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Der Makel der Freiheit. Axel-Johannes Korb
Читать онлайн.Название Der Makel der Freiheit
Год выпуска 0
isbn 9783347062962
Автор произведения Axel-Johannes Korb
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Kilian fuhr von der Bank auf, trat an den Tisch, stampfte mit dem rechten Bein auf den Boden auf, dass die Erschütterung durchs Mark fuhr, und fuchtelte ein wenig mit den Armen, denn er wusste nicht, was er vor Zorn noch sagen sollte. Mit bösem Blick, verkniffenen Lippen und schneller Atmung sah er, wie der Vater scheinbar zufrieden sagte: „Seinesgleichen geschieht.“ Und weiter: „Nun geh, Kilian! Geh hinüber ins Haus! In einer Stunde werde ich kommen. Dann feiern wir deine Rückkehr mit einem festlichen Essen. Geh nur und kein Wort mehr von der Revolution!“ Kilian knetete den Hut in seinen Händen, verließ wie ein Wirbelwind die Stube, eilte die Treppe hinunter und floh hinaus auf den Marktplatz. Am erstbesten Pfahl stützte er sich und rang nach Luft, während er aus dem geöffneten Fenster der väterlichen Amtsstube ein Keuchen und Husten vernahm.
III
Auf dem Tisch brannten die weißen Kerzen in silbernen Ständern und erhellten die große Wohnstube mit mattem Schein. Die Schatten der mächtigen hölzernen Deckenbalken flackerten. Hinter den bleiverglasten Fenstern sah man nichts als schwarze Nacht, während die Delfter Kacheln des Ofens Wärme spendeten. Der Vater saß dem Tisch vor, daneben die Mutter Antonia. Kilian und Katharina, seine Schwester, saßen sich gegenüber und scherzten, wie sie es von früher her gewöhnt waren.
Florian, der Jüngste, ein dreijähriger Bub und Liebling der Mutter, befand sich nahe bei den Eltern und wusste kaum, wie ihm geschah, wusste kaum, warum man ihn zur Schlafenszeit aus dem Bett geholt hatte, rieb sich wieder und wieder die Augen und wollte mit dem Heimkehrer nichts zu schaffen haben. Essen wollte er schon gar nicht. Kilian lernte den Kleinen, seinen Bruder, erst an diesem Abend kennen. Er versuchte, dessen Herz mit albernen Kinderspielen und Versen zu erobern. Florian aber zeigte kein Interesse und quengelte ob seiner Müdigkeit, bis der Vater ihn züchtigte. Kilian fühlte sich vom bloßen Anblick des kurzen, aber heftigen Gewaltakts peinlich berührt. Dennoch erkannte er in diesem Bübchen schon den Sohn des Vaters, jenes Modell eines hartgesottenen Charakters, der sich durch nichts und niemanden einschüchtern lässt. Auch jetzt, nach der Züchtigung, war Florian zwar zum Weinen zumute. Er unterdrückte diesen Trieb aber mit aller Gewalt.
Kilian konnte nur schlecht die Gegenwart des Schultheißen ertragen. Noch weniger konnte er es ausstehen, dass der Verlobte seiner Schwester, dass Rudolf Kuhn mit am Tisch saß. Er brachte nicht die Fähigkeit auf, diesem Emporkömmling in die Augen zu sehen. Trotz seines Denkens von der Gleichheit aller Menschen erkannte er an sich selbst ein aristokratisches Element, an dem es Rudolf mangelte, weshalb er niemals zu einem ebenbürtigen Partner oder gar Anverwandten heranreifen konnte. Dennoch versuchte er mit aller Kraft, an diesem Abend keinen unangenehmen Einstand zu haben.
Die Frauen lachten viel, während Kilian Begebenheiten seines Leipziger Studentenlebens zum Besten gab. Er pries voller Überzeugung die Schönheit der Stadt und die Herrlichkeit der vergangenen Jahre. Von der Universität berichtete er kaum, hingegen mehr von den Freunden, den Kommilitonen, die aus allen Territorien des Reiches und aus aller Herren Länder gekommen waren, um an der Alma Mater Lipsiensis in das Recht eingeführt zu werden. Das hatte er zwar alles in regem brieflichen Verkehr den Eltern bereits mitgeteilt, erging sich aber nun in der lebendigen Nachahmung der Personen – ein Gebiet, das er außerordentlich beherrschte und auf dem er sein schauspielerisches Talent bewies. Zugleich beeilte er sich zu versichern, dass das Zu-Hause-Sein ihn ungleich mehr glücklich mache, was sich allerdings nicht mit der Wahrheit traf.
Kilian wusste, wie sehr es den Vater schmerzen musste, den eigenen Sohn im Widerstand gegen das Althergebrachte zu sehen. Doch konnte er kaum anders, als allerorten zu räsonieren und zu rebellieren. Die Jahre in Leipzig hatten ihm einen anderen Weg gezeigt als jenen, den man in seiner Heimat seit bald einem Jahrtausend ging. Es war ein Weg, der sich von der Idee her bestimmte und der die Vernunft, sei sie geschäftlich oder politisch, zur Nebensache herabstufte. Es war die Idee, die die Welt verändern musste, und nicht das Fügen in die Verhältnisse, die nur Erstarrung zeitigen konnten.
Aber die Distanz zwischen ihm und Bonifaz war gar nicht so groß. Zwischen Vater und Sohn bestand ein stilles Einverständnis, so still, dass man es sich gegenseitig zuzuflüstern niemals gewagt hätte. Mit den Planungen Bonifazens wollte Kilian zwar nichts zu schaffen haben. Die Strategie aber, die der Vater mit der Verheiratung Katharinas verfolgte, musste er gutheißen, auch wenn er der Meinung war, das Unternehmen sei zum Scheitern verurteilt. Denn der Wille der Kuhns war kaum zu überschätzen.
Beiden war die Misslichkeit der Lage gänzlich bewusst. Selbstverständlich war Rudolf der Spross von einer Art Schweinehirt, selbstverständlich war er ein Emporkömmling, der alles daran setzte, das stinkende Gewerbe seiner Herkunft durch politischen Einfluss zu veredeln. Bonifaz war gewillt, über die schlechte Herkunft des Falsettisten hinwegzusehen Katharinas Verheiratung mit dem Spross einer Aufsteigerfamilie mochte ihn, was die Frage der Mitgift betraf, zwar ein Vermögen kosten. Er witterte jedoch die wirtschaftliche Chance, die diesem Unterfangen innewohnte. Das Bündeln des Vermögens mochte politische Kräfte freisetzen, die die Stadt seit den Tagen ihrer verlorenen Reichsfreiheit nicht mehr gesehen hatte. Vielleicht würde man demnächst stärker auf das allzeit verlässliche Geld setzen müssen. Wer wusste schon, was mit dem Kurfürsten eines Tages geschehen würde?
Dies aber war ein Kalkül für die nächste Generation, für sich selbst konnte Bonifaz Kramer nichts mehr erwarten. Er hatte erreicht, was zu erreichen war, und war als Fremder zum einflussreichen und wohlhabenden Schultheißen herangereift. Dennoch war es ihm verwehrt, die Hoffnung auf eine Veränderung der Umstände offen zu formulieren. Diese Gedanken behielt er für sich und zog seinen allzeit geschwätzigen und aufmüpfigen Sohn nicht ins Vertrauen, um nicht selbst am Ende als Verräter dastehen zu müssen.
Katharina schmückte an Rudolfs Seite die Szene nur eingeschränkt. Denn in dem Maße, in welchem Kilian das weibliche Geschlecht für sich zu gewinnen wusste, wurde das männliche durch die matronenhafte Erscheinung der Schwester abgeschreckt. Sie war die Tochter ihres Vaters. Die zum Übergewicht neigende Statur und der hiermit freilich im Zusammenhang stehende, nicht zu zügelnde Appetit hatten das Mädchen bereits in seinen Jungfrauenjahren deformiert.
Katharina berichtete, wie der Vater eines Abends mit seinem Sekretarius aufgetaucht sei, wie er diesen in die Wohnstube gebracht habe, wie Rudolf ein Sträußchen aus der Rocktasche hervorgeholt und mit zitternder Stimme um ihre Hand angehalten habe. Sie erzählte, wie sie zunächst nicht gewusst habe, was sie sagen sollte, wie sie den Augenkontakt zur Mutter gesucht habe, um sich in diesem bedrängten Moment Rat zu holen. Antonia aber war eingeweiht und nickte eifrig. Alles war vorbereitet, die entscheidenden Gespräche waren zwischen den Eltern, dem Bräutigam und seiner Familie schon geführt worden. Im Augenblick der Verlobung durfte Katharina nicht anderes, als ja zu sagen.
Nun meinte sie, alles werde gut und ließ sich dazu hinreißen, von Glück und Freude zu sprechen, was allerdings nicht überzeugt klang. Obgleich Kilian Bedauern fühlte, dachte er, dass im Grunde alles in Ordnung sei. Hatte nicht auch Bonifaz seinen gesellschaftlichen Rang einer glänzenden Heirat zu verdanken?
Kilian hielt sich an den Befehl des Vaters und unterließ jedes politische Gespräch, schwätzte nicht von der Revolution und den Franzosen, nicht von Barrikaden oder Pfaffen. Nur einmal wurde er herausgefordert. Rudolf fragte: „Kilian, warum bist du zum Studium gerade nach Leipzig gegangen? Wäre es nicht besser gewesen, an eine rechtgläubige Universität zu gehen?“ Da sah Kilian seinem künftigen Schwager nun doch in die Augen und sagte: „Ach was, katholisch oder protestantisch, was macht das schon für einen Unterschied? Bei uns in Leipzig war es gleichgültig, zu welcher Partei man sich zählte. Dort war nur eines wichtig: die Humanität, das Menschsein an sich, sonst nichts.“ – „Aha …, die Humanität …, soso …“, erwiderte Rudolf, indem er die Augenbrauen nach oben zog und überlegen nickte. Kilian empfand dieses Gebaren als Beleidigung, sein Blick verfinsterte sich, er holte tief Luft und setzte zu einer revolutionären Tirade an, als der Vater laut und deutlich sagte: „Gut ist’s.“