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Als sie von der Leitstelle informiert wurde, den Fall des Ertrunkenen ‚AgT‘ –, Kürzel für außergewöhnlichen Todesfall –, zu untersuchen, hatte sie nicht ahnen können, dass sie dazu nicht bis zur Brust im Wasser stehen musste, sondern das kühle Nass gerade mal ihre Knöchel erreichte. Aber sich hier vor allen Leuten aus dem Gummi-Zeug zu schälen, das war ihr zu peinlich.

      Der Polizist im Bereitschaftsdienst meldete ihr im Fachjargon er habe das ganze ‚Rösslispiel‘ aufgeboten, das heißt Wissenschaftlicher Dienst für die Spurensicherung, den Bezirksarzt, der den Totenschein ausstellen soll und den verantwortlichen Staatsanwalt. Sie alle trafen nun nach und nach ein.

      Kommissarin Glättli nannte man hinter vorgehaltener Hand das ‚Katapultgeschoss des Gesetzes‘. Damit spielten die Kollegen auf ihren gut gepolsterten Körper an. Ihr entlockte dies nur ein müdes Lächeln: „Alles purer Neid.“

      Mit zäher Hartnäckigkeit hatte sie mit der Zeit den Kollegen Respekt abgerungen. Ihre Größe hatte dabei wenig geholfen, auch wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte. Ihr Hintern schwang luftig beim Gehen, und mit ihren schnellen Beinen hatte sie schon einige Ausreißer eingeholt. Im richtigen Kleid konnte sie manch bewundernden Blick einfangen. Was wollte sie mehr. Sie sah keinen Grund, warum sie auf ihre geliebten Schokoriegel und Cremeschnitten verzichten sollte.

      Ihre schwarzen Haare reichten bis zum Kinn und federten bei jeder Bewegung hin und her. Sie pflegte es länger zu tragen, und früher hatte sie auch mal mit Dauerwelle und Strähnchen experimentiert. Mit dem neuen Haarschnitt wirkte ihr Gesicht zart, was durch die Sommersprossen unterstrichen wurde. Die waren ihre wahre Geißel. Sie ergossen sich über ihren gesamten Oberkörper. Was die einen in Entzücken versetzte, nannten andere Fliegenscheiße und sie selbst hasste sie abgrundtief, wie das nur jemand tut, der deshalb während der Schulzeit gnadenlos gehänselt wurde. An schlechten Tagen griff sie deswegen tief in die Schminkkiste. Wegen ihres frischen Aussehens wurde sie mit ihren fünfunddreißig Jahren oft mit „Fräulein“ oder „Kindchen“ angesprochen, was sie nicht ausstehen konnte.

      Nun winkte sie Tom, den Fotografen, herbei: „Bitte mach mir ein paar Aufnahmen von der Zufahrt und bis hierher, von allen Seiten, und ein Porträt.“

      Tom nahm mit zugekniffenem Auge Maß: „Mal sehen, ob ich ihm ein Lächeln entlocken kann“, und machte sich ans Werk.

      Auch Amber begann ihre Arbeit, zog sich Einweghandschuhe über und untersuchte die Leiche nach Spuren, die etwas über das Ableben verraten würden. Die Totenstarre hatte sich bereits wieder gelöst, er musste länger als sechs Stunden da liegen, der Mediziner würde das genauer schätzen können. Trotz der erheblichen Verletzungen am Kopf, deutete alles daraufhin, dass der dunkelhäutige Mann in den wenigen Zentimetern Wasser ertrunken war. Was eine Maus problemlos schaffte, kam bei jemandem mit dem Körper eines Marathonläufers, der obendrein beide Hände frei hatte, einem Kunststück gleich.

      „Hm, hm, hm“, murmelte sie, und ging nahtlos in ein Summen über, eine ihrer Marotten. Der Ton schwoll an und wieder ab, je nachdem, was sie entdeckte.

      Der Tote war zirka ein Meter fünfundachtzig groß, hatte lange, dünne Glieder und seine schwarze Haut glänzte mit dem seidenen Anzug um die Wette. Seine Füße steckten in hellen Slippers aus weichem Ziegenleder. Für einen Geschäftsmann wies er zu viele Narben auf und ein Asylsuchender war er wahrscheinlich auch nicht, dafür trug er zu teure Kleider.

      Bilder stiegen in Amber hoch: Piraten in wehenden Gewändern rannten auf sie zu. Ihr brach der Schweiß aus, als sie den Vorspann ihres Alptraumes erkannte. Ein Déjà-vu, ausgelöst durch den Fremden. Sie blickte prüfend in sein aufgedunsenes, verformtes Gesicht, konnte aber nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie ihn erkannte. Andererseits, die Narbe…

      Um Ablenkung bemüht, sah sie sich nach ihrem Assistenten um: „Serge, halt mir bitte mal das Aufnahmegerät. Danke. Die Totenstarre hat sich gelöst. Druckstellen am Hals, zu schwach für Würgemale, schwere Verletzungen in Gesicht und am Kopf, mehrere Zähne ausgeschlagen, Nase gebrochen und Kiefer, Lippen aufgesprungen, Schwartenrisse links und rechts der Jochbögen, Stirn und linker Wangenknochen. Die Art der Verletzungen deutet auf Fußtritte oder Schläge mit einem stumpfen Gegenstand hin. Am ganzen Körper Kratzer, Prellungen und Schürfungen. Fremdeinwirkung wahrscheinlich. Von seiner Lage zu urteilen, würde ich sagen: Er ist bis zum Wasserbecken auf allen Vieren gekrochen und hier zusammengebrochen.“

      Langsam lösten sich ihre inneren Schatten auf.

      „Das war‘s. Die Analyse der Spuren durch den Wissenschaftlichen Dienst wird uns mehr Klarheit geben und Reuven von der Rechtsmedizin wird uns nach der Obduktion der Leiche mehr zur Todesursache sagen können.“

      Die Kommissarin arbeitete mit Serge seit über zwei Jahren. Seine übermotivierte Spring-ins-Feld-Attitüde hatte er nicht ohne zu murren aufgegeben. Doch inzwischen waren sie meist recht gut aufeinander eingestellt, nur ab und zu gab es Diskussionen. Sie schätzte an ihm seine Flexibilität und musste zugeben, dass ein Kollege mit seiner Größe manchmal ganz praktisch war.

      Sie entledigte sich ihrer Gummifinger und machte Platz für die Spezialisten in den weißen Anzügen, die jedem Haar und jedem Staubkorn nachgehen würden. Keine beneidenswerte Arbeit an einem Tatort wie diesem. Gleich vor Ort begannen sie mit dem Vernehmen der Zeugen. Zuerst der Polier, der respektvoll den Helm abnahm, wodurch ein Schweißring mit verklebten Haaren sichtbar wurde, was sie wünschen ließ, er würde den Helm wieder aufsetzen.

      „So ein Ärger. Sehen Sie, die Baustelle kann nicht lückenlos abgeschlossen werden. Der Zaun führt zwar rund um das Areal, aber es kommt immer wieder vor, dass Material gestohlen wird. Für Fremde ist das Betreten sowieso verboten und jetzt so etwas. Ein Toter! “ Er seufzte: „Er muss schon dagelegen haben, als ich aufschloss. Ich kenne ihn nicht, habe ihn noch nie gesehen“, meinte er kopfschüttelnd. Er würde ruhiger schlafen, wenn ein Wachmann nachts seine Runde machen würde, aber das war zu kostspielig.

      „Vielleicht hat er mal nach Arbeit gefragt? Denken Sie nach!“

      „Nein, der wäre mir bestimmt aufgefallen.“

      Sie notierte sich seine Adresse und wandte sich dem Nächsten zu, einem großen, schlaksigen Jungen mit Pickelgesicht. Es war der Lehrling der Elektrofirma, der den Toten gefunden hatte, und der seiner wichtigen Rolle entsprechend, cool wirken wollte:

      „Ich rief ihm noch zu: ‚Die Pfütze reicht aber kaum für eine Abkühlung‘, im Sommer wird es auf dem Beton heiß wie in einer Bratpfanne, darum glaubte ich, er …“, der Junge schluckte. „Doch er regte sich nicht, also stupste ich ihn mit dem Fuß an und merkte erst da, wie unheimlich still er war.“ Ein Stimmbruch kippte und nun quiekte er, dass es in den Ohren schmerzte. „Da ging ich den Chef rufen.“

      Er brach von Emotionen überschwemmt ab. Amber legte ihm tröstend den Arm um die Schultern.

      „Das hätte jeden erschreckt. Sie haben genau das Richtige getan.“

      Steif nickend wandte er sich mit feuchten Augen ab. Dann sah er sie fragend von der Seite an, als fürchtete er, bei ihrer nächsten Frage in Tränen auszubrechen.

      „Danke, wir melden uns, wenn wir noch Fragen haben.“

      Mit Schultern, die unter der Last der Erwachsenenwelt zusammenzubrechen drohten, ging er davon.

      „Was ist hier los? Was macht ihr da?“, bellte eine Stimme die Anwesenden an und zog die Aufmerksamkeit auf sich. Ambers Stirn kräuselte sich, zu einer steilen Falte über ihrer Nase. Die Art, wie der Näherkommende sich bewegte kam ihr bekannt vor. Außer John Wayne kannte sie nur einen, der die Hüften so versteifte, wobei die Beine vorausgriffen, als ob das, was dazwischen hing, besonderen Schutz erforderte. Ihr Blick tastete ihn ab.

      Seine Gesichtsfarbe glich Spülwasser, sein Mund verkniffen und anstelle der Grübchen hatte er nun Furchen. Die Lachfältchen um die rotunterlaufenen Augen stammten aus einem anderen Leben. Gereizt schob er eine Locke aus der Stirn und musterte die Männer. Der coole Individualist, mit der animalische Anziehungskraft war verblast. An seiner Stelle stand ein Typ, der Stahl fressen würde, sodass ihr der freundliche Gruß im Hals stecken blieb. Er war breiter geworden.

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