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nicht. Immer wieder hatte sie diese unerklärlichen Fieberschübe. Den Kinderarzt hatte sie mit ihren tausend Fragen bereits an den Rand seiner Kompetenzen gepresst und suchte ihn deshalb gar nicht mehr auf. Mit gespielter Ruhe würde er sie beide nur ein weiteres Mal mit Allgemeinweisheiten abspeisen, dabei auf seinem Arztstuhl sitzen und mit dem Fuß auf und ab wippen und sich in nervös gelangweilter Fingerakrobatik mit dem Kugelschreiber üben. In steter Bewegung am ganzen weißkitteligen Doktorenkörper, sprungbereit zu einer von den Diagnoselisten der Krankenkassen nicht vorgesehenen Flucht ins Blaue. Abarbeiten des Fragekatalogs. Vermutungen. Erklärungsversuche. Es sei nur ein Entwicklungsschub, manche Kinder hätten Albträume, manche Fieber, ob es Konflikte im Kindergarten gebe mit anderen Kindern. Für Ina bedeuteten medizinische Themen ein Maschenwerk aus Fragezeichen, woran einzig und allein die Gewissheit geknüpft war, sich als fachlicher Zwerg in diesem riesigen wissenschaftlichen Mysterium nur hoffnungslos zu verheddern. Für Spezialisten fehlten schlicht und ergreifend Zeit und Geld und so beschrieb seit einem Jahr eine Fieberkurve das schwankende Auf und Ab ihres kleinen Familienlebens. Glücklicherweise folgten die freien Intervalle in verhältnismäßig langen Distanzen, sodass sich zwischenzeitlich so etwas wie gesund geglaubte Normalität über alle Sorgen legen konnte. Bis zum neuen Schub. Es fühlte sich an wie sommerliche Hitze, feucht, gewitterschwer, Unheil verkündend. Der glänzende Film auf der feinen Haut ihrer Tochter und die dampfige Luft, die bei jeder angestrengten Ausatmung aus der Bettdecke entwich, sprachen Bände und verlangten nach genesendem Schlaf. Trotzdem würde sie ihre Tochter wecken müssen, würde sie in den Fahrradanhänger setzen und sie mit ins ZEITLOS nehmen. In der Küche gab es eine kleine Ecke mit Decken und Kissen, wo des Öfteren ein kränkelndes Kind zwischen Stofftieren hervorlugte. Obwohl zerbrechlich, und ein wenig zu klein für ihr Alter, war Sophie ein süßes Mädchen. In die Schule ging sie noch nicht. Erst im Herbst würde es soweit sein, was das Betreuungsproblem vermutlich verschärfte. Ina liebte den Anblick ihrer Tochter. Sie hatte krauses dunkles Haar und blaue Augen, eine seltene Kombination, und unzählige kleine Sommersprossen in dem sonst blassen Gesicht. Heute aber klebte das Haar flach und feucht an der Stirn und die Lider waren geschlossen. Es ging ihr schlecht, das sah ein Blinder. Glücklicherweise gab es Josepha, die Küchenhilfe. Sie reichte in solchen Fällen regelmäßig Tee, wenn Sophie auf dem Krankenlager lag, und Ina konnte ihrer Kleinen ab und an zumindest über die Stirn streicheln oder im Vorbeigehen aufmunternd und liebevoll zulächeln, was von den Besuchern unbemerkt blieb. Wie weggeblasen verschwand jedes Mal an der Türschwelle zum Gastraum der fürsorgliche Glanz in Inas Augen und wurde ersetzt durch dunkle Schatten unter den Lidern, während die Mundwinkel versteinerte Freundlichkeit lieferten. Sie hatte keine Wahl. Sie musste auch heute unter diesen Umständen zur Arbeit gehen, sie brauchte das Geld. Ein Babysitter war eindeutig zu teuer und sie konnte die monatliche Miete nicht aus dem Ärmel schütteln. Beatrice, die Besitzerin des Cafés, war Gott sei Dank selten da und wenn nicht gerade wieder ein Journalistenteam im Laden aufkreuzte und alle Abläufe durcheinanderwirbelte, um für irgendein Szenemagazin einen völlig überflüssigen Artikel über das ZEITLOS zu schreiben, dann könnte sie Sophie unbemerkt in der Küche auf ihr Krankenlager legen. Josepha hielt dicht. Ina rieb die heißen Schultern und Sophie blickte ihr aus einer fernen gläsernen Welt entgegen, bis sie verstand, wo sie war.

      „Aufstehen, mein Schatz.“

      Ina lächelte tapfer und Sophie lächelte matt zurück.

      Samstag, 21. April. Neues Zuhause

      Ein wenig komisch hatte sie bestimmt ausgesehen. Das hätte Lizzy zugegeben, wenn sie gefragt worden wäre. Mit einer Wolldecke unter dem Arm und einem Kissen über die Grünflächen eines Mehrfamilienhauses zu schlendern, wie eine früh morgens entsorgte Geliebte, musste ein ungewohnter Anblick für die Nachbarschaft sein. Gott sei Dank war sie bekleidet gewesen. Im Film hätte sie wild fuchtelnd zu einem der geöffneten oberen Fenster bei Herrn Steiner eine ganze Litanei an F-Wörtern hinaufgeschrien, hätte sich die Wolldecke notdürftig um ihren entblößten Körper geschlungen und hätte zum Showdown noch einen ihrer Schuhe nachgeworfen. Alle Passanten hätten sofort für sie Partei ergriffen, ohne zu wissen, worum es in diesem Streit ging, und hätten kopfschüttelnd und verachtungsvoll den doppelt so alten Herren im oberen Stockwerk angeblickt. Schämen solle er sich, so ein junges Mädchen. Perverses Schwein!

      Schmunzelnd hüpfte das arme missbrauchte Mädchen die Straße entlang und warf triumphierend einen Blick auf die gekaperten Haushaltsgegenstände. Diese werden den Wohncharakter ihres schmucken Singlehäuschens deutlich aufwerten. Heute Morgen hatte dieser Martin im Wohnzimmer ganz schön lange vor ihr gestanden, während sie „schlief“. Die überlebenswichtige Kulturtechnik des Sich-schlafen-stellens lernt man bereits als Kind kurz nach dem Lesen und Schreiben und perfektioniert sie als Teenager in der Zeit, in der das Lügen jederzeit zwischen zwei Sandwichhälften passt. Kurz nachdem ihr Gastgeber im Bad verschwunden war, hatte sie sich schnellstmöglich angekleidet, eine der beiden Kuscheldecken samt einem Dekokissen gepackt und durch das Fenster auf die Rosenspaliere neben dem hübschen Grünbereich geworfen. Bereit zur Flucht hatte sie in aller Eile den Rucksack mit einer kleinen Stumpenkerze und einem Feuerzeug befüllt. Immer mit einem Ohr bei den Gebrauchsgeräuschen von Wasser und Seife im Badezimmer. Hektisch hatte sie noch ein paar Nüsschen vom Vorabend hineingestopft und eine Packung Taschentücher, die herumlag, bis sie ein dumpfes Poltern und das gurgelnde Rauschen der Toilettenspülung in Alarmbereitschaft versetzt hatte. Rucksack schultern, schnelles Verabschieden mit Unschuldsmiene, Warenannahme unten am Rosenstrauch und auf und davon.

      Es würde ein herrlicher Frühsommertag werden. Die Sonne nagte die ersten Löcher in die dünnen Nebelschwaden der Morgenluft. Die schienen sich nicht dagegen wehren zu wollen. Der ganze Tag gehörte nur ihr allein, zumindest bis siebzehn Uhr. Ein herrlich leichtes Gefühl, das sich elastisch auf ihre Gangart übertrug. Lizzy sog durstig die klare Luft in ihre Lungen, als könnten sie sich nicht satttrinken, und hüpfte über den Kies unter ihren Füßen.

      Eine Weile später kam sie am Kiosk an. Zuhause an ihrem Kiosk. Im Park musste sie immer wachsam sein, wenn sie vermeiden wollte, dass ihr beim Betreten der Behausung jemand auf die Schliche kam. Geschmeidig kroch sie in die Luke und landete halb rutschend halb polternd in der Hütte. Da würde sie am Komfort noch ein bisschen feilen müssen.

      Das weiche Knäuel aus Decke und Kissen schob sie samt Rucksack unter die Theke im vorderen Bereich unterhalb des Fensters. Zugunsten von mehr Tageslicht hatte sie vorsichtig eine Latte der Vernagelung entfernt, sodass gedämpftes Licht ins hölzerne Innere fiel. Lizzy ließ die Aufräumarbeiten der letzten Tage Revue passieren. Mit einem liegen gebliebenen Handbesen und einer kleinen Schaufel hatte sie den Insektenfriedhof von den Holzdielen gefegt, die Spinnweben entfernt und aus ein paar Bierkästen eine Sitzgruppe gestaltet, wobei fraglich war, wer hier außer ihr sonst noch sitzen sollte. Im hinteren Bereich schloss sich eine winzige Kammer an. Vermutlich eine Art Getränkelager oder Vorratsraum. Leer und fensterlos war sie ein idealer Ort, um abends unentdeckt mit dem Lichtassistenten ihres Handys noch zu lesen bis kurz vor Akkuende.

      Ganz leer durfte er nie werden. Reine Sicherheitsmaßnahme gegen spontane Kommunikationsversuche aus ihrem früheren Leben. Ihr Mobiltelefon fungierte als eine Art Nabelschnur zur ursprünglichen Marie-Elise Haller-Welt. Regelmäßiger Austausch sollte ihrer Mutter das Gefühl geben, sie wäre zu Hause immer noch zentrale Schaltstelle und Nahrungsgeber mütterlicher Fürsorge. Den nötigen Strom sicherte ihr der tägliche Siebzehnuhrbesuch im Café ZEITLOS. Ladebuchsen päppelten dort elektrische Geräte auf und Kakao ihre Besitzer. In Gedanken sah sie sich schon heute spät abends gemütlich in die neue Decke eingekuschelt und mit Martins Dekokissen unter dem Bauch. Mit der stimmungsvollen Beleuchtung der Stumpenkerze würde ihre Kammer eine Aufwertung zum vollwertigen Wohnraum erhalten. Wie sehr man sich über wachsenden Komfort freuen konnte! Mit einem Mal beschlich Lizzy ein seltsamer Gedanke. Egal in welcher Lage sich ein Mensch befand, ein Teil von ihm sorgte immer ein Stück weit für Normalität, einen Rest Struktur und Ordnung. Vielleicht war dieser Bankmartin gar nicht so merkwürdig. Eventuell hatte ihn nur die Masse an selbst auferlegten Ordnungsgeboten eingebacken und zum Stillstand gebracht. Mal sehen, wie er auf ihren Plan reagieren würde. Die Vereinbarung hatten sie gestern Abend mit Handschlag besiegelt, ohne groß auf Details eingegangen zu sein. Ordentlich Schlagseite hatte Martin gestern gehabt. So betrunken hätte er sowieso die Einzelheiten vergessen. Sie hatte vor allem ihm eingeschenkt und sich selbst immer

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