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träumte Yannick von einer kleinen Leseecke mit einem Sessel und einer Leselampe, aber die gab es leider nur bei Veronica. Ebenso wie Amy nie ein richtiges Atelier hatte. Dabei hatte sie neben Büchern über das Zeichnen, Farben, besonderen Papierarten, Leinwänden und sogar einer Staffelei von Veronica im Laufe der Jahre sogar einen Zeichentisch bekommen, das einzige Möbelstück, das ihr Eigentum war. Aber wirklich ausreichend Platz hatte sie dafür nie. Eine Ecke des neuen Zimmers sah jetzt aber doch nach einem richtigen Atelier aus mit dem Tisch und der Staffelei und den ganzen Farbtuben und -paletten. Das Zimmer war fast eine Mischung aus einer Bibliothek und einem Kunstatelier.

      Seine Pucksammlung hatte Yannick auch aufs Regal gestellt, doch bei seinen alten, bereits eingerissenen, schon tausendmal mit Tesa aufgehängten Postern von Eishockeyspielern hatte er gezögert. Er hatte sich umgesehen und war der Meinung gewesen, sie passten nicht mehr recht. Er hatte sie mit einem seltsamen Gefühl wieder in die Mappe gelegt und sie in eine Schublade geschoben. Er konnte sich nicht helfen – ohne die Poster gefiel es ihm besser.

      Ihm gefiel das neue Zimmer. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er ein bisschen unter Amys Schleich-Pferden und -Feen und Barbies und den knallpinken Vorhängen und ihren Herzchenkissen, die ebenfalls bei jedem Umzug mitgenommen worden waren, gelitten hatte. Aber seit einiger Zeit stellte er fest, dass ihn das überhaupt nicht mehr störte. Die rosenförmigen Kerzen und Lichterketten und die mit Glitzer besprühten Muscheln auf der Fensterbank und die in Szene gesetzten Cover ihrer Liebesgeschichten, ihre Prinzessinnen-Bilder und -Filme, das Die schöne und das Biest-Filmposter mit Emma Watson an der Zimmertür, das alles störte ihn nicht mehr. Das alles … mochte er, weil Amy es so sehr liebte. Weil ihr ganzer Mädchenkram, ihre Vorliebe für alles Pinke, Glitzernde, Romantische und Kitschige so gut zu Amy passte, weil das zu ihr gehörte, ein Teil von ihr war – und irgendwie mochte Yannick diesen Teil. Mehr als früher. Anders als früher. Er sah sie anders als früher. Vielleicht war ihm dieser romantische, prinzessinnenhafte, sanftmütige, zarte Teil an ihr auch erst vor kurzem überhaupt so wirklich aufgefallen.

      Auch Amy mochte das neue Zimmer. Sie musste sich eingestehen, dass die neue Wohnung wirklich schön war; schöner als die in Biesfeld. Und als sie ihre Sachen ausgepackt, sich ihr kleines Atelier eingerichtet und ein paar Nächte überstanden hatte, fühlte sie sich bereits schon wohler und innerlich ruhiger – doch unweigerlich stand Yannicks erstes Auswärtsspiel vor der Tür.

      Amy graute es seit jeher vor diesen Nächten. Wenn Yannick früher ins Trainingscamp oder auf Klassenfahrten gefahren war, war das für Amy die Hölle gewesen, weil Yannick tagelang am Stück nicht da gewesen war. Und je älter – erwachsener – sie wurden, desto öfter hatte Yannick Auswärtsspiele. Fast jedes Wochenende während der Saison.

      Das Frühstück verlief ziemlich ungemütlich. Das erste Testspiel rückte näher und Markus war wie immer schon vollkommen in seiner Arbeit vergraben, gestresst und schlecht gelaunt, und fast war es, als wäre er dieses Mal sogar noch schlechter gelaunt als sonst. Und seine Zielscheibe war, wie seit einiger Zeit so oft, auch heute wieder Yannick. Die Tests, die besser hätten sein können, waren ein ziemlich schlechter Start zwischen den beiden in diese Saison gewesen. Und die Nikotin-Wolke, die Yannick nun vom Balkon mit an den Frühstückstisch brachte, machte Markus’ Laune natürlich nicht im Geringsten besser. Dann grabbelte er mit seinen Zigarettenfingern auch noch in der Brottüte herum. Markus rührte wild in seinem Kaffee. »Nutella? Muss das sein, Yannick?«

      Yannick drehte das Nutellaglas gereizt wieder zu und zog sich die Käsepackung heran.

      »Warum schaust du jetzt so angepisst?«, wollte Markus wissen und klang ebenfalls ziemlich angepisst. Manchmal vergaß er, zu Hause von der Eishockeykabinensprache umzuswitchen. »Ich frage mich so langsam, wie du dich bei deiner Mutter ernährt hast. Seit ihr wieder da seid, isst du ja nur noch ungesundes Zeug!« Markus’ Stimme wurde wieder ruhiger. »Ich arbeite ja jetzt mit Jakob Thiel.«

      Na toll, der wieder! Markus hatte Yannick jedes Mal einen Vortrag gehalten, wenn etwas über Thiel in den Medien gestanden hatte. Was der schon alles erreicht hatte in seinem Alter und dass das absolut bemerkenswert und vorbildlich sei, mit welch einer Disziplin der trainieren musste und welchen Ehrgeiz der haben musste.

      »Der ist achtzehn, ein halbes Jahr älter als du. Und weißt du, was für ein Leben der mit fünfzehn Jahren schon geführt hat?«, fuhr Markus auch prompt fort. »Der hat darauf geachtet, dass seine Ernährung stimmt, dass er in Topform ist, der raucht auch nicht und faulenzt auch nicht so viel wie du …« Da war er wieder, der leise Vorwurf, der deutlich genug jedes Mal in Markus’ Stimme mitschwang, wenn er wieder einmal von Thiel faselte.

      Yannick musste in sich hineinseufzen. Er spürte plötzlich gleichzeitig Wut und auch Traurigkeit in sich. Je älter er wurde, desto öfter schien er Markus einfach nicht mehr zu genügen, desto öfter hatte Yannick regelrecht das Gefühl, ihn zu enttäuschen.

      »Aber Jakob Thiel ist ja auch schon ein Profi«, murmelte Amy leise und blickte Markus über den Rand ihres Glases hinweg schüchtern an.

      Er stieß ein Seufzen aus. »Ja, natürlich. Aber ohne diese Disziplin wäre er das noch nicht. Ich meine, ich war ja mit siebzehn auch noch kein Profi, aber ich war auf dem Weg dahin – mit der richtigen Disziplin. Mit dem nötigen Ehrgeiz.« Er stupste Yannick über den Tisch hinweg an. »Und du befindest dich doch auch auf dem Weg! Sieh zu, dass du nicht auf der Stelle stehenbleibst, verdammt! «

      ›Und du befindest dich doch auch auf dem Weg!‹ Amy warf Yannick einen Blick zu. Auf dem Weg, ein Profi zu werden? Mit genau so einem Alltag wie Markus? Der nie zu Hause und ständig unterwegs war?

      »Wie fühlst du dich denn in der Mannschaft?«, fuhr Markus fort, als von Yannick nichts kam. »Ich glaube, mit dem Leon Brücker verstehst du dich ganz gut, wie? Nett von ihm, dass er dich auch heute mit zur Eishalle nimmt … Der macht einen sehr netten Eindruck – und einen durchtrainierten. «

      Einschleimer, dachte Yannick ärgerlich und fühlte gleichzeitig ein merkwürdiges Ziehen in der Brust. Leon Brücker, der Vorzeigenachwuchssportler! War ja klar, dass Markus den ganz toll fand.

      »Auf welcher Position spielt der eigentlich?«, wollte Markus wissen.

      »Verteidiger.«

      »Und? Ist er gut?«

      »Ja, schon. Aber ich weiß nicht, ob er eine Profikarriere anstrebt.«

      Markus nahm einen Schluck Kaffee. »Nun ja, es will ja auch nicht jeder Profi werden.«

      Yannick starrte auf sein Brot hinunter. »Nein, das will wahrhaftig nicht jeder.«

      »Und die anderen?«

      »Sie sind ganz nett …«

      »Das klingt doch gut. Dann nimm auch ruhig mal Anteil an deinen Kameraden. Gerade in den Ferien ist doch viel Zeit, um sich auch privat mal zu treffen. Ich weiß das noch von mir früher, wir sind ins Schwimmbad gefahren in den Ferien und .

      Yannick tauschte einen Blick mit Amy, schaltete auf Durchzug und schob sein Käsebrot in sich hinein.

      Leon Brückers Schwester, der beigefarbene Boxer Baya und eine Frau, die Leons Mutter sein musste, denn sie war ebenfalls dunkel gelockt und gebräunt, hatten Leon nach draußen begleitet. Die Frau schüttelte den Sladowskis herzlich die Hand, stellte sich als Anja Brücker vor und war tatsächlich Leons Mutter. Seine Schwester hieß Fabienne, begrüßte die Sladowski ebenfalls freundlich und offen und erklärte: »Aber nennt mich bitte Ienni!« Baya beschnupperte Amy mit einer etwas feuchten, aber freundlichen Nase. Anja und Ienni umarmten Leon zum Abschied und wünschten ihm ganz viel Spaß und Glück.

      Markus klopfte Yannick auf die Schulter und ließ noch ein paar Tipps von einem echten Profi vom Stapel, bei denen Leon große Ohren machte. Amy nahm Yannick natürlich in den Arm, ganz, ganz fest. Yannick spürte ihren warmen, weichen, ihm so vertrauten Körper an seinem und blickte in ihre blaugrünen Augen hinunter, in denen wie immer Misstrauen und Argwohn lag und heute eine noch größere Traurigkeit und Bedrückung als sonst. Ein … ein heftiges Bedürfnis nach Liebe und Wärme und gleichzeitig die Angst, diese

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