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wie endlich all die Dinge sind, die ich als selbstverständlich hinnehme?

      Es gab keine große Feier, aber ein nettes Essen mit meinen Eltern und eine unerwartet schöne Überraschung. Während dem Frühstück saßen wir gemeinsam in unserer kleinen Küche – was seit dem Tod meines Bruders nur noch sehr selten geschah. Es war nicht zu übersehen, dass sich meine Eltern sehr bemühten, um mir einen schönen Geburtstag zu ermöglichen. Grinsend überreichte mir meine Mutter ein großes Paket, eingewickelt in blaugrünem glänzendem Papier. Meine Eltern lächelten so breit, dass es fast aufgesetzt schien. In dem Präsent verbarg sich eine Schreibmaschine – altmodisch, aber unglaublich faszinierend. Ich habe mich wahnsinnig gefreut und fiel ihnen in die Arme. Mit dieser Maschine hinterließ das Schreiben ein ganz neues Gefühl. Es geschah viel bewusster. Ich verliebte mich in den Klang, den die Tasten hinterließen, wenn ich auf sie eintippte, und ich würde die einzigartigen Buchstaben auf greifbarem Papier nicht mehr freiwillig gegen einen Bildschirm eintauschen. Als ich begann die kleinen Wunder des Alltags zu erkennen hat sich mein Leben verändert. Ich glaube, dass die bedeutenden Dinge dieser Welt unter all der Hektik und dem Druck untergehen. Wir wollen immer mehr und vergessen dabei auf das, was direkt vor unserer Nase passiert – das Leben.

      Seinen eigenen Vater als Chef zu haben hat den Vorteil, dass der eigene Geburtstag als Feiertag angesehen wird. Ich musste an diesem Tag nicht in der Bar aushelfen und hatte damit einige Stunden für mich alleine. Als meine Eltern die Tür hinter sich schlossen wurde es in unserem Haus so leise, dass ich mir einbildete, unsere Holztreppe krächzen zu hören.

      Einsamkeit eröffnet dir meist eine ganz neue Form von Wahrnehmung – Geräusche, die für dich normalerweise nicht existent sind, werden auf einmal ohrenbetäubend laut. Ist der Grund dafür Angst – ein angeborener Überlebensinstinkt – oder eine als lebenswichtig intensiv empfundene Pause von all den Geräuschen, die den restlichen Tag über sogar deinen eigenen Herzschlag übertönen – oder ist es vielleicht beides?

      Meine Eltern versprachen mir, dass wir am Abend dieses besonderen Tages etwas unternehmen würden – was auch immer ich wollte. Während ich überlegte, wie ich meinen Geburtstag gestalten sollte, starrte ich auf die alten zeitlosen Tasten meiner neuen Schreibmaschine. Ich begann zu tippen:

       »Das ist die Geschichte von Kamilla Lorain – noch ein Jahr älter – noch immer nicht reifer – noch immer auf der Suche nach dem richtigen Weg. Wo bin ich falsch abgebogen?«

      Ich kaute auf meiner Unterlippe – eine schlechte Angewohnheit, die ich leider nicht los wurde. In Gedanken an vergangene Geburtstage starrte ich auf meine dünnen Finger. Das Aroma von Blut stimulierte meine Geschmacksknospen als ich über meine Unterlippe leckte. Diesen Tag hatte ich immer mit meiner Familie, speziell mit meinem Bruder, verbracht. Ganz ohne Vorwarnung überfluteten die Erinnerungen meine Gedanken und hinterließen einen Tornado aus Unsicherheiten in mir.

      Es war der neunzehnte Juli 2015 – der letzte Geburtstag, den ich mit meinem Bruder verbracht hatte. An diesem Tag bin ich 18 Jahre alt geworden und hatte noch keine Ahnung, wie bald sich alles verändern würde. Ich hatte Sommerferien und konnte so lange schlafen wie ich wollte. Ich wurde von einem wunderbaren schokoladigen Duft geweckt. Mein Bruder hatte mir einen Kuchen gebacken, wie er es auch jedes Jahr zuvorgetan hatte – nicht dieses. Er hatte als Koch gearbeitet – Noah war der beste Koch gewesen, den ich kannte. Als ich in die Küche gekommen war stand bereits ein wunderbares Frühstück vor meiner Nase. Meine ganze Familie war gemeinsam am Esstisch gesessen – etwas so Simples, aber doch so besonders und nun unmöglich. Noah hatte es sich direkt vor mir gemütlich gemacht und mir grinsend einen Umschlag überreicht. Voller Freude hatte ich sein Geschenk geöffnet – es waren Konzertkarten. Ich fiel ihm in die Arme. Er hatte einen Witz darüber gemacht, dass ich endlich weiterwachsen müsse, um auf die Bühne schauen zu können. Ich hatte genervt die Augen verdreht. Ich vermisse ihn so sehr.

      Ich rieb mir die Augen, während ich angestrengt versuchte, diese Erinnerungen wieder aus meinem Kopf zu verbannen. Es ist vorbei – so ist es jetzt. Er kommt nicht mehr wieder, aber ich bin immer noch da. Ich starrte noch immer auf meine zierlichen Finger. Ich bin immer noch da und kann ihm nicht für immer nachtrauern. Wann würde ich wieder damit beginnen, mehr an die Lebenden zu denken als an die Toten? Ich musste etwas ändern und beschloss, diesmal keine Ausreden mehr zu suchen, um es zu verschieben. Jetzt oder nie. Ich habe nur dieses eine Leben – aber wie lange noch?

      Ich starrte auf ein Infoblatt über eine Gruppentherapiesitzung, während ich mich in die hinterste Reihe des Buses kauerte. »Brauche ich das wirklich?«, sprang ein nervöser Gedanke durch meinen Kopf. Ich verbot mir für die restliche Zeit der Fahrt das Grübeln über die Sinnhaftigkeit dieser Entscheidung. Ich würde es probieren. Vielleicht würde es mir helfen – vielleicht auch nicht, doch was hatte ich zu verlieren?

      Kurze Zeit später saß ich zitternd mit vier weiteren besorgten Fremden in einem Kreis, während die freundliche Stimme der Kursleiterin versuchte, uns zu beruhigen. Die Frau hieß Raphaela. Sie hatte schwarze Haare, eine dunkle Haut und eine sehr angenehme Ausstrahlung. Nach einer kurzen Vorstellung erklärte die Psychologin, dass es sie sehr freue, dass wir uns dazu entschlossen haben, Hilfe zu suchen. »Über eure Probleme zu reden wird sie nicht sofort verschwinden lassen – aber es ist der erste Schritt zur Besserung.«, hatte Raphaela erklärt. »Und dieser erste Schritt ist der wichtigste – denn ohne ihn gibt es keinen Neuanfang.«

      Wahrscheinlich hätte ich damals nicht geglaubt, dass diese spontane und merkwürdige Entscheidung wohl eine der besten meines Lebens sein würde. Es war der erste Schritt des mühseligen Aufstiegs aus meinem selbstgegrabenen dunklen Loch. Sonnenblumen haben mir beigebracht, dass der Trick für effizientes Wachstum darin liegt, den Blick nicht von der Sonne abzuwenden.

      Neben mir saß ein Mädchen mit dem Namen Ramona, das ich auf siebzehn Jahre schätzte. Sie hatte sehr blasse Haut, lange braune glatte Haare, volle Lippen und braune Augen. Ihr deprimierter Blick war dem Boden zugewandt. Gegenüber von mir kaute ein Junge namens Finley an seinen Fingernägeln. Ich schätzte ihn auf zweiundzwanzig Jahre. Er hatte goldblondes Haar, eine leicht gebräunte Haut und ein sehr attraktives Gesicht mit kleinen grünen Augen. Der andere Junge in der Runde hieß Joris und war um die neunzehn Jahre alt. Eine braune Lockenpracht, die in alle Richtungen abstand, schmückte seinen schmalen Kopf und verdeckte einen Teil seines Gesichts. Seine blasse Haut wurde von dunkelbraunen Augen verziert. Der Junge ließ seine Schultern bedrückt hängen. Die Teilnehmer schienen alle dem Augenkontakt auszuweichen.

      Es folgte eine einige Minuten andauernde Stille. Eine angespannte Stimmung erfüllte den Raum. »Komm schon Kamilla.«, sprach ich mir in Gedanken zu. »Sei ein einziges Mal in deinem Leben mutig.« Nachdem ich meinen Blick den weißen glänzenden Fliesen zugewandt hatte, begann ich zu reden. Ich sprach von meiner Trauer, meinen Ängsten und von meiner unendlich erscheinenden Suche nach Motivation, wieder an eine bessere Zukunft zu glauben. Meine Stimme zitterte als ich davon erzählte, wie ich morgens aufwachte, merkte dass Noah nicht mehr im Zimmer gegenüber schlief und mich der Gedanke daran so sehr lähmte, dass ich das Gefühl hatte, nicht mehr in der Lage zu sein aus meinem Bett aufzustehen. Ich verstummte. Der Gedanke an Noah machte es unmöglich, noch einen weiteren sinnvollen Satz hervorzubringen. Als ich kurz darauf meinen Blick vom Boden erhob und bemerkte, dass alle Augenpaare an mir hingen, wäre ich am liebsten aufgestanden und davongelaufen – doch ich blieb. Ich bin mir nicht sicher, ob der Grund dafür das befreiende Gefühl war, welches das Gespräch hinterlassen hatte oder doch die unendliche Trauer über den Tod meines Bruders, die mich erstarren ließ – unfähig mich zu bewegen – verwundert darüber, dass ich überhaupt noch in der Lage war, zuverlässig zu atmen.

      »Seit bereits über einem Jahr macht mir meine Angststörung mein Leben zur Hölle.«, begann Ramona zu erzählen. »Meine Mutter ist vor einigen Jahren verstorben.« Das Mädchen schluchzte während sie gegen ihre Tränen ankämpfte. Ramona schluckte sie hinunter und erklärte die Tragödie. Ihre Mutter hatte einige Zeit gegen Lungenkrebs angekämpft – fünf Jahre lang war Ramona nicht von ihrer Seite gewichen, bis ihre Mutter ihre Krankheit schließlich doch noch besiegt hatte. Doch ein Jahr später kam der Krebs zurück und beim zweiten Mal hatte die Frau nicht mehr genug Kraft. Fürchterlich. Schließlich weinte das Mädchen. »Seitdem werde ich von dieser schmerzhaften

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