Скачать книгу

Yannick über das Autodach hinweg. »Sieh mal zu, dass du dich mit deinen Mannschaftskollegen anfreundest. Eishockey ist ein

      Mannschaftssport. Dich beißt ja keiner. Auf Wiedersehen. Ich hole dich dann ab.«

      Yannick schmiss den Kofferraum zu und schulterte seine Tasche. »Ja, bis dann.«

      Markus sah ihm nach, wie er über den Parkplatz auf die Eishalle zustapfte. Auf die Eishalle, in der er selbst trainiert hatte, als er nur ein paar Jahre älter gewesen war als Yannick jetzt. Er hat die Chance, es besser zu machen als ich, dachte Markus wie so oft. Du hast das alles noch vor dir, Junge, und du kannst das so viel besser machen. Du kannst das bessere Leben von uns beiden leben. Markus hatte Yannick schon so oft angesehen und mit einem seltsamen Gefühl des Friedens gedacht: Du kannst das Leben haben, das ich selbst mir immer gewünscht habe, das mir aber verwehrt geblieben ist. Dir wird das Schicksal keinen so dicken Strich durch die Rechnung machen, ganz bestimmt nicht. Dieser Gedanke war tröstlich für Markus. Als könnte es ihn mit sich selbst und dem Schicksal versöhnen, wenn er Yannick das Leben leben sah, das er nie hatte leben können und am Ende fast ganz verloren hatte.

      Amy musste sich eingestehen, dass ihr das neue Zimmer gut gefiel, nachdem sie den Großteil ihrer Kartons ausgepackt hatte. Nicht nur schmückten ihre geliebten Bücher und Filme und CDs, mit denen sie stets in andere Welten abtauchen konnte, jetzt die Hälfte der Regale, auch hatte sie die schönsten ihrer selbstgemalten Bilder aufgehängt und ihre glitzernden Muscheln, Kerzen in Rosen- und Herzformen, ihre wunderschönen Steine und die liebsten ihrer Schleich-Pferde und -Feen dazugestellt. Einen Ehrenplatz auf einem der Regale hatten wie immer ihre Aschenputtel-Glasschuhe, die natürlich aus Plastik waren und die ihr gepasst hatten, als sie in der Grundschule gewesen war. Wie oft war sie in ihnen durchs Haus getanzt! Außerdem hatte sie die rosa Vorhänge aufgehängt, die sie bei jedem Umzug mitnehmen durfte, und die Fenster in der ganzen Wohnung dekoriert. Amy hatte im Laufe der Zeit wunderschöne Fensterbilder gebastelt, mit denen sie jeder ihrer Wohnungen eine persönliche Note verlieh.

      Nachdem sie mit dem Einrichten ihres Zimmers und dem Dekorieren der Fenster fertig war, fühlte sie sich wahrhaftig schon wohler, machte sich den Temperaturen zum Trotz eine heiße Milch mit Honig und kuschelte sich in ihr neues Bett, in ihre Herzkissen hinein. Eigentlich konnte Amy sich an keinen Tag ihres Lebens erinnern, an dem sie nicht ein paar Stunden einfach nur im Bett oder auf dem Sofa gelegen hatte, ihren Gedanken nachhing, durch ein Buch blätterte oder ein Hörspiel oder Musik hörte.

      Heute nahm sie ein paar ihrer alten Bilderbücher mit ins Bett. Während sie sie durchblätterte, war es ihr wie immer einen Moment möglich, zu vergessen, dass sie kein Kind mehr war, dass sich seitdem so vieles verändert hatte, dass sie wieder umgezogen waren und schon in drei Wochen ein neues Schuljahr anstand, nicht nur auf einer neuen Schule, sondern auch in der Oberstufe, dass sie … ja, langsam, aber doch mit Riesenschritten erwachsen wurde, und dass das so viele Veränderungen mit sich bringen würde. Wann immer ihr das Leben und die Gedanken an die Zukunft zu anstrengend und bedrohlich wurden, flüchtete Amy zurück in das Nest ihrer Kindheit, das ihr als das sicherste und geborgenste in Erinnerung geblieben war.

      Aber das waren immer nur Momente, und irgendwann tauchte sie unweigerlich wieder auf. Und mit der Zeit waren diese Momente immer kürzer geworden.

      Amy tastete auf dem Nachttisch nach der Tasse, setzte sie an ihre Lippen, doch es war nicht mehr mehr als ein Tropfen darin. Amy stellte die leere Tasse seufzend zurück, rieb sich über die wie immer leise pochende Stirn, zwinkerte mit den müden Augen, schlug das Bilderbuch zu, das sie erst zur Hälfte durch hatte, und rollte sich auf den Rücken mitten in ihre flauschigen Herzkissen hinein. Ja, es wurde immer schwerer, in ihre Kinderwelt abzutauchen, auch wenn Amy sich das nicht eingestehen wollte. Es war, als würden die Sorgen und Probleme in der Gegenwart immer lauter und schwerer werden und sich dadurch immer schwieriger ignorieren und verdrängen lassen. In der Schule wurde immer mehr von Amy erwartet, gleichzeitig wurde immer weniger darüber hinweggesehen, wenn sie irgendetwas nicht konnte und wollte, ihre Klassenkameraden interessierten sich immer mehr für völlig andere Dinge und sahen in Amy auch immer mehr eine Außenseiterin, die irgendwie komisch und nicht so ganz normal war. Gesagt hatten sie Amy das nie, aber sie wusste das trotzdem. Als sie Kinder gewesen waren, war diese Abgrenzung und dieses Auf-sie-hinunterschauen noch nicht so ausgeprägt gewesen. Und nicht zuletzt hatte auch Yannick zunehmend ein eigenes Leben. Er musste immer mehr Zeit für die Schule investieren, und dann war da natürlich das Training, die vielen Auswärtsspiele – und dabei verbrachte Yannick ja sogar seine freie Zeit stets zu Hause. Er war als Einzelgängertyp nicht ständig auf Achse und mit Freunden unterwegs.

      Amy tastete wie zufällig über ihren Bauch, der dicker geworden war, über ihre Taille, die breiter war – weiblicher. Erwachsener. Und in gewisser Hinsicht machte ihr das Angst und sie verschloss sich davor. Wollte davor flüchten – in ihr Kindheit zurück. Bloß dass das immer schwieriger wurde. Amy war nie wie andere Kinder gewesen. Sie hatte sich inzwischen recht gut unter Kontrolle, aber trotzdem waren da immer noch die Besonderheiten, Probleme. Amy war nicht einfach nur verträumt und still, das war nicht einfach nur ihr Charakter. Irgendetwas stimmt mit mir nicht.

      Amy richtete sich auf, sah sich einen Moment im Zimmer um, betrachtete die Bilder an den Wänden, die sie gezeichnet und gemalt hatte und von denen sie manchmal das Gefühl hatte, sie würden mehr erzählen als das, was auf ihnen zu sehen war. Als würden sie etwas Verborgenes – und zwar etwas Düsteres – erzählen, das nicht einmal Amy, die Künstlerin, selbst verstand.

      Amy kletterte aus dem Bett, innerlich unruhig und ruhelos wie so oft, und verließ das Zimmer. Das Wohnzimmer lag zur Sonnenseite hin, die Sonne knallte durch die hohen Scheiben, die Amy so gut gefielen, und der helle Laminatboden blendete sie beinahe. Sommer. Sonne, Wärme, Licht. Amy öffnete die Balkontür und trat auf den großen Balkon, auf dem sie heute Morgen gefrühstückt hatten. Sie schloss einen Moment die Augen, als die Sonne auf ihr Gesicht schien, dann vernahm sie unter sich Geräusche und wagte einen Blick über die Brüstung.

      Ein beigefarbener Boxer lief durch den Garten der Brückers, die unter ihnen wohnten, und ließ seine Zunge weit aus dem Mund hängen. Amy vermisste Ginny mit einem Mal sehr.

      »Baya!« Amy zuckte zusammen, als ein Mädchen dem Hund hinterherlief. Sie sah mit ihren dunklen Locken, der eher kräftigen Figur und ihrem braungebranntes Surfer-Gesicht Leon sehr ähnlich. Das musste seine kleine Schwester sein. Sie hockte sich auf die Wiese und rief noch einmal: »Baya!«

      Baya stand einen Moment auf der Wiese und schien zu überlegen, ob sie ihrem Frauchen gehorchen sollte oder nicht. Dann trabte sie auf Leons Schwester zu und bekam eine Streicheleinheit.

      Amy stand ganz still auf dem Balkon, mit angehaltenem Atem, um bloß nicht bemerkt zu werden. Schließlich zählte sie leise bis drei, dann trat sie rückwärts wieder ins Wohnzimmer und verschloss die Tür.

      Sie schlich in die Küche und stand einen Moment unschlüssig da. Dann beschloss sie, für heute Abend, wenn Yannick und Markus aus der Sportklinik nach Hause kamen, zu kochen. Sie und Yannick hatten immer schon viel Tiefkühlkost und Nudeln gegessen – was sollen kleine Kinder anderes essen, wenn sie alleine zu Hause sind? –, doch vor einiger Zeit hatte Amy das Kochen für sich entdeckt.

      Sie entschied sich mit Blick aufs Thermometer für Blätterteig-Schinken-Spinatrollen und dazu einen Salat, schaltete Disney-Lieder ein und war schließlich so im Flow, dass sie kurzerhand noch Brownies hinterherbuk. Gerade, als sie das Blech mit dem duftenden Schokoteig aus dem Ofen zog, ging die Haustür auf. Sie schlüpfte schnell aus den Backhandschuhen und pausierte das gerade laufende Lied.

      Yannick kam als erster in die Wohnung, streifte sich wortlos seine Schuhe von den Füßen und stürmte sofort weiter in sein Zimmer, wo die Sporttasche mit einem hörbaren Knall in der Ecke landete.

      Markus schloss die Wohnungstür mit einem mindestens ebenso lauten Knall und befreite sich mit Gewittermiene aus seinen Schuhen. Dann sah er Amy in der Küche stehen und sein Gesicht glättete sich, auch wenn ihn das sichtbar Anstrengung kostete. So war das immer. In Amys Gegenwart wurde er ruhiger, riss sich zusammen, nahm sich gegenüber Yannick zurück. Amy wusste das zu schätzen, gab es doch nichts, was sie mehr hasste als laute

Скачать книгу