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sich sammeln musste, bevor sie bedrückt anfing zu erzählen: »Deine Mutter war ein sehr fröhliches und aufgewecktes Mädchen. Der Tod ihres Vater hatte sie zunächst sehr betrübt, aber im Laufe der Monate kam sie, auch dank eines engen Freundeskreises, mehr und mehr darüber hinweg und hatte den Verlust letztendlich gut verkraftet. Anders als ich, ohne meinen Jimmy fühlte ich mich in England allein und fremd.«

      Irgendetwas verschwieg Großmutter mir, weshalb ich nachhakte: »Großmutter, ich habe nie verstanden, warum du unbedingt nach Deutschland zurück wolltest. Du hattest doch hier niemanden mehr, während du in England nette Menschen kanntest, wie du sagst. Außerdem sah die Zukunft dort viel rosiger aus als hier, zumindest was die Arbeit anging. Wenn ich mich recht erinnere, hast du in einer Schneiderei gearbeitet.«

      »Naja, aber an die englische Mentalität und die Kultur konnte ich mich nicht gewöhnen und es gab zwischen meiner Freundin Helene und mir auch immer öfter kleinere Streitigkeiten. Und immerhin stand mein Elternhaus noch, das meine Cousine und deren Mann nach dem Krieg bewohnten und vor ihrer Auswanderung in die USA verkauft hätten, wenn ich nicht zurückgekommen wäre.«

      Ihre Erklärungen überzeugten mich nicht und ich blieb bei meiner Vermutung, dass sie mir etwas verheimlichte. Aber sie ließ sich auf mein erneutes Nachfragen nicht ein, sondern übersprang ein paar Jahre und fuhr fort: »Ich hielt durch, bis Julia ihren mittleren Schulabschluss gemacht hatte und wollte sie dann mit nach Deutschland nehmen. Als es so weit war, wirkte sie sehr bedrückt und unglücklich. Sie wollte ihr englisches Zuhause und ihre Freunde nicht verlassen. Sie liebte ihre Heimat und ihr Leben so wie es war und wünschte sich, dort bleiben und eine weiterführende Schule besuchen und ihren Advanced-Level-Abschluss machen zu dürfen, der mit dem deutschen Abitur zu vergleichen ist. Sie war also in einer ähnlichen schulischen Situation wie du jetzt. Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich sie alleine in England zurücklassen sollte, aber ich sah ein, dass ich sie todunglücklich gemacht hätte, wenn ich sie von ihren Freunden weg und aus ihrem freudvollen Leben fortgerissen hätte. Die Browns, eine eng befreundete Familie im Nachbarort, versicherte mir, dass sie ein Auge auf Julia werfe; die letzten Zweifel nahmen mir die Thornbys, deren Tochter Lissy sie von kleinauf kannte und die seit dem Kindergarten unzertrennlich waren. Sie gaben mir ihr Wort, sich um deine Mutter zu kümmern und ihr ein Zuhause zu geben.«

      Mir stockte der Atem: »Stop, Großmutter, warte mal, Lissy Thornby ist doch der richtige Name von diesem Model Biggy. Und Mutter nannte mich so, weil sie dieses Model verehrt und aus mir Biggy zwei machen wollte. Und du sagst mir jetzt, dass Biggy eine gute Freundin von Mutter war?«

      »Ich glaube, deine Mutter hat sie weniger als Model verehrt, sondern persönlich sehr gemocht.«

      Irritiert musste ich das Gehörte noch einmal in meine Worte fassen, damit es begreiflicher wurde: »Du möchtest mir also weismachen, dass das Model Lissy Thornby, genannt Biggy, mit Mutter zusammen aufgewachsen ist, dass sie ein Herz und eine Seele waren und Mutter sogar bei ihnen gelebt hat?«

      »Ja, so war es«, versicherte Großmutter.

      Noch immer nicht überzeugt fragte ich: »Aber warum hätte Mutter mir das verschweigen sollen? Was ist daran so schlimm? Für mich wäre der Name weniger abscheulich gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass sich dahinter ein Mensch verbirgt, den meine Mutter sehr gemocht hat.« Auf einmal kam mir das Foto auf Mutters Nachttisch wieder in den Sinn. Waren das die engen Freundinnen, von denen Großmutter mir gerade erzählt hatte? Wenn das stimmte, müsste sie wissen, welchen Spitznamen Lissy Mutter gegeben hatte und sie wusste es: »Sie nannte sie Birdy. Und weißt du, warum? Weil sie so schön singen konnte wie ein Vögelchen«, antwortete sie wehmütig und Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich nahm Großmutter in den Arm, bis sie aufgehört hatte zu weinen und versuchte vorsichtig das schicksalsträchtige Ereignis in dem Leben Mutters aus ihr herauszulocken, das auch mein Leben maßgeblich bestimmte: »Woran ist diese Freundschaft zerbrochen?«

      »Eineinhalb Jahre nach meinem Wegzug aus Neasden lag deine Mutter verletzt und entkräftet mit einem Koffer vor meiner Tür. Ich werde ihren Anblick nie vergessen. Sie sah aus, als sei sie gerade der Hölle entstiegen, abgemagert, gerötete Augen, kreidebleich, die langen Haare völlig zerzaust und in ihrem zu groß gewordenen Mantel wirkte sie wie ein Gespenst. Aber das Schlimmste waren ihre ausdruckslosen Augen, durch die ich in ein leeres, lebloses Inneres schaute. Ich trug sie ins Haus, sie wog kaum mehr als ihr Knochengerüst, und legte sie auf das Sofa im Wohnzimmer.«

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