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jedes Blatt seine besondere Zeichnung hat und doch erst der voll ausgebreitete Fächer das ganze Bild ergibt.

      Wer diese Strandboulevards im Auto durchfährt oder wenn er stundenlang zu marschieren bereit ist – entlanggeht, durchwandert eigentlich sechs oder sieben oder acht völlig verschiedene Städte. Da strahlen zuerst zur Linken der Avenida Rio Branco all die Straßen aus, die zum Hafen und damit in die Handelsstadt führen. Hier landen die großen Ozeandampfer, hier stoßen die Ferryboote nach den Inseln ab, hier füllt sich der farbenfunkelnde Markt mit Blüten und Früchten, hier wartet der Flugplatz mit seinen silbernen Schwalben, hier scharen die Docks und die Arsenale und die Kasernen der Marine sich zusammen; in neuer stolzer Gruppe erhebt sich der mächtige Block der zusammengescharten Ministerien, zwölf-, vierzehn-, sechzehnstöckige Bauten von neuzeitlichstem Charakter. Nach einem kühnen Plan ist beinahe die ganze Verwaltung des riesigen Reiches hier wie zu einem einzigen aufstrebenden Block vereinigt. Aber mögen auch Hafen und Geschäftsstadt und Verwaltungsstadt um ein paar Nuancen farbiger getönt sein als anderswo, die Physiognomie des Modernen wirkt hier noch international. Noch hat man die eigentliche, die persönliche Stadtschönheit Rios nicht gespürt, die weder im Nutzhaften noch im Historischen liegt, sondern in der unvergleichlichen Kunst, wie sie alle Gegensätze harmonisch zu lösen vermag.

      Die kostbare, nachts mit tausend Lichtperlen leuchtende Kette der Strandboulevards beginnt eigentlich erst, sobald man die Avenida verläßt; die Praça Paris, von der sie ausgeht, ist gleichsam ihre kunstvolle Schließe. Der Name Praça Paris ist nicht zufällig. Zweifellos haben die französischen Stadtarchitekten, die den Plan entwarfen, an den Place de la Concorde gedacht, wenn er abends mit den runden Bogenlichtern strahlte. Aber diese Praça Paris hat noch den Blick auf die Bucht mit ihren gegenüberliegenden Inseln und Bergen, Luxus des Städtischen verbindet sich dem Verschwenderischen der Natur in einem unvergeßlichen Bild. Zwischen das blaue Meer und die weißen Häuserreihen ist ein breiter Streifen Grün gestellt, und der Himmel ruht offen über den Wipfeln dieses Parks, durch den blau, rot, grün, gelb wie wildgewordene Tiere die Automobile und Autobusse sausen, ohne aber wie in den meisten anderen Straßen durch ihr Jagen und Heulen den Blick zu verwirren. Hier kann der Blick rasten und betrachten, was ihm beliebt. Die belebte Linie der Palácios und Hotels, die freie Bucht mit ihrem weißen Saum von Niterói und den Schiffen und Ferrybooten oder auf den Hügeln über den Häusern die weiße, noble, alte Kirche Nossa Senhora da Glória, die sich abhebt von den massigeren Hängen des wie eine Kulisse fern aufsteigenden Gebirges.

      Schon glaubt er alles umfaßt zu haben, dieser erste Blick, die ganze panoramische Schau, aber wie wenig erst hat er gesehen, wieviel erwartet ihn noch! Nach der Praça Paris verengert sich die Straße und drückt sich näher ans Meer als Avenida Beiramar und wird zur Praia do Flamengo. Hier waren früher die vornehmen alten Residenzen und blickten zwischen Gärten bescheiden aus einem ersten oder zweiten Stockwerk auf den Strand. Aber der Platz mit diesem freien Blick und der kühlenden Brise war zu kostbar. Elf und zwölf Stock hoch steigen jetzt in steiler zementener Front die Häuser empor, und die Riesenpalmen, die den früheren Gebäuden die Dächer beschirmten, reichen den neuen kaum mehr bis zu ihrer Brust. Der Blick auf die Bucht wird allmählich enger, denn gegenüber steht stolz – und nachts mit einer Lichtkrone geschmückt – der Pão de Açúcar, der Zuckerhut, ein mächtiger Fels, der den Eingang zur Bucht bewacht, und vor dem jedes Schiff demütig vorüberziehen muß, das in den Hafen will. Und wieder eine Wende, eine Kehre, und man ist in einer anderen Bucht, der von Botafogo. Verschwunden die freie Vista, man glaubt an einem von Bergen umstandenen See zu sein zwischen anderen Bergen und Hügeln als vordem, denn dies gehört zum landschaftlichen Geheimnis von Rio, daß seine Berge dank ihrer unregelmäßigen Formung von jedem Winkel aus gesehen eine andere Silhouette zeigen; was von Botafogo aus gesehen schroff wirkt, ist vom Flamengo aus gesehen lind, die eine Fläche desselben Felsens grün bewaldet, die andere nacktes Gestein, die dritte von Häusern bis zum Gipfel bestanden, und ebenso ändert durch das unablässige Zickzack die Bucht bei jeder Wendung ihre Konturen. In dieser Stadt der Vielfältigkeit wirkt dasselbe Meer, dasselbe Gebirge infolge der unbeschreiblichen Varietät der Ausblicke immer neu und überraschend. Statt dasselbe wiederzufinden, entdeckt man sich alles hier immer wieder von Anfang an.

      Und wieder zwei Straßen, und man ist unvermutet in einer anderen Bucht, der Praia Vermelha, die so versteckt in einem Engpaß zwischen den Felsen liegt, so abseits von den Wohnvierteln, daß ich Wochen brauchte, um sie zu finden. Und plötzlich ist alles wieder anders. Verschwunden die Stadt, verloren der Ausblick auf die Bucht. Keine Luxushäuser, kein Verkehr, keine Geschäftigkeit, nur Wellen und Fels und Strand und Stille. Unwillkürlich hat man das Gefühl, man sei am Ende seines Wegs, am Ende der Stadt.

      Aber man ist nur bei einem neuen Anfang, bei einem der vielen Anfänge, mit denen diese Stadt immer wieder überraschend beginnt. Nur eine Straße und ein Tunnel durch den scheinbar weglosen Felsen, und man findet sich plötzlich am Badestrand von Copacabana, diesem Super-Nizza, diesem Super-Miami, an dem vielleicht schönsten Strande der Welt. Unglaubhaft wie es klingen mag, jedoch mit diesen fünf Minuten von Rio nach Rio befindet man sich an einem völlig anderen Meer, in einer anderen Luft, in einer anderen Temperatur, als wäre man stundenweit gefahren. Und was man am Strande von Flamengo und der Avenida Beiramar gesehen, war wirklich ein anderes Meer, weil nur das Wasser der völlig umschlossenen Bucht, das Meer allerdings, aber ein gebändigtes, gefesseltes, geschwächtes Meer, das keine Kraft mehr hat zu wilden Wellen und trotz aller Breite und Weite keine deutliche Flut und Ebbe mehr aus sich zu holen vermag. Hier aber in Copacabana steht plötzlich die umsprühte, vom Wind umschlagene Stirn gerade gegenüber dem Atlantischen Ozean, und man weiß und fühlt, daß tausende Meilen weit bis hinüber nach Europa und Afrika nichts vor einem liegt als dies gewaltige Meer. Mächtig, grünschäumend wirft sich die Flut, Poseidons Gespann, mit den weißen Mähnen seiner Wasserrosse gegen den riesig breiten, helleuchtenden Strand. Der Donner umbraust einem die Ohren, und so stark ist dieser anprallende Schlag, so mächtig der Atem des Atlantischen Riesen, daß die verstäubte Luft dampft von Jod und Salz. So stark und durchsättigt ist sie von Ozon, daß, verwöhnt von der sonst weichen und ein wenig schwülen Atmosphäre, viele Menschen es gar nicht vertragen können, an dieser ewig donnernden, ewig sprühenden Küste zu wohnen. Aber wie erfrischend darum! Mit fünf Minuten Fahrt ist es vier oder fünf Grad kühler geworden, und auch dies gehört zu den hundert Geheimnissen dieser Stadt, die nur der lang Ansässige wirklich meistert, daß hier von Ecke zu Ecke die Temperaturen sich merklich unterscheiden, daß im selben Wohnviertel die rückwärtige Straße heißer sein kann und die vordere kühl, die rechte windig und die linke windstill, nur weil sie in einem bestimmten Winkel zur Meerbrise liegt, oder weil andererseits diese Brise durch einen Bergvorsprung gehemmt wird. So ist zum Beispiel der Anfang von Copacabana, der Leme heißt, nicht so beliebt und nicht so fashionabel und kostspielig, obwohl er nur einen Kilometer weit entfernt liegt und scheinbar die gleiche Front zum Meere hat. Die Avenida Atlântica aber, die Front von Copacabana, ist der Luxusstrand. Er hat ein berühmtes Hotel, die obligaten Cafés, mit Zigeunermusik, ein Spielkasino und die breite Promenade, er hat seine eigenen – und darum etwas unbrasilianischen – Sitten. Hier allein sieht man wie in den europäischen und nordamerikanischen Sommerstationen Mädchen in Hosen, Männer in bloßem Sporthemd (was sonst streng verpönt ist und einem sogar den Einlaß in einen Autobus verunmöglicht). Hier sitzt man im Freien in Restaurants und Cafés. Es gibt keine Geschäfte, keine Lastwagen, denn dieser Strand will allein dem Luxus, dem Vergnügen, dem Sport, der Promenade, den Farben, der Körperlust und Augenlust gehören. Er ist im letzten gewissermaßen die Luxuskabine für das gigantische Bad an dem riesigen Strande, der an manchen Tagen hunderttausend Menschen zusammenholt, ohne deshalb überfüllt zu sein. Manchmal hat man das Gefühl, als gehöre dieser Strand nicht zur eigentlichen Stadt; er sei nur ähnlich wie in Nizza, aber viel grandioser, einer arbeitenden, tätigen Millionenstadt zugunsten der Fremden und Luxusmenschen künstlich aufgesetzt worden und erst allmählich in das Leben, in den Organismus eingewachsen. In der Tat, vor zwanzig Jahren waren es kaum ein paar schüchterne Häuschen, die sich damals in die Sanddünen wagten. Aber seit man die Liebe zur Luft, zur Sonne, zum Wasser und die neuen Geschwindigkeiten des Automobils entdeckt, stellten ganze Quartiere sich mit unheimlicher Geschwindigkeit auf. Heute fährt man nach Copacabana so selbstverständlich wie in Wien in den Prater oder in Paris ins Bois, die vordem auch noch ein Ausflug und beinahe eine Reise gewesen. Wenn nicht das Herz, so ist Copacabana gewissermaßen

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