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und sich die Augen reibt. Aus den wenigen Cafés, die er passiert, riecht es nach Abendessen, doch Omar hat kein Geld und keine Lust, sich etwas zu stehlen. So hockt er sich einfach in einen Hauseingang, fischt eine Zigarette aus seiner hinteren Hosentasche und fängt an, Rauchringe zu blasen. Er ist so vertieft in diese Tätigkeit, dass er den Mann nicht bemerkt, der sich neben ihn gestellt hat, und als er angesprochen wird, reißt Omar den Kopf hoch.

      »Was ist los mit dir?« Der Mann trägt eine Galabiya und eine Brille mit Goldrand und hat freundliche Augen.

      »Sie haben meinen Bruder eingesperrt, und mich werden sie sicher auch bald einsperren.«

      »Wie alt bist du?«

      »Zehn.«

      »Dann dürfen sie dich nicht einsperren, du bist minderjährig. Da sind die Menschenrechtsorganisationen ziemlich strikt dagegen. Obwohl man nie weiß, was denen so einfällt, nicht wahr?«

      »Ich habe einen Mann die Treppe runtergeschmissen.«

      »Wie das?«

      »Mit voller Wucht.«

      Der Mann setzt sich neben ihn und betrachtet ihn von der Seite, während er seine Brille poliert. »Für einen so kleinen Bengel bist du ziemlich gerissen, weißt du das?«

      »Ich weiß«, sagt Omar. »Haben Sie vielleicht noch eine Zigarette?«

      »Bist du nicht ein bisschen jung zum Rauchen?«

      »Glaub ich nicht.«

      »Was ist mit deinen Eltern?«

      »Die sind tot.«

      »Inna L’illahi wa inna illeyih rajun – Wir gehören Allah und zu Allah kehren wir zurück. Mögen sie in Frieden ruhen. Dann bist du also ganz alleine?«

      »Ja, aber das macht mir nix.«

      »Ich heiße Youssef Aboud, mir gehört der Teppichladen dort vorne.«

      »Ich heiße Omar, mir gehört fast nix, aber wenn Sie mich bei sich schlafen lassen, dann klopfe ich Ihnen alle Teppiche aus und fege den Laden und mache alles, was Sie sonst noch erledigt haben wollen. Ich bin handwerklich echt gut, kann super mit dem Hammer und so umgehen, wissen Sie. Also was sagen Sie? Deal?«

      »Wenn du auch nur einen meiner Teppiche anrührst, werde ich dir deinen Hintern versohlen, bis du nicht mehr sitzen kannst und von Hämmern und sonstigem Werkzeug lässt du gefälligst die Finger, ich verkaufe da drinnen nämlich auch Geschirr. Ich brauche aber einen Laufburschen, der der Kundschaft Tee serviert und die Warenlieferungen vom Parkplatz in den Laden trägt. Wenn du deine Sache gut machst, bist du engagiert. Gegen Kost und Logis. Einverstanden?«

      »Tamam, alles klar!«, sagt Omar und schlägt ein.

      ***

      Nun, da Layla, barfuß und erhitzt, auf ihrer Dachterrasse sitzt, ist die Vergangenheit so nah wie die Gegenwart. Den ganzen Tag über, während sie in Tiberias war, hat sie das Gefühl gehabt, unter einer Glaskuppel zu leben. Die Hitze, die Soldaten, selbst der kleine Junge – all das nahm sie wie durch einen dicht gewobenen Schleier wahr; ein Schleier, so dick wie eine Wand aus Panzerglas. Sie hörte und sah alles, tat ihre Arbeit, doch bei alledem war sie nie richtig anwesend. Ihre Sinne waren auf etwas anderes gerichtet, auf einen anderen, weit entfernten Ort, wo der Schnee in dicken Flocken fällt, um Asche und Blut zu überdecken. Sie ist auch jetzt an diesem Ort, obwohl sie eigentlich Gemüse fürs Abendessen putzen sollte. Es gibt Sheikh el Mahshi, mit Reis gefüllte Auberginen, aber so wie es aussieht, wird das Essen noch eine Weile auf sich warten lassen, denn unten vor dem Haus steht eine kleine gebeugte Frau mit einem Rollator und starrt zu ihr hinauf. Die Frau schiebt ihren Wagen noch näher an das Haus heran, und Layla kann sehen, dass sie ein altmodisches geblümtes Baumwollkleid und weiße Frotteeslipper trägt und viel älter ist, als es von weitem den Anschein hatte. Ihre weißen Haare sind mit irgendetwas gefärbt, womöglich Henna, was aber nur zur Folge hat, dass sie eine merkwürdige rosa Farbe angenommen haben, so wie die Wolken, die jetzt im Sonnenuntergang purpurn leuchten. Die Frau parkt ihre Gehhilfe sorgfältig neben den Eingangsstufen und blickt angestrengt nach oben. Layla stutzt. Sie kennt jeden aus dem Dorf, doch diese Frau hat sie nie zuvor gesehen. Sie hat keine Ahnung, woher sie gekommen ist, womöglich ist sie aus irgendeinem Heim ausgebüxt und findet den Weg zurück nicht mehr. Aller Wahrscheinlichkeit nach kommt sie aus dem Kibbuz unten am Hang, dort wo die hohen Mauern einem jegliche Sicht versperren. Seufzend steht Layla auf und beugt sich über die Brüstung.

      »Shalom! Efshar la’azor lach? Wie kann ich Ihnen helfen?«, ruft sie hinunter. Ihr Hebräisch ist perfekt und poliert wie ein Flusskiesel, schließlich hat sie lange genug zwischen Israelis studiert, und trotzdem schleicht sich, wie immer wenn sie die Sprache spricht, ein bitterer Geschmack in ihren Mund. Doch die alte Frau scheint wie am Boden festgeklebt. Ihre arthritischen Finger umklammern die Griffe ihres kleinen Wägelchens, und sie macht keine Anstalten, sich zu rühren.

      Mit einem weiteren Seufzer macht Layla kehrt und hastet die Treppen hinunter. Die Frau ist Jüdin und alt, und obwohl Layla keinem ihrer Nachbarn zutrauen würde, einer alten Frau etwas zuleide zu tun, so ist ihr kleines arabisches Dorf kaum ein geeigneter Ort für eine verwirrte Lady aus einem Kibbuz. Außerdem hat sie keine Lust auf die misstrauischen Fragen der Dorfbewohner, wenn diese bemerken, dass eine komische kleine Jüdin bei ihnen vor der Tür steht.

      Als Layla vor ihr steht, bemerkt sie, dass die Frau klare wasserblaue Augen hat, die unschuldig und leicht entrückt in die Welt blicken.

      »Haben Sie meinen Mann gesehen?«, fragt die Frau, und Layla ist überrascht, wie hoch und kindlich ihre Stimme klingt.

      »Ihren Mann? Nein, wie sieht er denn aus?«

      »Wir wollten heute nämlich tanzen gehen, wissen Sie? Mein Mann führt mich jedes Wochenende zum Tanzen aus.«

      Layla, die bezweifelt, dass ihre Besucherin auch nur zu einem langsamen Walzer imstande wäre, fasst die Frau am Arm, um sie zu stützen. Ihre Haut fühlt sich an wie knisterndes Seidenpapier, dünn und trocken. Sie muss mindestens achtzig Jahre alt sein.

      »Ich habe Ihren Mann nicht gesehen, setzen Sie sich doch einen Augenblick.«

      »Und Simon? Haben Sie Simon gesehen? Er ist noch klein …«

      »Ich habe ehrlich keine Ahnung, wovon Sie sprechen, aber wenn Sie mir sagen, woher Sie kommen, werde ich Sie zurückbringen, okay?«

      »Sie sind ein nettes Mädchen, können Sie auch tanzen?«

      »Ja, ja, ich tanze jeden Tag. Wie ein Derwisch. Aber kommen Sie, ich bringe Sie besser nach Hause.«

      »Ich kann tanzen wie Judy Garland. Jedenfalls sagt das mein Mann Hubert. Er ist ein großer Tänzer. Wie Judy Garland. Haben Sie ihn zufällig gesehen?«

      Den ganzen Weg zurück über die Hügel plappert die Frau mit ihrer Kleinmädchenstimme und klammert sich dabei an ihr Wägelchen, das bei jedem Schlagloch scheppert wie ein Besteckkasten. Als sie das Ende der Straße erreichen und die Zäune des Kibbuz in Sichtweite kommen, bleibt die alte Frau stehen und sieht Layla direkt ins Gesicht. »Ich konnte Zäune nie leiden, wissen Sie. Vor allem die mit den spitzen Stacheln. Mögen Sie Zäune?«

      Layla möchte antworten, doch ehe sie den Mund öffnen kann, spürt sie den Sog, und vor ihre Augen schieben sich die Bilder, ehe sie auch nur die Chance hatte zu blinzeln. Sie wundert sich noch, wie schwer die Luft plötzlich geworden ist, so zäh und dick, dass sie kaum atmen kann. Ihre Nasenlöcher blähen sich, doch die Luft ist wie bleierner Dampf. Dann beginnen ihre Trommelfelle zu vibrieren, ein Rauschen und Wispern erfüllt ihre Ohren, dringt in ihre Gedanken wie Nebel. Die Stimme der alten Frau vermischt sich mit diesem Rauschen, das eine Mauer zwischen Layla und der Wirklichkeit schafft.

      Sie steht auf einem Bahnsteig, und der schneidend kalte Wind dringt durch das dünne Futter ihres Mantels. Männer in schweren Stiefeln schreien die Frauen und Kinder an, die sich ängstlich aneinanderdrücken. Ihre Mutter schließt ihre eiskalten Finger hart um ihr Handgelenk und zieht sie zu sich. Doch diesmal ist ihre Umarmung nicht tröstlich und warm, sondern

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