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hat man das Gefühl, daß diese Menschen dank einer eingeborenen Genügsamkeit auch mit diesem Wenigsten zufrieden sind.

      Und zwischendurch immer Entdeckungen. Da plötzlich ein Platz aus der Kolonialzeit mit vornehmen Palais und großen verschlossenen Parks, da wieder ein Markt, der in seiner Üppigkeit an holländische Bilder und in seiner Farbengrelle an van Gogh und Cézanne erinnert, da plötzlich, ganz unvermutet, ein Stück Hafen mit schlafenden Fischerbarken und einem scharfen Geruch von Algen und Tang, da ein Park, den man nicht kennt, da im Schatten eines Hochhauses ein paar verfallene Hütten oder plötzlich eine alte Kirche. Man wandert in Gassen, und sie enden unvermutet, und man muß über Felsen weiterklettern. Man will zu einem vorstädtischen Fest und ist statt dessen – zwei Straßen früher – in einem Luxusrevier. Man will zum Bahnhof und ist statt dessen im kaiserlichen Park. Nichts paßt zusammen und doch alles ineinander; immer wieder ist man überrascht, und nie hat man genug. Schlendern, wandern und entdecken, diese Lust, die von allen Städten Europas Paris als letzte uns bot, hier habe ich sie in der verlockendsten Form wiedergefunden.

      11. Kunst der Kontraste

      Um spannend zu wirken, muß eine Stadt starke gegensätzliche Spannungen in sich haben. Eine bloß moderne Stadt wirkt monoton, eine rückständige wird auf die Dauer unbequem. Eine proletarische bedrückt, und von einem Luxusplatz wieder strömt nach kurzer Zeit eine mißmutige Langeweile aus. Je mehr Schichten eine Stadt besitzt, und in je farbigerer Skala ihre Gegensätze sich abstufen, desto anziehender wird sie wirken: so Rio de Janeiro. Hier spannen sich die Enden weitestens auseinander und gehen doch mit einer besonderen Harmonie ineinander über. Der Reichtum wirkt hier nicht provokant; die feudalen Häuser, die mit einem erstaunlichen Geschmack eingerichtet sind, zeigen an sich keine auffälligen Fassaden. Sie liegen verstreut irgendwo im Grünen mit schönen Gärten und Teichen und einem gewählten, meist altbrasilianischen Mobiliar; dadurch, daß sie nicht städtisch-prunkvoll sind, sondern ganz der Natur verbunden, wirken sie als etwas organisch Gewachsenes und nicht hochmütig vor das Auge Gestelltes; man muß sie eigentlich suchen, um sie zu finden, aber wenn man die Freude hat, in einem dieser Häuser zu Gaste zu sein, wird man des Bewunderns nicht müde; denn von jedem Innenraum geht hier durch die offenen Türen der Blick in die Landschaft hinaus. In dem Garten spiegeln künstliche Teiche chinesische Pavillons, offene Veranden mit kühlen Fliesen und alten portugiesischen Azulejos geben gleichzeitig Gelegenheit, den weichen Atem der Blumen und Bäume zu fühlen, und schützen doch vor dem heftigen Andrang des Lichts. Nichts ist hier überladen und provokant, denn der Reichtum liegt hier meist in den Händen der alten Familien, die in Kultur und Tradition erzogen sind; was sie sammeln, sind meist die alten kolonialen Kunstwerke, die Bilder und Bücher ihrer eigenen Heimat. So fehlt der sonst oft mißliche Eindruck des Zusammengeräumten und wahllos Zusammengehäuften. Gerade in diesen feudalen Häusern versteht man erst die alte Herkunft der brasilianischen Kultur. Aber nur zwei Schritte von der wohlgekiesten Ausfahrt, und man kann in einem Negerdorf sein oder in einem Armenviertel und – vom gleichen dunklen Grün umhegt, vom gleichen strahlenden Licht gebadet – stört nicht eines das andere; in gewissem Sinne ist hier durch die bindende Kraft der Natur der Gegensatz zwar nicht aufgehoben aber doch gelöster gemacht, und dieses ständige weiche Ineinanderspielen der Kontraste will mir als das Charakteristische an Rio de Janeiro erscheinen. Das Hochhaus und die Hütte, die schimmernden Boulevards und die schmalen niederen Straßen, der flache Strand und die trotzig ihre Häupter aufreckenden Gebirge, alles scheint sich eher zu ergänzen als zu befeinden. So hat das Leben hier freieres Spiel für alle Formen; man kann in einer luftgekühlten Konditorei, die in den Preisen an New York erinnert, sein Eis nehmen, und um die Ecke, oft noch im selben Haus um einen halben Cent, man kann im selben weißen Leinenanzug im Luxusauto fahren oder in der Trambahn mit den Arbeitern; nichts befeindet sich, und man findet da und dort, bei dem Stiefelputzer und dem Aristokraten die gleiche Courtoisie, die hier alle Schichten einverständlich verbindet. Was sonst sich feindselig oder mißtrauisch abtrennt, spielt hier alles frei durcheinander. Wie viele Rassen allein schon auf der Straße, der schwarze Senegalneger im zerrissenen Rock und der Europäer in seinem schnittigen Anzug, die Indios mit ihrem schweren Blick und schwarzglatten Haar und dazwischen in hundert und tausend Schattierungen die Mischungen aller Völker und Nationen; aber all dies nicht wie in New York und anderen Städten in Viertel abgeteilt, hie schwarz, hie weiß, hie gemischt, hie Italiener, dort Brasilianer, dort Japaner. Sondern all dies wogt heiter durcheinander, und die Straße wird durch die Fülle der Physiognomien zu einem ständig wechselnden Bild. Welche Kunst hier, die Spannungen zu lösen, ohne sie darum zu zerstören! Die Vielfalt zu bewahren, ohne sie ordnen zu wollen und gewaltsam zu organisieren! Möge sie dieser Stadt bewahrt bleiben! Möge sich nicht dem geometrischen Wahn der schnurgeraden Avenuen, der klaren Überschneidungen, diesem gräßlichen Schachbrettideal der modernen Geschwindigkeitstädte verfallen, die dem Ebenmaß der Linie, der Monotonisierung der Formen gerade das aufopfern, was immer das Unvergleichliche jeder Stadt ist: ihre Überraschungen, ihre Eigenwilligkeiten und Winkligkeiten und vor allem ihre Kontraste – die Kontraste von alt und neu, von Stadt und Natur, von reich und arm, von Arbeit und Schlenderei, die man hier in ihrer einzigartigen harmonischen Gelöstheit genießt.

      12. Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind

      Einige der einzigartigen Dinge, die Rio so farbig und pittoresk machen, sind freilich schon bedroht. Vor allem die favelas, die Negerdörfer mitten in der Stadt, wird man sie in ein paar Jahren noch sehen? Die Brasilianer sprechen nicht gern von ihnen, und im sozialen, im hygienischen Sinne sind sie sicherlich eine Rückständigkeit inmitten einer Stadt, die von Sauberkeit blinkt und durch einen vorbildlichen hygienischen Dienst das vormals endemische gelbe Fieber in zwei Jahrzehnten gänzlich ausgerottet hat. Aber sie sind ein besonderer Farbton inmitten dieses kaleidoskopischen Bildes, und wenigstens eines dieser Sternchen im Mosaik sollte dem Stadtbild erhalten bleiben, weil es ein Stück menschlicher Natur darstellt inmitten der Zivilisation.

      Diese favelas haben eine besondere Geschichte. Den Negern, die zum Teil von ganz kleinem Einkommen leben, war es zu teuer, in Mietswohnungen innerhalb der Stadt zu wohnen; von außerhalb wiederum täglich an den Dienstplatz zu kommen, bedeutet eine zweimalige Reise und kostet Fahrgeld. So suchten sie sich auf den Hügeln und Felsen inmitten der Stadt, zu denen keine Wege hinaufführen, irgendeine Stelle und bauten sich, ohne nach Grundbesitz zu fragen, ein Haus oder vielmehr eine Hütte. Für eine solche mocambo benötigt man keinen Architekten. Man nimmt ein paar Dutzend Bambusstäbe und schlägt sie in die Erde. Man füllt den Zwischenraum zwischen den Stäben mit Lehm, den man sich aufgräbt und hartschlägt. Man stampft den Fußboden glatt. Man deckt das Dach mit einer Art Binsen zu. Und die favela ist fertig. Sie braucht keine Fenstergläser, es tun es ein paar Zinkplatten, irgendwo im Hafen aufgelesen. Ein Vorhang, aus einem alten Sack gefertigt, verdeckt den Eingang, der allenfalls noch durch Latten aus alten Kisten verschönt wird, und es ist dieselbe Hütte, wie sie vor hunderten Jahren ihr Urahn im afrikanischen Kral gebaut. An Luxus ist ihre Ausstattung nicht verschwenderisch reich – ein selbstgezimmerter Tisch, ein Bett, ein paar Sessel und ein paar farbige Bilder aus alten Zeitschriften an den Wänden – und auch sonst entbehren sie mancher modernen Annehmlichkeit. So muß das Wasser den steilen, in den Lehm oder Felsen heraufgestuften Weg unten vom Brunnen heraufgeschleppt werden; ununterbrochen wie in einem Paternosteraufzug sieht man Frauen und Kinder das kostbare Naß auf dem Kopf herauftragen und zwar nicht in Krügen – das wär eine zu kostspielige Anschaffung – sondern in alten Benzinbehältern. Auch das elektrische Licht reicht nicht bis in diese Hütten, abends blinken und zwinkern sie nur mit kleinen Petroleumlichtern zwischen dem Gebüsch. Und immer wieder der steile Weg hinauf über Stufen und Steine und Stiegen, halsbrecherisch oft und selten sauber, denn zwischen den Hütten treibt sich das sonderlichste Getier herum, Ziegen und hagere Katzen, räudige Hunde und knochige Hühner, das Spülwasser rinnt und tropft trüb ohne Unterlaß den Felsen hinab – fünf Minuten von einem Luxusstrand oder einem Boulevard meint man inmitten eines polynesischen Urwalddorfes oder in einem afrikanischen Kral zu sein. Man hat das Summum an Primitivität gesehen, die niederste Form des Hausens und Lebens, eine Form, die man in Europa oder Nordamerika kaum mehr für glaubhaft gehalten. Aber sonderbar – der Anblick hat nichts Bedrückendes, nichts Abstoßendes, nichts Aufreizendes, nichts Beschämendes. Denn diese Neger fühlen sich hier tausendmal glücklicher als unser Proletariat in seinen Mietskasernen. Es ist ihr eigenes Haus, sie können dort tun und lassen,

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