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ich sie aufmuntern, wenn ich es nicht einmal schaffte, mir selbst zu helfen? Raphaela hatte es gemeistert, das wimmernde Mädchen zu beruhigen – bis kurz darauf auch die letzte Träne aus ihrem Gesicht verschwunden war. Die restlichen Kursteilnehmer wirkten betroffen, aber blieben auf Abstand ohne ein Wort zu sagen. Eingehüllt in eine selbstentworfene unsichtbare Glaskugel versuchten wir den fremden Schmerz nicht zu nahe an uns heranzulassen – in der Hoffnung, unsere Wunden würden von selbst verblassen, solange niemand diese Wände einriss. Obwohl uns natürlich bewusst war, dass es notwendig war diese Wände niederzureißen – sonst hätten wir schließlich nie eine Therapiesitzung besucht. Wir waren alle kaputte Seelen, versteckt unter Schminke, Haargel und gebleichten Zähnen.

      »Ich hatte früher schreckliche Wutausbrüche.«, warf Finley in die Runde. »Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle.« Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen während er murmelte, dass er aufgrund seines unkontrollierbaren Zorns den Menschen verloren hatte, den er am meisten liebte. Der junge Mann wimmerte, wie sehr er sich dafür hasse. Er schüttelte seinen Kopf, als könne er so die Realität ausblenden. Finley schluchzte in seine Hände: »Ich habe sie verloren. Ich werde sie nie wiedersehen.« Er wiederholte diese zwei Sätze so oft, dass die Worte, nachdem er Schließlich verstummte, noch immer einige Zeit in meinen Gedanken nachhallten. Ich konnte Blut schmecken.

      Schließlich erklärte auch Joris seinen Schrei nach Hilfe. »Ich werde fertig gemacht.«, sprach er ohne eine Miene zu verziehen. »Täglich.« Der Junge erklärte, dass all seine Freunde sich von ihm abgewandt hatten als das Mobbing in seiner Schule begann. Ein gutes Beispiel dafür, dass viele Menschen ihre eigene Schutzhülle ungern auch nur minimal einreißen, um jemanden, der es viel nötiger hat, auch nur ein kleines Stück davon abzugeben. Er verschränkte seine Arme vor seinem Körper, während er sich bemühte, dem Augenkontakt auszuweichen. »Ich habe mich bereits an meine Lehrer gewandt.«, fuhr Joris fort. »Doch es wurde nur schlimmer.« Der Junge sprach von schaflosen Nächten und dem Wunsch, alles ein für alle Mal zu beenden. Bis jetzt hatte keiner der Kursteilnehmer diese Worte so direkt ausgesprochen – doch ich konnte spüren, wie sie uns doch eigentlich allen auf der Zunge lagen. »Selbstmord ist nie eine Lösung.«, schritt Raphaela geschockt ein. »Darüber solltest du nicht einmal nachdenken.«

      Gedankenversunken musterte ich den Jungen vor mir. Er trug blaue Jeans und ein weißes T-Shirt, seine Haare waren gepflegt und seine Worte waren ehrlich. Ich konnte keinen Grund finden, weshalb man sich über ihn lustig machen könnte. Joris war ein ganz normaler Mensch – so wie du und ich – der ohne bestimmten Anlass rausgepickt wurde, um der Boxsack geplagter Kinder zu werden. Obwohl es mich interessierte, wie es dazu gekommen war, hätte ich nie nachgefragt. Jeder sollte selbst entscheiden, wie und wann er seine Geschichte erzählen möchte – und was er lieber für sich behält.

      Raphaela redete noch immer auf ihn ein. Wieso ist der Wunsch nach dem Tod ein solches Tabuthema? Wäre mein Bruder vielleicht noch am Leben, wenn er sich getraut hätte, über sein Vorhaben zu reden? Ich bin mir sogar ganz sicher, dass jeder Mensch irgendwann in seinem Leben über Selbstmord nachdenkt – wenn auch nicht immer mit vollem Ernst. Denn schlussendlich ist und bleibt der Tod doch immer das Einzige im Leben, was hundertprozentig sicher jede Art von Schmerz heilt, wenn Medikamente ihre Grenzen erreichen. Doch solange noch ein Funke Hoffnung besteht, die kleinen magischen Momente des Lebens wieder genießen zu können, sollte man nicht aufgeben. Man würde nie erfahren, welche Wunder die Welt noch für einen bereitgehalten hätte. Trotzdem ist der Tod eine Art Ausweg, der immer offen bleibt, wenn dir das Leben eine solch unerträgliche Last auf den Rücken kettet, dass deine Sonne zu brennend heißer Lava wird und dein Alltag sich in deine eigene persönliche Hölle verwandelt. Grübelnd über die verbotenen Genüsse des Todes beobachtete ich noch immer den blassen Jungen vor mir. Plötzlich trafen sich unsere Blicke. Ich vermeinte, ein kleines Schmunzeln auf seinen Lippen erkennen zu können.

      »Das Leben ist nicht fair.«, brodelte sowohl Trauer als auch Wut in mir. Ich starrte in drei verzweifelte Gesichter wie in einen Spiegel, der mir zeigen wollte, was ich mir selbst über die letzten Jahre angetan hatte. Ich musste einen Schlussstrich ziehen. Wir mussten alle einen Schlussstrich ziehen. Wieso gaben wir uns keine zweite Chance, das Beste aus unserem Leben zu machen? Oder hat unsere Vergangenheit unsere Wahrnehmung so sehr verzerrt, dass uns diese Chance genommen wurde?

      Als ich mich in diesem Moment dazu entschloss, alle Teilnehmer auf ein Getränk in unsere Bar einzuladen, erschien meine Introvertiertheit wie weggeblasen. Möglicherweise war in meiner Isolation doch noch Raum für ein paar mehr Personen? Zu meiner Überraschung nahmen sie alle meine Einladung erfreut an.

      Der Holzboden knarrte als Finley den Stuhl zurückschob, um sich zu setzen und folgende Worte an mich zu richten: »Ihr habt hier ein sehr schönes Lokal aufgebaut« »Dankeschön.«, gab ich zurück. Die ersten Minuten waren gefüllt mit immer wiederkehrender peinlicher Stille, unterbrochen von uninteressantem Smalltalk, der uns allen offensichtlich sehr viel Anstrengung kostete. »Ich werde schnell eine Flasche Sekt aus dem Lager holen.«, warf ich ein, in der Hoffnung, der Alkohol würde mir helfen, meine nichtexistenten sozialen Fähigkeiten vorzutäuschen. »Geht auf‘s Haus.« Ich schnappte mir einen Sekt, der teuer genug war, um gute Qualität zu besitzen, aber trotzdem noch billig genug, dass seine Absenz meinem Vater nicht auffallen würde. »Wieso habt ihr euch eigentlich dazu entschlossen, eine Therapie zu machen?«, wollte Ramona schließlich wissen. Endlich wurde das Gespräch interessanter. »Ich habe sonst niemanden, mit dem ich über solche Dinge reden könnte.«, gab Joris zurück. »Und ich werde mich nicht aufgeben, bevor ich nicht jede erdenkliche Möglichkeit ausprobiert habe, die mich retten könnte.« Stille. »Wie fällt es dir so leicht, solche privaten Gedanken zuzugeben?«, hakte Finley nach. »Tut es nicht.«, antwortete Joris so ehrlich wie immer. »Doch wie ihr bereits wisst, bin ich ein Mobbingopfer. Irgendwann wurde mir klar, dass es nicht mehr wichtig ist, was ich sage oder tue – sie würden alles so drehen, um es gegen mich verwenden zu können.« Für einen Moment schien der Junge zu überlegen, bevor er hinzufügte: »Ich werde nicht lügen und behaupten, dass die täglichen Beleidigungen mir nicht weh tun. Doch immerhin habe ich nicht mehr das Bedürfnis, es jedem recht zu machen. Erst wenn man ganz unten angekommen ist scheint man frei zu sein, zu sagen und zu tun was man will.« Verblüfft über seine intelligenten Worte wurde er von allen Anwesenden mit großen Augen gemustert. »Wie kannst du bei all den Qualen nur so positiv bleiben?«, fragte ich ihn. »Ich soll positiv sein?«, lachte Joris. »Ich habe erst heute Vormittag meine Selbstmordgedanken offen zugegeben.« Ramona brachte sich in das Gespräch ein: »Wenn wir ehrlich sind, haben wir doch alle diese Gedanken.« Alle Anwesenden nickten. Niemand sagte ein Wort. Plötzlich verwandelte sich die ernste Ruhe in düsteres Grinsen. »Eigenartig wie der Tod oftmals mehr verbindet als das Leben.«, warf Joris ein. »Der Tod ist immer ehrlich.«, gab ich zurück. Noch immer schmunzelnd stellte Ramona fest: »Wir sollten unsere eigene Therapiegruppe gründen.«

      So wurde aus meinem einsamen Geburtstag eine spontane Feier bis mitten in der Nacht und aus der Isolation entstand eine Gruppe einzigartig ehrlicher Freunde. Was hätte ich mir mehr gewünscht?

      Kränkende Worte bleiben auch mit Freunden an seiner Seite schmerzhaft, doch es wird einfacher damit umzugehen.

      Wir kannten alle das Gefühl, dass mit dem Finger auf uns gezeigt wurde.

      »Das ist der Junge der keine Freunde hat.«

      »Dieser Junge soll wahnsinnig aggressiv sein, halt dich von ihm fern.«

      »Das ist das Mädchen, dessen Mutter an Krebs starb – angeblich leidet sie seitdem unter schlimmen Angststörungen.«

      »Der Bruder dieses Mädchens hat Selbstmord begangen – irgendetwas stimmt nicht mit dieser Familie.«

      Während diese Worte in unserem Gedächtnis tiefere Wurzeln geschlagen hatten als der Ohrwurm aus der Pudding-Werbung, hatte unser Unterbewusstsein hart daran gearbeitet uns zu überreden, es zu überhören. Solange bis uns der nächste psychische Keulenschlag traf und der kleine Brennesselstrauch in unserem Kopf – wie auf Kommando – jederzeit zum wiederholten Abruf bereit war.

      Doch das, was dir zugestoßen ist, bist nicht du – es definiert dich nicht.

      An diesem Abend wurde mir klar, dass nur eine einzige Person,

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