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begann die Witwe unterdrückt zu weinen.

      Stenka schlug die Augen auf und sah Erkki verwirrt an. Dann richtete er sich mühsam auf und lächelte:

      »Du bist ja beinahe die ganze Nacht fortgewesen«, sagte er. »Willst du dich jetzt hinlegen?«

      Erkki schüttelte den Kopf.

      »Natürlich mußt du jetzt schlafen, du mußt sehr mü-

      de sein. Ich stehe auf.« Er erhob sich und trat an das Fenster.

      »Wo Leo nur bleibt?«

      »Er ist fortgefahren«, sagte Stenka, »noch gestern abend.«

      »Wohin?«

      »Nach Kalaa.«

      »Nach Kalaa?« Erkki glaubte, der Mann würde unsicher werden bei diesem Wort. Er stellte sich vor, daß an allen Holzwänden in Kalaa Aufforderungen zur Ergreifung des Lehrers klebten. Stenka nahm sein Ohrläppchen zwischen die Finger. Einige Wildtauben flogen am Fenster vorüber. Erkki ärgerte sich über die Sicherheit dieses Mannes. Er sagte: »Der Lehrer wurde noch nicht gefangen. Er scheint schlau zu sein, schlauer jedenfalls als die meisten von ihnen. Ich bin gespannt, wann sie ihn bekommen. Daß sie ihn bekommen, ist gar keine Frage, fragt sich nur, wann …«

      »Was werden sie mit ihm tun?«

      »Aufhängen«, sagte Erkki und erschrak über die Unmittelbarkeit seiner Antwort, »bestenfalls erschießen.«

      »Weißt du das genau?«

      Er nickte. – Stenka wandte sich vom Fenster ab und zog seinen Karton hervor. Auf der Straße bellte ein Hund.

      »Was willst du tun? Willst du gehen?«

      »Nein. Ich will meine Uhr in den Karton legen. Wenn man auf das Mitgefühl der Zeit angewiesen ist, braucht man keine Uhr. Ich habe noch nie Uhren leiden können.« Er zitterte vor Kälte.

      »Du sprichst wie ein Lehrer«, sagte Erkki mit zynischem Lachen. »Du sprichst wie ein Lehrer von seinem wackligen Katheder.« Seine Augäpfel traten weit hervor. »Ich wollte, sie fingen ihn noch heute. Dann würde ich mir einen guten Platz am Galgen besorgen. Ich würde den Platz sogar bezahlen. Lehrer sind die gefährlichsten Kreaturen, hier, auf dieser Welt. Sie haben die Menschen völlig in ihrer Hand; sie können sie aufhetzen und verblöden lassen. Wer jung ist, läßt sich immer beeinflussen, und …«

      Stenka stand halbgebeugt da und beobachtete ihn wie ein wachsamer Hund.

      » … und die Eltern müssen ihre Kinder selber erziehen.«

      Er spuckte zum Fenster hinaus. »Wenn sie ihn heute fangen, ich besorge mir einen guten Platz. Das steht fest. Man sollte der Miliz helfen, ihn zu finden.«

      Es herrschte einen Augenblick Stille. Über dem Garten schwebte ein Habicht wie ein in der Luft befestigtes Staubtuch.

      »Außerdem«, sagte Erkki etwas leiser, »könnte man zu etwas Geld kommen, wenn man ihn an den Galgen lieferte.«

      Er zog den Spiegelscherben vom Nagel herunter und säuberte ihn an seinem Ärmel. Stenka öffnete seinen Karton und legte die Uhr hinein. Er spürte, daß diese Worte nicht echt gewesen waren. Was sollte er tun? Wenn er fortginge: sie hätten ihn in spätestens vier Stunden eingefangen. Er dachte an seinen Freund in Kalaa, mit dem er zusammen auf dem Seminar gewesen war. Ob er es wohl wagte, ihn noch einmal zu verstecken? Von ihm hatte er den Karton bekommen und die schäbige Kleidung. »Du mußt schäbig aussehen, wenn du nicht verdächtigt werden willst«, hatte sein Freund gesagt. Aber der hatte leicht reden, man ließ ihn ungeschoren, weil er der Partei angehörte.

      Erkki sagte plötzlich: »Hast du keine Angst? – Du bist doch ein Lehrer?«

      »Nein, ich bin kein Lehrer. Ich sagte dir, daß ich in einem Sägewerk gearbeitet habe.«

      »In einem Sägewerk, oh, natürlich. In einem Sägewerk; beim Borken verschwinden ja die Schwielen. Ich dachte im Augenblick nicht daran. Wie konnte ich vergessen, daß man an der Kreissäge so viel Zeit hat, die deutsche Sprache zu lernen!«

      Sie schwiegen.

      Von der Witwe nebenan war nichts zu hören.

      Der Habicht flog zu den Kiefern hinüber.

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