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heute wirst du gehenbleiben. Gertraud Löffler
Читать онлайн.Название heute wirst du gehenbleiben
Год выпуска 0
isbn 9783749794089
Автор произведения Gertraud Löffler
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Sonntag, 22. April. Der Deal
Hatte diese Lizzy Recht oder Unrecht?
Saß er wirklich im Museum seines eigenen Lebens?
Sie hatte Freitag Abend ordentlich in seiner Persönlichkeit gewühlt und verbal ganz schön auf den Putz gehauen. Das muss man ihr lassen, dachte Martin. Ein klein wenig Anerkennung schwang mit. Der Zettel gestern vor seiner Türe hatte ihn umgehend wieder nach drinnen befördert. Verschoben auf Sonntag siebzehn Uhr gleicher Ort, gleiche Zeit war darauf gestanden. Er, der ausgehfertige Vollhorst, hatte sich vor die Türe pfeifen lassen und war auf Anweisung wieder in der Wohnung verschwunden. Na dann, Sonntag. Warum ließ er sich nur auf so einen Schwachsinn ein? Wollte sie wirklich einen Deal oder ein amouröses Abenteuer? Er sah aus dem Fenster. Die morgendliche Straße war menschenleer. Nur eine mausgraue Katze überquerte unschlüssig im Zickzackkurs die ebenso graue asphaltierte Fläche. Sie schnupperte kurz an einem Fleck, der vielleicht noch das Aroma vom Ableben einer Stadtkrähe ausdampfte, und änderte erneut ihren Kurs, um am weißen Mittelstreifen entlang zu tappen.
Tiere beachteten eben keine menschengemachten Vorschriften, zu denen definitiv auch all die Fahrschulbögen füllenden Verkehrsregeln gehörten. Tiere befolgten keine Richtlinien, sondern folgten ihrem Instinkt. Um wieviel komplexer war doch ein Menschenleben! Alleine die Entscheidungsfindungen! Wie oft verheddert sich unsere Spezies in einem Knäuel endloser Gedankenspiele über Für und Wider? Vor allem mit zunehmendem Alter.
Den harten Aufprall im Erwachsenenleben hatte Martin noch in Erinnerung. Der Übergang war keineswegs so fließend wie der Weg bis dahin. Meter für Meter hatte er Schularten und Klassenstufen in warmem Wasser durchschwommen in der vorgegebenen Zeit und hindernisfrei. In aller Seelenruhe war er lautlos in der Schulumlaufbahn gekreist und hatte nie einen Gedanken daran verschwendet, dass diese Umdrehungen nur das Schwungholen darstellten, bevor man jäh wie ein Schleuderball aus dem System geschmettert würde. Voller Stolz über sein bestandenes Abitur war er bei der Zeugnisverleihung in der schmucklosen Aula des Schillergymnasiums nach vorne geschritten, als er seinen Namen gehört hatte. Ihm wurde zugelächelt, das Stück Papier in die Hand gedrückt und dann wurde ihm spontan per Mikrophon die Frage gestellt, was er denn einmal werden wolle. Keiner vor ihm war derart überrumpelt worden. Was war nur in den bekloppten Schulleiter gefahren, plötzlich von der stummen Zeremonie abzuweichen? Es hätte so einfach sein können. Aufstehen, Hand schütteln, Zeugnis, hinsetzten. Die Ruckhaftigkeit dieser Frage traf ihn wie eine Faust in die Magengrube. Hunderte von Leuten blickten ihn damals an und warteten auf Antwort. Ja, was wollte er eigentlich mit diesem Zettel anfangen? Mit einem Mal war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen, dass er nicht hierbleiben und so weitermachen konnte wie bisher. Er musste erwachsen werden. Diese Erkenntnis hatte ihn wie ein schroffer Schlag getroffen. Eine Ewigkeit hatte sich das Mikrophon unter sein Kinn gebohrt und versucht, eine Antwort zu erzwingen. Die Flüssigkeiten seines Körpers waren nach unten in die Knie gewichen und zeitgleich die Temperatur in seinem Schädel nach oben geschnellt. Wie ein Erstklässler hatte er dagestanden, während die Peinlichkeit nach seinen Eingeweiden griff. Selbst heute nach so langer Zeit konnte er die Hitzewelle noch spüren, die ihn damals in der Aula erfasst hatte. Martin wischte sich die feuchten Handflächen an der Hose ab und tastete nach dem Lichtschalter.
Die Deckenbeleuchtung verscheuchte die Dämmrigkeit, die der wolkenverhangene Himmel mit sich brachte. Ohnehin könnte ein wenig Helligkeitsbalsam gegen düstere Bilder im Kopfkino nicht schaden. Das Licht tat ihm gut. Kleine Tat, große Wirkung. Wie vergleichsweise leicht angesichts dessen, was Lizzys wagte, seit sie abgehauen war. Das Gespräch vorgestern hatte ihn mehr aufgewühlt, als er dachte. Sturmtief Lizzy hinterlässt Schäden in Millionenhöhe, stellte der Nachrichtensprecher in Martins Kopf mit sachlicher Stimme fest. Genügend Wirbel hatte sie tatsächlich schon in sein Leben befördert. Auf diesem Sofa hatte sie gesessen. Fehlte da eins der Dekokissen?
Quatsch. Wo sollte es auch hingekommen sein. Martin strich den Bezug an der Sitzfläche glatt und gab dem verbeulten Sofakissen einen freundschaftlichen Klapps. Fast hing ihre physische Wärme noch im Polster und er konnte die blütenfrische Vanillenote ihres Parfums noch im Raum wahrnehmen.
Der Engel, der hier noch duftig in der Luft schwebte, hatte einen teuflischen Plan. Einen, in den man gehörig verstrickt werden konnte…
Sonntag, 22. April. Lizzys Parkleben
Zusammengekauert wie ein Igelbaby lag Lizzy in ihrem Schlafsack und tastete schläfrig nach einem kleinen Kiesel, der ihr in den Beckenknochen drückte. Fahles Morgenlicht drang durch ihr selbstgebautes Minifenster zwischen den Brettern. Die morgendliche Feuchtigkeit von draußen kroch durch die Ritzen der morschen Hüttenwand und vermischte sich mit der modrigen Atmung des in die Jahre gekommenen Holzes. Der Geruch erinnerte an ein altes Bootshaus. Sie rollte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf.
Rein messbar war es empfindlich frisch, aber ein taffes Mädchen in ihrem Alter fror Gott sei Dank nicht so schnell. Die Kälte packte eher ihren Abenteuergeist beim Schopf und trieb ihre inneren Turbinen auf Hochtouren. Erzeugte ein kraftvolles Gefühl von Unabhängigkeit, dessen wärmende Intensität sie so bisher nie kennen gelernt hatte. Natürlich wartete zu Hause der Komfort eines Boxspringbettes, eines Morgenkaffees und eines wohltemperierten Badezimmers mit Wellnessregenwalddusche. Aber hier in ihrer Dschungelbehausung genoss sie den Status, Königin ihres eigenen kleinen Reiches zu sein. Lizzy sog die Luft ein und genoss das Kitzeln in der Magengegend, das ihr Trip immer öfter in ihr auslöste. Sie richtete sich auf, streckte sich und griff nach dem Rucksack in der Ecke. Vorsorglich hatte sie noch in der Küche ein großes Stück Brot und einen Apfel aus Martins gut gefüllter Obstschale heimlich in ihren Rucksack wandern lassen, als sich der Hausherr frustriert mit Weinflasche Richtung Wohnzimmer verzogen hatte. In solchen Situationen galt es geistesgegenwärtig zu handeln, schließlich musste sie für ihren Unterhalt im Moment selbst aufkommen. Illegale Spenden dieser Art waren natürlich herzlich willkommen. Im Geiste ging sie ihren Tagesplan durch. Schlafsack und Rucksack unter dem Tresen verstauen, um beides vor neugierigen Blicken zu verbergen, falls doch irgendwer auf die unwahrscheinliche Idee kommen sollte, an den vernagelten Brettern vorbei einen Blick ins Innere der Hütte zu erhaschen. Spurenbeseitigung war oberste Prämisse. Dann Katzenwäsche am Brunnen und Wasser zapfen. Danach würde ihre kurze Morgenrunde folgen. Trimm-dich-pfand, wie sie ihn scherzhaft nannte. Sie wollte definitiv die Erste sein, die die gläsernen besten Freunde der abendlichen Parkbesucher, die sie in den Müllbehältern hinterlassen hatten, abgriff. Ihre zweite Runde pflegte sie abends gegen sechs auf ihrem Rückweg vom ZEITLOS zu machen, da in dieser Tagesetappe die nachmittäglichen Parkbesucher bereits weg, die Penner aber noch nicht aufgekreuzt waren. Oft quollen die Glas- und Plastikflaschen derart aus den Behältern, dass Lizzy mehrfach ausrücken musste. Aber sie tat das gerne, genoss sie doch den Spaziergang und den Nutzen, den sie daraus zog. Schließlich spülte dieser Wertstoffkreislauf Kleingeld in ihre Haushaltskasse, was die täglichen ZEITLOS-Aufenthalte inklusive Ladezeit sicherte. Im Übrigen müssten Lizzy ohnehin keine Geldsorgen plagen. Von ihrem eigenen Ersparten hatte sie einiges mitgenommen und als Notgroschen zusätzlich zweihundert Euro aus der Schublade im Flur stibitzt. Was aber völlig in Ordnung war, schließlich handelte es sich bei diesem Geldtransfer eher um eine Art Haushaltskassensummenverschiebung, gerechtfertigt durch örtliche Abwesenheit eines von drei Familienmitgliedern, als um handfesten Diebstahl. Wichtig war, dass man immer etwas auf der hohen Kante hatte, trotz täglicher Ausgaben. Und für Lizzy bedeutete der regelmäßige Cafébesuch viel, nachdem er eine Möglichkeit war, unauffällig am normalen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
„Autsch! Blödes Ding!“
Eine vorstehende Schraube unter ihrem rechten Schulterblatt bohrte sich schmerzhaft in ihre Gedanken, sodass sie sich gerne entschloss, in den Tag zu starten. Als sie aufstand, merkte sie, dass auch in den übrigen Knochen noch der steife Abdruck des harten Kioskbodens steckte.
„So, Lizzy, keine Müdigkeit vorschützen.“
Es