agathe, deren Vater er kannte, wurde von ihm gegrüßt. Er blieb eine Sekunde vor ihr stehen. Sie hielt die Tanzkarte in den zitternden Fingern und machte eine unwillkürliche Bewegung, sie ihm zu reichen.
»Wollen gnädiges Fräulein nicht tanzen, dass Sie sich so zurückgezogen haben?« fragte er und schlenderte weiter.
Agathe biss die Zähne in die Lippe. Etwas Abscheuliches quoll in ihr auf: ein Hass – eine Bitterkeit – ein Schmerz … Sie hätte mögen zu ihrer Mutter stürzen und schreien: Warum hast Du mich hierhergebracht? Warum hast Du mir das angetan – das – das – dieser Schimpf, der nie wieder von ihr abgewaschen werden konnte.
Der Tanz begann. Ein blondes Bürschchen steuerte durch die sich drehenden Paare auf die Ecke zu, wo Agathe mit dem ältlichen Geschöpf stehen geblieben war. Seine Augen staunten Agathe bewundernd an – er wurde rot vor Entzücken bei dem Gedanken, dass er sie in den Armen halten könne – aber er war ihr nicht vorgestellt – und … nein, ehe er gewagt hätte sich selbst mit ihr bekannt zu machen, eher holte er die Freundin seiner Schwester an ihrer Seite. Dankbar hüpfte das ältliche Geschöpf mit dem Kerlchen davon und Agathe blieb allein.
Da wurde sie plötzlich bemerkt und alles wunderte sich, dass sie nicht tanzte, sie war doch unstreitig eines der hübschesten Mädchen. Die Mütter tauschten ihre Bemerkungen, sie kamen zur Regierungsrätin Heidling und diese lächelte mit ihrem armen, von wütenden Nervenschmerzen schiefgezogenen Munde und sagte freundlich: »Ja – das sind Ballerfahrungen.« Alle Mütter waren einig: Die jungen Mädchen mussten notwendig solche Erfahrungen machen. Aber mehrere dachten im Stillen, es sei doch recht ungeschickt von der Regierungsrätin, nicht vor dem Ball eine Gesellschaft mit einem guten Souper gegeben zu haben, bei der ihre Tochter für alle Tänze engagiert worden wäre. Die Regierungsrätin hatte zu fest auf den zarten, unschuldsvollen Reiz von Agathes siebzehn Jahren gebaut.
Als erinnere sich jeder Herr eines unverzeihlichen Vergehens, wurde Agathe nun fortwährend zu Extratouren geholt. Sie versuchte vergnügt zu werden, aber das vergebliche Warten hatte ihr die Stimmung verdorben. Der starke Geruch der Pomade auf den Köpfen ihrer Tänzer, ein anderes unerklärliches Etwas, das von den Männern ausging, denen sie plötzlich so nahe kam, verursachte ihr Unbehagen. Die Art und Weise, wie gleich der Erste sie umfasste und tanzend fest und fester an sich presste, war ihr peinvoll. Der Zweite streckte ihr den Arm wie einen gezückten Speer, mit dem er sich einen Weg durchs Gedränge bahnen wollte, wagerecht hinaus; der Dritte drückte ihre Hand krampfhaft in der seinen und stöhnte und schnaufte. Ein Vierter schwenkte ihren und seinen Arm wild im Takte auf und nieder und trat ihr beständig auf die Zehen.
Mit ihrem Bruder und den Vettern hatte sie sich sicher und fröhlich geschwungen – hier vergaß sie alles Gelernte, widerstrebte steif und ängstlich dem Führer und machte die dümmsten Fehler. Es war ihr eine Erlösung, als Onkel Gustav sie einmal holte.
Onkel Gustav hatte jeder von Agathes Freundinnen ein Fläschchen »Jugendborn« geschenkt, und forderte nun alle die jungen Damen auf, um sich von der Wirkung seines Schönheitswassers zu überzeugen. Er tanzte aus Geschäftsrücksichten. Während er mit ritterlicher Grandezza seine Nichte im Arm hielt, hörte sie ihn halblaut sagen: »Zu viel Benzoë – etwas mehr Lawendel könnte nicht schaden – was meinst Du, Agathe?«
Aber er tanzte dabei viel, viel besser als die jungen Herren, das wurde allgemein anerkannt. Er war auch ausgezeichnet geschmackvoll gekleidet – niemand wusste, wie er das bei seinen spärlichen Einnahmen möglich machte. Zuweilen gab er den reichen jungen Kaufleuten oder den Strebern unter den Juristen mit herablassender Miene, als vermittle er ihnen ein wichtiges diplomatisches Geheimnis, die