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Die Leiden der jungen Lotte. Denise Rüller
Читать онлайн.Название Die Leiden der jungen Lotte
Год выпуска 0
isbn 9783347106635
Автор произведения Denise Rüller
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Erst als sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, atmete ich weiter und als ich realisierte, dass ich einfach einmal nur daliegen durfte, ohne irgendwelche Erwartungen erfüllen zu müssen, überkam mich ein tiefer Entspannungszustand. Als wollte mein Körper von den nächsten mutterfreien vierundzwanzig Stunden keine Sekunde verschenken, schlief ich erleichtert ein.
Ich träumte, dass Herr Mühlena mir etwas Blut abzapfen wollte und merkte erst, als er mir mit einer Nadel in den Arm pikste, dass das kein Traum war, was meinem zufriedenen Zustand aber nichts anhaben konnte. Auch die weiteren Untersuchungen waren im Vergleich zu den Schikanen der Mutter eine Erholung: Es wurden neurologische Tests durchgeführt, meine Organe konnte ich auf Ultraschallbildern betrachten, meine Knochendichte wurde gemessen, mein Herz mit einem Langzeit-EKG, das ich über Nacht tragen musste, kontrolliert und mein psychischer Zustand durch ein langes Gespräch mit einer sehr netten Psychologin, die mich an Frau Recki erinnerte, geprüft.
Die Ergebnisse waren für die Ärzte besorgniserregend, für Mutter ein Fiasko und für mich ein Geschenk. Die Hormonzusammensetzung in meinem Blut und die Knochendichte passten zu einem siebzigjährigen hermaphroditischen Börsenmakler kurz vor dem Crash, wohnhaft in Fukushima: poröse Knochen, weibliche Hormone kaum vorhanden, Cortisolspiegel viel zu hoch und eine amoklaufende Schilddrüse. Zudem sei eine posttraumatische Belastungsstörung vorprogrammiert, wenn nicht unverzüglich gegengesteuert würde. Da Mutter die Untersuchungsergebnisse anzweifelte und sich nicht dazu bereit erklärte, auch nur einen Zentimeter von ihrer Lebensplanung abzurücken, mich zu einem Weltstar auf dem Laufsteg abzurichten, stand drei Wochen später, zu Beginn der Sommerferien, das Jugendamt vor der Tür und rettete meine Knochen. Man fand bei der Durchsuchung unserer Wohnung Schilddrüsentabletten, die Mutter mir vermutlich ohne mein Wissen verabreicht hatte, was die Überfunktion und das Scheitern meiner Gewichtszunahme trotz des heimlichen Verschlingens von Süßigkeiten erklärte.
Auch eine Abhängigkeit Mutters von Psychopharmaka und Schlaftabletten kam ans Licht und ein psychologisches Gutachten bescheinigte ihr eine schwere Traumatisierung und vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit, weshalb ihr das Sorgerecht vorerst entzogen und meiner Großmutter zugesprochen wurde. Als Mutter am Ende der Sommerferien in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde, erlangte ich eine doppelte Freiheit: Beinfreiheit, da mir der Gips abgenommen wurde und Willensfreiheit, da ich der mütterlichen Handhabung entkam und zum ersten Mal in meinem Leben das machen konnte, wozu ich Lust hatte.
* * *
Während es für die meisten Kinder ein Albtraum ist, von der Mutter getrennt zu werden,
genoss ich es in vollen Zügen. Ich schlief so albtraumlos wie noch nie und freute mich abends schon auf das Frühstück und eine heiße Dusche ohne Kälteschocks, die Mutter mir sonst jeden Morgen zur Abhärtung verabreicht hatte. In den ersten Tagen meines neuen Lebens kam es mir wie ein Traum vor, ohne von durchblutungsfördernder Penis-Versteifungscreme rotfleckigen Beinen mit Großmutter am Frühstückstisch zu sitzen und in ein Brötchen mit Butter und Nutella zu beißen. Die Beckenbodengymnastik war in weite Ferne gerückt und sollte sich erst wieder nähern, als ich dreißig Jahre später freiwillig den Alterserscheinungen zu Leibe rückte. Das erste Indiz für meine Willensfreiheit war die Fahrt zum FC Millingen gleich am ersten Schultag nach den Sommerferien. Mein letztes Training war fast drei Jahre her, aber Herr Angenvort tat so, als sei es gestern gewesen, und statt Fragen zu stellen - ich war mir nicht sicher, was er über die Sache mit Mutter wusste - mahnte er mich zur Eile: »Worauf wartest du? Zieh dich um, deine Mannschaft ist schon beim Aufwärmen.« Ich heulte vor Glück, zog die mir vor drei Jahren zwei Nummern zu großen, nun etwas zu kleinen Fußballschuhe, die mir Chris damals geschenkt hatte, an und rannte zu den anderen. Fast alle aus dem früheren Team waren noch dabei, aber ich befürchtete, dass sie mir meinen plötzlichen Abgang übelgenommen hatten und bremste meinen euphorischen Sprint zwanzig Meter vor der laufenden Truppe ab. Chris bemerkte mich als Erster und rief: »Nein, ich glaub‹s nicht. Hey, Jungs, schaut mal, wer da kommt. Die Auferstehung Biggys.« Bei dem Wort entwich meinem Körper jegliche Kraft, ich strauchelte und mir wurde schwindelig. Aus dem Hinterhalt war mein altes verhasstes Leben wieder in mich hineingekrochen. Sie wussten es also. »Böhnchen?«, rief Walze erstaunt. Da war sie, meine zweite Identität, die mich auf den Beinen hielt. Mein Blick wurde wieder klarer und als ich die anderen lachend auf mich zustürmen sah, wusste ich, dass mir zum zweiten Mal das Aufnahmeritual bevorstand und ich ließ mich vergnügt von ihnen niederwalzen. Ich gehörte wieder dazu.
Von diesem Tag an war ich täglich auf dem Fußballplatz. Einmal pro Woche trainierte ich die Kleinsten des FC Millingen und verdiente mir damit das Geld für eine angemessene Ausrüstung: Nach einem Monat konnte ich mir passende Schuhe und kurz darauf Schienbeinschoner kaufen. Aber das schönste Geschenk in meinem Leben bekam ich zu meinem fünfzehnten Geburtstag. Ich fuhr wie jeden Tag nach der Schule mit dem Rad zum Verein, aber der Platz war wie leergefegt, kein Mensch weit und breit, irgendetwas stimmte da nicht. Ich schaute in den Umkleidekabinen: nichts, im Vereinsheim: niemand zu sehen. Auf einmal hörte ich aus irgendwelchen Lautsprechern die Stimme von Chris: »Frau Schröder, bitte finden Sie sich umgehend auf dem Fußballplatz ein!« Ich rannte hinaus auf den Platz, der nach wie vor verlassen dalag. Verdutzt stand ich eine Weile da, als plötzlich ein ohrenbetäubendes Geburtstagsständchen der ganzen Mannschaft durch die Lautsprecher dröhnte und gleichzeitig etwas an dem Fahnenmast vor dem Vereinsheim hochgezogen wurde. Ich traute meinen Augen nicht: Das war ein Vereinstrikot mit dem Namen Böhnchen und der Nummer fünfzehn auf dem Rücken. Ich bekam eine Gänsehaut und wieder wurde mir schwindelig, aber dieses Mal vor Glück. Meine Mannschaftskameraden kamen aus ihrem Versteck auf mich zu, trugen mich auf ihren Händen hoch über ihren Köpfen und ließen mich dreimal hochleben. Als ich das Trikot in den Händen hielt, sah ich, dass alle auf der Vorderseite unterschrieben hatten.
Es war sowohl ein Geburtstags- als auch ein Abschiedsgeschenk, das ich bei unserem letzten Saisonspiel zwei Wochen später trug. Ich musste den Verein verlassen und in eine Damenmannschaft wechseln, denn die Jungs aus meiner Mannschaft wurden zu Männern und ich kam gegen ihren Testosteron- und Adrenalinspiegel nicht mehr an: Sie waren schneller, ihre Schüsse härter, ihre Fouls nicht mehr Ausdruck ihres Spiel-, sondern zunehmend ihres Aggressionstriebs, die Jubelgesten wurden geschlechtsspezifisch und grenzten mich aus: Ich konnte und wollte mir nach einem Tor nicht wie ein Affe auf die Brust trommeln, an die Keimzellenhalter zwischen den Beinen packen oder die Eckfahne kopulierend antanzen. An dem Umgang mit mir auf dem Platz zeigte sich, welcher Typ Mann in den Jungen steckte: Es gab die Ausnahmen mit angemessenem Empathievermögen, die sich im Zweikampf charmant zurückhielten; dann gab es den hormongesteuerten Typus, der gleichzeitig seinen Aggressions- und Sexualtrieb befriedigte, indem er mir so oft wie möglich auf den Leib rückte, dabei sein Becken gegen meinen Hintern drückte und alles, was er in die Hände bekam, brünstig angrapschte. Und das, obwohl ihm kaum etwas in die Hände fallen konnte. Denn während meinen Klassenkameradinnen die pubertären weiblich- en Pölsterchen wuchsen, wurde ich dem bei sommersprossigen Rothaarigen häufig anzutreffenden leptosomen Erscheinungsbild gerecht: blasse Bohnenstange ohne erkennbare sekundäre weibliche Geschlechtsmerkmale. Den am häufigsten anzutreffenden Männertypus auf dem Fußballplatz verkörperten jene Mannschaftskameraden, die mir durch Fouls deutlich machten, wer auf dem Platz die Hosen anhat und mir mit sexistischen Äußerungen drohten, dass ich meinen Schwanz, den sie mir immerhin zugestanden, besser einziehen und mich aus ihrem Revier verpissen sollte.
* * *
Da Frauenfußball zu Beginn der Achtzigerjahre noch wenig verbreitet war, bot sich für mich nur der Wechsel in die Frauenmannschaft des Kaßlerfelder Ballsportclubs in Duisburg an oder ich hätte wegziehen müssen. Das wollte ich nicht, denn ich fühlte mich wohl bei Großmutter und hatte einen netten Freundeskreis und außerdem war der KBC alles andere als eine Kompromisslösung. Der Verein hatte bereits seit 1970 eine Frauenfußballabteilung und das Team gehörte zu einem der besten in Deutschland; zwei Jahre zuvor, 1980, hatten sie um die Deutsche Meisterschaft gespielt und im Finale knapp gegen SSG 09 Bergisch Gladbach verloren.
Außerdem konnte ich mit dem Rad zum Verein fahren, denn vom Beeckbach bis zum KBC waren es nur neun Kilometer. Herr Angenvort hatte im Vorfeld mit dem Vereinsvorstand und dem Trainer gesprochen und ein Kennenlerntreffen und Probetraining vereinbart. Als ich das Vereinsgelände erreichte, wurde mir