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hatte sie zurückbegleitet. Danach hatte sie sich wegen ihrer Hilflosigkeit und Panik geschämt.

      All diese Dinge gingen in ihrem Kopf durcheinander und türmten sich zu einem riesigen Berg, so dass sie fast der Mut verließ. Sollte sie es überhaupt wagen? Aber ihr Leben war so festgelegt und überschaubar – und langweilig. Ein Tag war wie der andere: Frühstück, Mittagessen, Abendessen. Die Zeit dazwischen verbrachte sie meistens auf ihrem bequemen Bett in ihrer Lieblingshaltung: halb sitzend, halb liegend. Manchmal versuchte sie zu lesen. Das ging natürlich nicht ohne ihre Brille – doch die lag nie dort, wo sie liegen sollte. Und lange konnte sie sich sowieso nicht konzentrieren. Sie ertappte sich oft dabei, dass sie kurz eingeschlafen war und beim Aufwachen nicht mehr wusste, was sie gelesen hatte.

      So machte sie sich auch heute wieder an die anstrengenden Tätigkeiten, die mit dem Tagesbeginn einhergingen: sich waschen, kämmen, anziehen, zum Frühstücksraum gehen. Das alles dauerte immer länger und wurde immer mühsamer. Aber sie wollte sich so wenig wie möglich helfen lassen und allein zurechtkommen – dieses bisschen Selbstständigkeit war ihr wichtig und sie war stolz darauf. Sie fürchtete sich davor, so verwirrt und hilflos zu werden wie die Frau im Zimmer gegenüber: Die lag nur noch im Bett, schrie und jammerte den ganzen Tag vor sich hin und wusste offenbar nicht mehr, wer und wo sie war. Dann lieber sterben … Aber man hatte ja keine Wahl, musste Leben und Tod passiv hinnehmen.

      Nach dem Frühstück brauchte sie wieder eine Ruhepause. Oft gingen ihre Gedanken jetzt zurück in die Vergangenheit und sie döste in zeitlosem Halbschlaf vor sich hin. Rief man sie dann zum Mittagessen, hatte sie manchmal das Gefühl, von ganz weit her zu kommen, und musste erst überlegen, wo sie war und was man von ihr wollte. Nach dem Mittagessen schaltete sie den Fernseher ein – doch immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie einnickte. Egal, wie „spannend“ die Sendung war.

      Heute achtete sie darauf, nach dem Mittagessen nicht einzuschlafen, denn heute hatte sie ein Ziel: das Café im Erdgeschoss – und die Sahnetorte! Zur Eröffnung waren Einladungen verteilt worden. Sie hatte den Brief aufgehoben und sich vorgenommen, einmal ganz allein „auszugehen“. Und heute war dieser große Tag!

      Sie schlurfte zum Kleiderschrank: Ganz hinten hatte sie die Handtasche mit ein wenig Bargeld versteckt – man wusste ja nie … Und eine saubere Bluse musste sie auch anziehen, weil ihr vorhin etwas Suppe daneben gegangen war. Die alten Schuhe? Sie hatte keine besseren. Ach ja, die Kette mit der Uhr, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, fehlte noch. Zum Schluss fuhr sie sich mit dem Kamm durch ihre schütteren weißen Haare. Dann öffnete sie die Tür und steuerte ihren Gehwagen hinaus in den Flur. Halt – vorher noch auf die Toilette! Beinahe hätte sie es vergessen. Einmal, auf dem Rückweg vom Speisesaal … Wie peinlich ihr das gewesen war! Sie mochte gar nicht daran denken. Wenn so etwas öfter passierte, bekam man Windeln – und verlor wieder ein Stück vom kläglichen Rest seiner Würde. So, nun kann das Abenteuer beginnen! Mühsam schleppt sie sich mit ihrem Rollator den langen Flur entlang bis zum Treppenhaus, neben dem sie den Aufzug weiß. Wenn ihre Beine nur nicht so schwach wären! Immer fürchtet sie, dass sie ihr plötzlich den Dienst versagen könnten. Nach unten will sie – also drückt sie den Knopf, auf dem „EG“ steht, und rollt hinein, als sich die Aufzugstür öffnet. Kurze Unsicherheit, als die Tür sich schließt und sie in dem „Käfig“ eingesperrt ist. Aber gleich steht sie im hellen Flur des Erdgeschosses – und sieht vor sich im Eingangsbereich schon das Café, es ist nicht zu verfehlen!

      In dem Hochgefühl, ihr Ziel erreicht zu haben, schiebt sie ihr Wägelchen stolz durch die sich automatisch öffnende Tür. Sie steuert den nächsten freien Tisch an, schiebt den Rollator auf die Seite und sinkt erschöpft in einen erstaunlich bequemen Sessel. Am Nebentisch sieht sie einen gebrechlichen alten Mann im Rollstuhl und neben ihm eine jüngere Frau – wohl seine Tochter. Auch an anderen Tischen sitzen alte und junge Menschen beisammen: Manche Besucher führen nun ihre Angehörigen ins neue Café aus. Sie bekommt keinen Besuch und muss sich selbst helfen, denn sie hat keine Angehörigen mehr. Nur manchmal schaut ihre Betreuerin kurz vorbei, die sich von Amts wegen um die Regelung der finanziellen Dinge kümmert.

      Als die Bedienung nach ihren Wünschen fragt, bestellt sie eine Tasse Kaffee und ein Stück Sahnetorte. Während sie darauf wartet, schweifen ihre Gedanken zurück in ihre Jugend. Sie sieht sich im Geiste mit ihren Freundinnen, wie sie an einem ihrer Geburtstage in fröhlicher Runde im Café sitzen und genüsslich Sahnetorte verzehren. – Dieses Bild kehrt immer wieder, wenn sie von früher träumt.

      Und jetzt steht tatsächlich ein großes Stück Sahnetorte vor ihr! Sie fühlt sich wieder wie das junge Mädchen von damals – die vielen Jahre dazwischen haben sich in Luft aufgelöst – und taucht voll Vorfreude den Löffel in den Sahneberg auf ihrem Teller. Sie ist zeitlos und wunschlos glücklich.

      Kommentar: Für viele eine völlig neue Welt.

       Weitere ausgewählte Werke

       Reinhold Kusche

       Peterle´s Abenteuer - Im Grundbuchamt

      Eine satirische Kurzgeschichte

      „Es ist schon ein Kreuz mit dem Alter“, brummte Peter Petersen, während er einen sehnsuchtsvollen Blick durch das Terrassenfenster in seinen verwilderten Garten schickte.

      „Wenn erst mal die Goldene Hochzeit droht, ist nichts mehr, wie es war.“

      Dabei war es nicht nur der Garten, den er nicht mehr bewirtschaften konnte. Auch für seine ausgedehnten Spaziergänge, die zunehmend kürzer wurden, musste er einen ständigen Begleiter in Kauf nehmen. Es half nichts, dieses Utensil als Wanderstock zu deklarieren. Die schmerzliche Wahrheit war, dass der Handstock fortan zu ihm gehörte, wie der Knochen zum Hund. Zu allem Unglück versuchte sein Zahnarzt verzweifelt, seine neuen Kukident-Beißerchen – bisher vergeblich – zu einem halbwegs praktikablen Mahlwerkzeug zu formen.

      Seine Olga, eine gebürtige Schwäbin, die ihn liebevoll Peterle nannte, überzeugte ihn schließlich davon, ihr Heim gegen einen gemütlichen Platz im Seniorenstift zu tauschen. Ein kompetenter Makler war schnell gefunden, der dem Ehepaar Hoffnung auf ein schnelles Ergebnis machte. Dieser nahm die vorliegenden Unterlagen an sich und wies darauf hin, dass ein aktueller Grundbuchauszug erforderlich sei.

      Gesagt, getan. Am nächsten Morgen nahm Peterle seinen ständigen Begleiter aus dem Schirmständer, setzte seine neue Prinz-Heinrich-Mütze auf, die Olga ihm zu Weihnachten geschenkt hatte und machte sich auf den Weg zur Busstation. Ein Fahrzeug der Verkehrsbetriebe brachte ihn fast vor die Tür des Amtsgerichtes der norddeutschen Kleinstadt. Dort wies ihm ein freundlicher Justizbeamter den Weg zum Grundbuchamt. Kurz darauf klopfte er an der schweren Tür der Behörde, erhielt aber keine Antwort. Auch der zweite Versuch scheiterte. Beim dritten Klopfen vernahm er ein gähnendes Geräusch aus dem Büro und wertete dies als Aufforderung zum Eintreten, was er dann auch tat. Zielsicher steuerte er einen überdimensionalen Schreibtisch an, hinter dem sich ein Mann um die vierzig verschanzt hatte und begrüßte ihn mit einem herzlichen Moin Moin. Der Angesprochene erwiderte den Gruß mit einem genervten Brummen, gähnte herzerfrischend und richtete seinen starren Blick auf den Computermonitor vor ihm. Peterle wartete geduldig, aber der Beamte zeigte kein Interesse, ihn zu bedienen. Schließlich machte Peterle durch ein dezentes Räuspern erneut auf sich aufmerksam, aber der strenge Blick seines Gegenübers ließ ihn augenblicklich verstummen. Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm der Mitarbeiter Blickkontakt mit ihm auf und deutete stumm auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch. Höflich trug Peterle sein Anliegen vor. Mürrisch verlangte der Beamte seinen Ausweis und unterzog diesen einer eingehenden Prüfung, die nach Peterle´s Armbanduhr volle 6 Minuten in Anspruch nahm. Danach schaltete er umständlich seinen Computer ein und machte darauf aufmerksam, dass dieser Vorgang einige Zeit dauern würde, bis das System hochfährt.

       Peterle fragte sich, worauf der Beamte gestarrt haben mag, wenn bei seinem Eintritt der Computer ganz offensichtlich ausgeschaltet war.

      Nach insgesamt 16 Minuten spuckte der Laserdrucker endlich fünf Blätter aus. Der Mitarbeiter überprüfte diese, forderte 10,--Euro und griff nach dem Tacker.

      „Oh, bitte nicht“, protestierte Peterle. „Ich brauche eine

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