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Die Stadt der Sehenden. Жозе Сарамаго
Читать онлайн.Название Die Stadt der Sehenden
Год выпуска 0
isbn 9783455812787
Автор произведения Жозе Сарамаго
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Die Tage vergingen, die Schwierigkeiten nahmen immer weiter zu, verstärkten und multiplizierten sich, sprossen aus dem Boden wie Morcheln nach dem Regen, doch die Moral der Bevölkerung war ungebrochen, niemand schien geneigt, klein beizugeben oder das aufzugeben, was er als gebührend empfunden und mit seiner Stimme zum Ausdruck gebracht hatte, nämlich das simple Recht, sich keiner festgelegten Meinung anzuschließen. Einige Beobachter, in der Regel Korrespondenten ausländischer Medien, die eilends entsandt worden waren, um die Ereignisse zu covern, wie es im Fachjargon heißt, und daher mit den lokalen Eigenheiten nicht vertraut waren, berichteten mit Verwunderung vom vollständigen Ausbleiben von Konflikten unter den Menschen, obgleich es nachweislich zu Eingriffen von Provokateuren gekommen war, mit denen man versucht hatte, Instabilität herbeizuführen, um vor den Augen der so genannten internationalen Gemeinschaft den noch fehlenden Schritt rechtfertigen zu können, nämlich, vom Belagerungszustand zum Kriegszustand überzugehen. Einer der Kommentatoren wollte besonders originell sein und deutete diese Tatsache als einzigartigen, historisch nie da gewesenen Fall ideologischer Übereinstimmung, der die Hauptstadtbevölkerung, sollte dies tatsächlich zutreffen, zu einer höchst interessanten, untersuchenswerten politischen Abnormität machte. Der Gedanke war bei Licht besehen völlig unsinnig und hatte nichts mit der Realität zu tun, denn sowohl hier als auch überall sonst auf dem Planeten sind die Menschen verschieden, sie denken unterschiedlich, sind nicht alle arm und auch nicht alle reich, und bei denen dazwischen sind die einen ärmer und die anderen weniger arm. Den einzigen Punkt, in dem diese Menschen, ohne dass es einer vorherigen Absprache bedurft hätte, übereinstimmten, kennen wir bereits, und deshalb lohnt es sich auch nicht, länger darauf herumzureiten. Trotzdem ist es nur verständlich, dass man herauszufinden suchte, und diese Frage stellten sich ausländische wie einheimische Journalisten immer wieder, aus welch einzigartigen Gründen es noch nicht zu Zwischenfällen, Auseinandersetzungen, Tumulten, Schlägereien oder Schlimmerem zwischen Weißwählern und anderen Wählern gekommen war. Die Frage zeigt jedoch mit aller Deutlichkeit, wie wichtig ein paar grundlegende Mathematikkenntnisse für die Berufspraxis des Journalisten sind, schließlich brauchten sie sich nur zu vergegenwärtigen, dass die Menschen, die weiß gewählt hatten, dreiundachtzig Prozent der Hauptstadtbevölkerung ausmachten und die übrigen, alle zusammen genommen, lediglich siebzehn, wobei man auch nicht die umstrittene These der Partei der Linken vergessen durfte, dass nämlich die weißen Stimmen und die für ihre Partei metaphorisch gesprochen aus einem Holz geschnitzt seien, dass die Wähler der PDL, und diese Schlussfolgerung stammt nun wieder von uns, nur deshalb nicht alle weiß gewählt hätten, obgleich viele dies bei der wiederholten Wahl nachweislich getan hatten, weil sie nicht eigens dazu aufgefordert worden seien. Niemand würde uns glauben, wenn wir behaupteten, die siebzehn wollten gegen die dreiundachtzig antreten, denn die Zeiten, da Schlachten noch mit Gottes Hilfe gewonnen wurden, sind vorbei. Verständlich ist auch die Neugier bezüglich der fünfhundert Menschen, die von den Spionen des Innenministeriums in den Wählerschlangen gefasst worden waren, jenen Menschen, die anschließend quälende Verhöre über sich ergehen lassen und das Leid erfahren mussten, ihre intimsten Geheimnisse vom Lügendetektor offen gelegt zu sehen, und ebenso nachvollziehbar ist die Neugier bezüglich der Spezialagenten der Geheimdienste und ihrer untergebenen Helfer. Über Erstere gibt es nur Spekulationen und keinerlei Möglichkeit, diese zu bestätigen. Die einen meinten, die fünfhundert Häftlinge kooperierten, wie es mit dem bereits bekannten polizeilichen Euphemismus hieß, noch immer mit den Behörden, um den Fall aufzuklären, andere wiederum behaupteten, sie würden gerade in die Freiheit entlassen, peu à peu, damit es nicht so auffiele, und die Skeptiker wiederum glaubten eher an die Version, dass man sie allesamt aus der Stadt geschafft und an einen unbekannten Ort gebracht hatte, wo die Verhöre weitergingen, auch wenn sie bisher zu keinem Ergebnis geführt hätten. Wer weiß, wer hier Recht hat. Über die Geheimdienstagenten hingegen haben wir absolute Gewissheit. Wie andere brave, rechtschaffene Arbeiter verlassen sie morgens ihre Häuser, streifen auf der Suche nach Indizien kreuz und quer durch die Stadt, und wenn sie meinen, den Fisch im Netz zu haben, probieren sie eine neue Taktik aus, die darin besteht, ihr Gegenüber ohne Umschweife und völlig unvermittelt zu fragen, Reden wir mal ganz offen, wie unter Freunden, ich habe weiß gewählt, und Sie. Anfangs begnügten sich die Befragten damit, die bereits bekannten Antworten zu geben, dass niemand gezwungen werden könne preiszugeben, was er gewählt habe, und dass niemand von irgendeiner Behörde dazu befragt