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„Ich hatte mich darauf gefreut, dich nach Hause zu fahren. Dieses Kleid, was du anhattest – das hat mir sehr gefallen.“

      Zoe warf einen Blick auf den roten Stoff, der jetzt auf ihrem Bett lag, und ein kleiner Schauer überkam sie, als sie seine Worte hörte. Sie warf die Kosmetikartikel in ihren Koffer – und alles, was sonst noch fehlte, hinterher. „Vielleicht ziehe ich es nochmal für dich an, wenn ich wieder da bin.“ Schuhe – sie öffnete die Tür ihres Schranks und holte ein Paar Ersatzschuhe heraus, nur für den Fall, dass die Schuhe, die sie gerade trug, zu unbequem wurden.

      „Das wäre toll.“ Johns Tonfall änderte sich erneut, diesmal wurde er ernster. „Eigentlich fände ich es schön, wenn wir mal reden könnten, wenn du wieder zu Hause bist.“

      Zoe zögerte. Reden. Was bedeutete das? Redeten sie nicht jetzt gerade?

      War sie jetzt in der Situation, die sie nur aus Filmen kannte – das gefürchtete Gespräch – der Moment der Trennung?

      Nein, sicher war sie nur paranoid. John war ein erwachsener Mann. Er scheute sich nicht, seine Gefühle anzusprechen und er schien bisher nicht unzufrieden gewesen zu sein.

      Natürlich hatte er sich nicht gerade darüber gefreut, dass sie wieder irgendwo hin musste, jetzt, da die beiden sich immer näher kamen.

      „Okay“, zwang Zoe sich zu sagen. Sie wollte nicht, dass sich das Schweigen noch länger hinzog. „Klar. Das sollten wir.“

      „Dann ruf mich an, wenn du zurück bist“, sagte John. Er machte auch eine Pause. „Zoe?“

      „Ja?“

      Er machte erneut eine Pause, so würde er seine Worte sehr genau abwägen. „Ich wünsche dir einen guten Flug.“

      Zoe starrte auf das Handy in ihrer Hand, das Display war nun dunkel, das Gespräch beendet. Für einen kurzen Moment dachte sie, es war absurd, dass er es für nötig hielt, sie dazu aufzufordern, ihn nach ihrer Rückkehr anzurufen. Warum hätte sie das denn nicht tun sollen? Warum hätte sie sich absichtlich in so eine schreckliche Situation bringen sollen?

      Dann ermahnte sie sich gedanklich selbst: Sie hatte doch gar keine Ahnung, worüber er mit ihr reden wollte. Nur, weil sie dank ihrer Fähigkeiten und ihrer Art für alle anderen anders und seltsam erschien und sie bereits mit Ablehnung rechnete, hieß das nicht, dass er ihr auch eine Abfuhr erteilen würde. Sie dachte an Dr. Monk und an das, was sie sagen würde – wahrscheinlich etwas dazu, dass man die Gedanken anderer Menschen nicht lesen konnte – und versuchte, ihren Kopf frei zu bekommen.

      Ein klimperndes Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, als sie einen Wäschesack für schmutzige Kleidung herausholte, den sie in den Koffer packen wollte. Zoes Hände wanderten zu ihren Ohren und ihr wurde klar, dass sie in all der Eile und Verwirrung der Vorbereitung vergessen hatte, ihre Ohrringe abzunehmen.

      Langsam ging sie zum Badezimmerspiegel. Es war das erste Mal seit dem Verlassen des Büros von SAIC Maitland, dass sie für einen kurzen Moment innehielt. Der Eyeliner auf ihren Augen war eine Erinnerung daran, wie die Nacht hätte verlaufen sollen. Mit Bedauern griff Zoe nach ihrer Gesichtsreinigung und einem Waschlappen. Die Nacht war vorbei, und es hatte keinen Sinn, zu versuchen, sich an einem Überbleibsel davon festzuklammern, das spätestens im Flugzeug ihr Gesicht verschmieren würde.

***

      Zoe rieb sich die Augen und gähnte. Es begann allmählich die Dämmerung. Nicht, dass sie das sehen konnte, denn sie hatten die Blende am Fenster heruntergezogen und die Welt jenseits des Flugzeugs der Fantasie überlassen, um in der Dunkelheit noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen.

      Sie hatte sich reisetauglich anziehen, ihren Koffer packen, den Katzenfutter-Spender auffüllen und einige Termine umzuorganisieren müssen. Vier Stunden hatten gerade noch gereicht, dann auch noch Shelley am Hauptquartier abzuholen und rechtzeitig zum Flughafen zu kommen. Im Flugzeug hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie sich etwas ausruhen müssten, damit sie bei der Landung auch noch klar denken konnten.

      „Okay“, sagte sie. „Also, nachdem wir gelandet sind holen wir einen bereits bezahlten Mietwagen ab?“

      „Ja“, bestätigte Shelley und blätterte in den Unterlagen, die ihnen zur Verfügung gestellt worden waren. „Das Präsidium hat tatsächlich für eine ‚Priority-Abholung‘ bezahlt, sodass es nicht lange dauern sollte, bis wir uns auf den Weg machen können.“

      „Und wohin dann?“

      „Hier steht Broken Ridge“, sagte Shelley und ging bereits zur nächsten Seite über.

      Zoes Herz klopfte in ihrer Brust. „Broken Ridge?“, antwortete sie und hoffte wider Erwarten, etwas Falsches gehört zu haben.

      „Ja, das ist etwa eine Stunde Fahrt vom Flughafen entfernt“, sagte Shelley und warf einen schnellen Blick auf die Karte. „Warum?“, sagte sie.

      Zoe schluckte. „Nur so“, sagte sie.

      Das war nicht ganz die Wahrheit. Die Wahrheit war etwas, das sie nicht zugeben wollte – und zwar, dass die Stadt Broken Ridge in der Nähe des Ortes lag, in dem Zoe aufgewachsen war. So nah, dass sie den Ort kannte und bildlich vor Augen hatte. Sie wusste, dass es nicht weit davon entfernt einen Windenergiepark gab, der in Zoes Kindheit gebaut worden war.

      Gedanken und Erinnerungen an Broken Ridge führten unweigerlich zu Gedanken und Erinnerungen an ihre Heimat. Nicht, dass der Ort, an dem sie aufgewachsen war, es jemals verdient hatte, Heimat genannt zu werden. Teufelskind, konnte sie ihre Mutter förmlich sagen hören, genauso klar und deutlich wie damals, als sie acht Jahre alt gewesen war und neben ihrem Bett kauernd die Hände zu einem vorgetäuschten Gebet falten musste.

      Zoe atmete tief durch und zählte dabei die Sekunden. Drei Sekunden einatmen, vier Sekunden ausatmen. Einen Moment lang hatte sie fast das Gefühl, die Wärme einer tropischen Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren, als sie ihre Augen schloss und sowohl die einengende Umgebung des Flugzeugs als auch die Erinnerungen, die sie bedrückten, ausblendete.

      Sie öffnete die Augen, wieder konzentriert und ruhig. „Was wissen wir über die Opfer?“, fragte sie.

      „Hier“, sagte Shelley und reichte ihr ein einzelnes Blatt Papier. Sie behielt ein weiteres für sich und begann, laut vorzulesen. „Das erste Opfer wurde anhand des Ausweises, das es in seiner Tasche trug, als Michelle Young identifiziert. Es konnten anhand des Gesichtes identifizieren werden, da der Kopf fehlte.“

      Zoe fluchte leise. „Und sie haben ihn immer noch nicht?“

      Shelley schüttelte den Kopf. „Aber es gibt ein relativ aktuelles Foto. Hier.“ Sie hielt ein Bild einer lächelnden Blondine hoch, die direkt in die Kamera blickte. Jemand hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt, wobei der Besitzer des Arms ausgeschnitten worden war. „Sieht aus, als wäre der Kopf mit etwas Scharfem abgetrennt worden, möglicherweise mit einer Art Schwert. Die erste Untersuchung der Schnittstellen lässt auf eine lange Klinge schließen, möglicherweise eine Machete. Sie war Anfang dreißig, eins vierundsiebzig, zweiundsiebzig Kilo. Keine Tätowierungen. Hat als Kassiererin in einer Bank gearbeitet. Sie war diejenige, die aus dem Nachbarort kam – Easternville.“

      Zoe folgte ihrem Zeichen, als Shelley nach oben sah, fertig mit den Details ihres Berichts. „Ich habe Lorna Troye“, las sie vor. „Ihr Kopf hat auch gefehlt. Zweiunddreißig Jahre alt, eins siebzig, achtundfünfzig Kilo. Offenbar war sie freiberufliche Illustratorin. Hier ist ein Foto.“

      Die beiden betrachteten das Bild von Lorna, das von der Profilseite ihrer eigenen Website stammte. Sie lächelte freundlich in die Kamera, obwohl sie darauf eine seriöse und professionelle Pose eingenommen hatte. In ihrer Hand hielt sie einen Bleistift. Darunter lag ein Skizzenblock – ganz so, als ob sie jederzeit bereit wäre, mit der Arbeit zu beginnen.

      Zoe und Shelley schwiegen sich einen Moment lang an, während sie sich die Bilder der beiden toten Frauen ansahen. Die eine war blond gewesen, die andere brünett – genau wie Shelley und Zoe selbst. Zoe war sogar ungefähr im gleichen Alter, Shelley ein paar Jahre jünger.

      Das Schicksal liegt in Gottes Hand, hieß es. Es hätte auch sie treffen können. Aber da Zoe mit dem Glauben an das, was ihre Mutter ihr gesagt hatte – nämlich

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