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dieses Hemdchen hatte sie selbst geschneidert für ihr Kind. Den Halsausschnitt und die Ärmel hatte sie damals mit blauem Garn umhäkelt. Es war ein helles Kornblumenblau, eine seltene Farbe, die man im allgemeinen nicht für Kinderwäsche verwendete. Aber sie hatte das Häkelgarn noch von ihrer Mädchenzeit im Nähkorb gehabt. Und weil Wim und sie damals nicht mit großen Gütern gesegnet gewesen waren, hatte sie gedacht, sie könne es ruhig verwenden. Auch an die kleinen Fehler im Muster konnte sie sich noch genau entsinnen. Damals hatte sie sich sehr darüber geärgert und vorgehabt, den Rand noch einmal aufzutrennen. Doch dann hatte sie es doch gelassen, weil sie sicher gewesen war, es nicht besser machen zu können. Handarbeiten waren noch nie ihre stärkste Seite gewesen.

      Aber man hatte ihr doch damals im Krankenhaus gesagt, ihr Kind sei in diesem Hemdchen beerdigt worden. Und nun fand sie es hier unter Pieters Sachen …

      Julia steckte das Hemdchen in ihre Handtasche. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Dann nahm sie die Spielsachen von Pieter und floh förmlich aus dem Kinderzimmer.

      Sie war ganz wirr im Kopf. Es war ihr ein Rätsel, wie das Hemdchen in dieses Haus kam. Was war nur damals im Krankenhaus geschehen? Ja, sie hatte ihr Kind noch einmal sehen wollen, und man hatte sie in das Zimmer gebracht, in dem der kleine Junge unter einem Sauerstoffzelt lag und seine letzten Atemzüge tat. Das Baby hatte doch das Hemdchen angehabt. Oder? Nein, das war ein Irrtum. Sie wusste nur, dass das Kind das Hemdchen getragen hatte, als sie es für einen Augenblick im Kreißsaal gesehen hatte. Wie stolz war sie in diesem Augenblick auf ihren gesunden Jungen gewesen. Und später …

      Ja, später … Julia stieg langsam die Treppe hinunter. Sie versuchte, sich an alle Einzelheiten dieses Nachmittags zu erinnern. Man hatte ihr gesagt, ihr Kind läge unter einem Sauerstoffzelt, weil sein Herz nicht in Ordnung sei. Auf ihre Bitte hin hatte man sie zu ihm gebracht. Voller Entsetzen hatte sie auf das winzige Köpfchen des Neugeborenen gestarrt. Die bläuliche Verfärbung des Gesichtchens hatte ihr einen Schrei entlockt. Ja, und nun wusste sie es auch wieder. Das Kind hatte ein völlig weißes Hemdchen angehabt.

      Lotte riss Julia aus ihrem Grübeln. »Warten Sie, ich bringe Ihnen eine große Tragetüte für die Spielsachen!«, rief sie.

      Julia konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Immer wieder rief sie sich das Bild des sterbenden Kindes unter dem Sauerstoffzelt ins Gedächtnis zurück. Deutlich sah sie es vor sich. Dann musste das Hemdchen, das sie für ihren kleinen Jungen genäht hatte, in falsche Hände geraten sein. Nun sah sie wieder das Kind vor sich, das sie gleich nach der Geburt gesehen hatte. Es hatte feine weißblonde Löckchen gehabt. Und das Kind unter dem Sauerstoffzelt …

      »So, da bin ich wieder!« Lottes frische Stimme erreichte kaum Julias Bewusstsein. Sie lächelte gequält, als sie die Tragetüte mit Pieters Spielsachen entgegennahm und das Haus verließ. Mit unsicheren Schritten, wie eine Blinde, tastete sie sich vorwärts. Impulsiv lief Lotte hinter ihr her und holte sie am Gartentor ein. »Frau van Arx, ist Ihnen nicht gut?«, fragte sie besorgt. »Sie sehen auf einmal ganz käsig aus.«

      »Es ist nichts. Wirklich nichts«, erwiderte Julia und holte tief Luft.

      »Sie sollten sich lieber ein Taxi nehmen und Ihren Wagen stehenlassen«, meinte das Mädchen.

      »Nein, das ist nicht nötig. Ich kann schon fahren.« Verkrampft lächelte Julia Lotte an. »Vielen Dank«, murmelte sie.

      Kopfschüttelnd ging Lotte ins Haus zurück. Julia schloss ihr Auto auf, legte die Tragetüte auf den hinteren Sitz und stieg ein. Sehr langsam fuhr sie an. Vielleicht hätte ich mir doch lieber ein Taxi nehmen sollen? dachte sie. Dann konzentrierten sich ihre Gedanken wieder auf ihr Kind. Das Baby unter dem Sauerstoffzelt hatte keine Löckchen gehabt, überlegte sie, sondern ganz glattes Haar mit einem rötlichen Schimmer. Das Haar war auch viel länger gewesen als bei dem Baby, das sie im Kreißsaal gesehen hatte. Wie ein kleiner Engel hatte dieses Baby mit seinen weißblonden Löckchen ausgesehen.

      Auch Wim hat als Baby weißblonde Löckchen gehabt, fuhr Julia in ihren Überlegungen fort. Aber das kann doch nur bedeuten, dass das kranke Kind gar nicht mein Sohn gewesen ist. Man muss die beiden Kinder vertauscht haben. Betty Cornelius ist doch gebürtige Holländerin. Und ihr totes Kind wäre genauso alt wie Pieter …

      »Ich werde noch verrückt«, sagte Julia laut und erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Dabei trat sie statt auf die Bremse auf das Gaspedal. Die Seitenwand eines Lastwagens wuchs plötzlich ins Riesenhafte vor ihr, bevor sie einen heftigen Stoß erhielt und dann das Bewusstsein verlor.

      Doch sehr schnell kam Julia wieder zu sich. Sie sah die Menschen um sich und stöhnte leise auf, als sie sich bewegen wollte. Etwas Klebrig-Feuchtes lief ihr übers Gesicht. Mit der Zunge fuhr sie sich über die Lippen und schmeckte das Blut.

      Noch immer stand sie unter der Schockwirkung, als zwei Männer sie vorsichtig aus dem Wagen zogen. Ein unerträglicher Schmerz durchfuhr ih­ren Körper, sodass sie wieder in Ohnmacht fiel.

      Als sie später wieder erwachte, lag sie auf einer Trage, die einen langen Korridor entlanggerollt wurde. Ein freundliches Frauengesicht, gekrönt mit einem Schwesternhäubchen, neigte sich tiefer über sie. »Wie fühlen Sie sich, Frau van Arx?«, fragte die Schwester.

      »Schlecht, sehr schlecht. Was ist nur geschehen?«

      »Sie hatten einen Autounfall. Wir haben Herrn Cornelius verständigt. Er wird bald da sein.«

      »Mein Gott, die Sachen. Pieters Spielzeug. Hoffentlich ist nichts kaputtgegangen. Pieter wäre sehr traurig. Pieter, mein kleiner Sohn«, flüsterte sie.

      Wieder verwirrten sich ihre Sinne. Auch damals hatte man sie einen langen Korridor entlanggefahren zu dem Zimmer, in dem der kleine Junge mit dem Tod gerungen hatte. Aber es war nicht ihr Kind gewesen. Ihr Kind lebte … lebte …

      »Frau van Arx, hören Sie mich?«

      Mühsam öffnete sie die Augen. Sie erblickte eine Krankenschwester. »Sie haben Besuch. Herr Cornelius ist da. Wollen Sie ihn sehen?«

      »Nein, nein …«, flüsterte sie.

      Aber die junge Krankenschwester holte Enno bereits herein. »Was machen Sie nur für Geschichten, Julia?«, fragte er erschüttert. »Wie konnte das nur geschehen? Zeugen behaupten, Sie seien schuld.«

      »Ja, ich bin schuld.« Auf einmal sah Julia diesen Mann, den sie zu lieben glaubte, mit ganz anderen Augen. Er und seine Frau hatten ihr ihr Kind genommen, während das Kind der beiden im gleichen Grab lag wie Wim. »Bitte, lassen Sie mich allein«, flüsterte sie.

      »Julia, es …«

      »Ich kann Sie nicht sehen. Ich kann nicht …« Ostentativ wandte sie ihr Gesicht der Wand zu.

      »Steht es denn so schlimm?«, fragte Enno betroffen.

      »Nein, Herr Cornelius. Sie hat sich zwei Rippen gebrochen. Sonst ist sie mit dem Schrecken davongekommen. Und die Schnittwunde an der Stirn wird völlig verheilen. Aber sie scheint noch unter der Schockwirkung zu stehen«, sagte der junge Stationsarzt und verließ mit Enno zusammen das Krankenzimmer.

      »Das wird es sein. Ja, das ist es bestimmt«, sagte er leise und verabschiedete sich von dem Arzt.

      Pieters Spielsachen waren heil geblieben. Enno holte sie aus Julias schwer beschädigtem Wagen heraus und fuhr dann los. Auf alle Fälle wollte er nach Sophienlust fahren. Denn noch eine Enttäuschung würde für Pieter wohl untragbar sein.

      *

      Auf der Fahrt nach Sophienlust musste Enno immerzu an Julia denken. Ihr verändertes Benehmen ihm gegen­über konnte doch nicht nur allein auf den erlittenen Schock zurückzuführen sein. In ihren Augen hatte es feindlich aufgeblitzt. Aber was hatte sie plötzlich gegen ihn? Sie hatten sich doch als Freunde getrennt und vorgehabt, zusammen nach Sophienlust zu fahren.

      Auch dass Julia in diesen Lastwagen hineingefahren sein sollte, war ihm unverständlich. Er kannte sie als vorsichtige und ausgezeichnete Autofahrerin. Nur eine große Erregung hätte sie in diese Situation bringen können.

      Enno schüttelte den Kopf. Er versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen.

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