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blieb für die Zukunft daher, die Stadt weit ins Landesinnere in ausreichend hoch gelegene Gebiete zu verlegen. Dies war allerdings wegen der astronomischen Kosten und am Boden liegenden Wirtschaft eher eine theoretische als eine tatsächlich machbare Lösung.

      Der Sturm hatte sich heute Nacht zu seiner vollen Stärke entwickelt. Er kam aus Ost-Nord-Ost und drückte das Wasser der Nordsee entlang des Themseverlaufs immer weiter in das Stadtgebiet. Der Neumond verschärfte die Situation zusätzlich, sodass der Wasserstand laut Vorhersage heute je nach Sturmstärke sechs bis acht Meter über dem Normalwert liegen sollte. Mit diesen Angaben hatten sich die Meteorologen aber gewaltig verschätzt.

      Von ihnen völlig unerwartet war vor zwei Tagen in der Nähe des Azoren-Archipels im Atlantik durch plötzlich aufsteigendes vierundvierzig Grad warmes Tiefenwasser ein gewaltiges Tiefdruckgebiet entstanden. Dies war eine Folge der inzwischen weltweit chaotischen Strömungsverhältnisse in den Ozeanen.

      Das warme Wasser stammte aus dem Golf von Mexiko.

      Da der Antriebsmechanismus des weltumspannenden Strömungssystem zusammengebrochen war, wurde es nicht mehr wie bisher mit dem Golfstrom nach Norden transportiert, sondern stand dort über Wochen wie ein See und wurde von der Sonne extrem stark aufgeheizt. Die so entstandene, riesige Warmwasserblase wurde schließlich von einer Tiefenströmung im Westatlantik erfasst, die sie auf einer weit südlich gelegenen Route in Richtung Osten transportierte, bis sie an den Azoren, einem Archipel weit vor der portugiesischen Küste, wieder zum Aufsteigen an die Meeresoberfläche gezwungen wurde. Die dabei an die Atmosphäre freigesetzte Wärmemenge hatte dort ein Tiefdruckgebiet erzeugt, das gerade im Begriff war, neue meteorologische Rekordwerte aufzustellen. Er betrug zur Stunde achthundertzehn Hektopascal, fiel aber noch weiter.

      In dieses extreme Tiefdruckgebiet wurde jetzt unter anderem die Warmluft hineingesogen, die aus dem aktuell über Sibirien liegenden Hochdruckgebiet stammte. London lag genau auf dem Weg dieser Strömung. Eigentlich konnte man dabei nicht einmal mehr von einem Orkan sprechen, denn die Geschwindigkeit der heute über die britischen Inseln und in Richtung Azoren jagenden Luftmassen betrugen über dreihundertfünfzig Stundenkilometer. Das entsprach schon einem ausgewachsenen Hurrikan der Stärke fünf. Tatsächlich hätte er sogar als Sturm der Kategorie sechs klassifiziert werden müssen, aber Werte über fünf existierten offiziell nicht.

      Draußen auf der Nordsee hatte er gewaltige Wellen von vierzig Metern Höhe aufgetürmt und selbst hier entlang der Themse erreichten die höchsten noch fünfundzwanzig Meter über dem normalen Pegel.

      Das Meer strömte schon seit heute früh auf einer Breite von über vier Kilometern über die Stahlwände der neuen Barriere bei Canvey und von dort immer weiter flussaufwärts.

      Julie hatte von hier oben einen hervorragenden Blick auf dieses unheimliche Geschehen und den ganzen Tag über Aufnahmen vom Verlauf der Katastrophe machen können.

      Es war jetzt kurz nach zwanzig Uhr. Von der Redaktion hatte sie vor wenigen Minuten erfahren, dass sogar schon deren Hauptsitz in Hampton, fünfzig Kilometer von der Themsemündung entfernt, kurz davor war, überflutet zu werden. Ein Nachlassen des Orkans oder eine Richtungsänderung war heute Abend noch nicht in Sicht und so würde das Wasser mit Sicherheit weiter ansteigen und ihre Büros zerstören.

      Sie ging nach vorne an die Fensterfront und schaute hinunter.

      Dort wo normalerweise die Themse langsam nach Osten floss peitschte der Orkan das dunkle Meer wie einen reißenden Strom voller Wellen und weißer Gischt in die entgegengesetzte Richtung nach Westen. Die Wasseroberfläche war von Millionen losgerissenen und zerstörten Gegenständen aus dem Stadt- und Hafengebiet übersät.

      Riesige Wellen schlugen gegen die Gebäude, die noch standen und umhüllten diese in weiße Gischt wie bei Explosionen. Die Straßen über die Themsebrücken waren inzwischen völlig im Meer verschwunden, während sie anfangs immer wieder noch zwischen den Wellenkämmen zum Vorschein gekommen waren. Nur noch ganz wenige Dächer älterer Gebäude schauten aus den Fluten. Auch die Bahnstation der London Bridge, die sich direkt am Fuß des Aurora Plaza befand, war nicht mehr zu sehen.

      Immer wieder jagten dunkelgraue Wolken vorbei und nahmen für Sekunden den Blick. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flussverlaufs ragte nur noch das Hauptgebäude des Tower of London aus dem Wasser. Die Mauer seines äußeren Festungsrings war schon verschwunden.

      Julie war zwar von ihren bisherigen Reportagen über Wetterkatastrophen einiges gewöhnt, aber ganz London versinken zu sehen, ließ sie doch zunehmend weiche Knie bekommen.

       Wie sollen wir uns davon je erholen ?

       Völlig unmöglich!

       Das Eis schmilzt weiter…

      Das ohrenbetäubende Heulen, Donnern und Dröhnen des Orkans, das weite Hin- und Herschwanken, Ächzen und Vibrieren des Wolkenkratzers ließen Julie fast seekrank werden. Wenigstens war das Trommelfeuer der bis in diese Höhe hochgewirbelten und andauernd in die Außenfassade hineinkrachenden Trümmerteile vorüber. Diese stammten von zerstörten Gebäuden und Industrieanlagen und waren auch noch in der vergangenen Nacht bis in diese Höhe gewirbelt worden. Das war extrem nervenaufreibend und zermürbend gewesen. Viele Scheiben waren dabei schon zu Bruch gegangen und der Orkan tobte inzwischen in den meisten Stockwerken genauso wie außerhalb des Gebäudes.

      Julie zuckte zusammen, als die bisher gewaltigste Bö das gesamte Gebäude erzittern ließ. Es schwankte und vibrierte dadurch so heftig, dass fast alle Teile der Decken- und Wandverkleidung herabfielen.

      Der Boden unter ihren Füßen knackte so laut, dass sie fürchtete, das erst acht Jahre alte Gebäude könnte vielleicht doch nicht standhalten, obwohl es nach normalen Standards angeblich unzerstörbar war. Es würde heute den Beweis dafür antreten müssen.

      Sie bereute inzwischen, sich auf diesen Auftrag eingelassen zu haben. Sie blickte hinunter auf The Shard, das zweithöchste Gebäude der Stadt, das die Form einer extrem in die Länge gezogenen Pyramide gehabt hatte. Seine ursprüngliche Höhe von dreihundertzehn Metern erreichte es allerdings jetzt schon nicht mehr, weil die sechzig Meter lange Spitze während des Orkans weggerissen worden war. Der übrig gebliebene Teil, einhundert Meter unter ihr, schien um viele Meter in allen Richtungen hin- und herzuschwanken. Dieser Anblick ließ Julie instinktiv einen Satz nach hinten machen.

      Von den Strapazen des Tages ermüdet, beschloss sie, sich in den inneren Bereich des Stockwerks zurückzuziehen, wo sie in einem Wartungsraum neben den Aufzügen ihren Tagesproviant deponiert hatte.

      Im schwachen Licht ihrer Stirnlampe, die sie neben sich auf den Boden gelegt hatte und jetzt im Sparmodus betrieb, schaute sie sich noch einmal die Aufnahmen des Tages an. Die besten Szenen hatte sie jeweils sofort per Satellitentelefon an die Redaktion hochgeladen. Es waren Bilder, wie man sie noch nie gesehen hatte. Der Verlauf der Katastrophe war darauf perfekt dokumentiert. Die ersten Szenen von heute Morgen zeigten die Überflutung der Schutzwände kurz vor fünf Uhr früh. Flußaufwärts wandernd fiel im Minutentakt die Beleuchtung der Straßenzüge und ganzer Viertel aus. Nach einer knappen halben Stunde war das gesamte Lichtermeer Londons erloschen. Auch im Plaza herrschte völlige Dunkelheit.

      Erst eine Stunde später erlaubte die Morgendämmerung wieder einen Blick auf die Stadt. Die Themse war als Fluss nicht mehr erkennbar. Stattdessen breitete sich dort eine sturmgepeitschte riesige Wasserfläche aus, die sämtliche Straßen, Plätze und Freiflächen der Stadt meterhoch überflutete. Es erinnerte sie auf den ersten Blick an das alte Venedig. Dort hatte es natürlich nie befestigte Straßen zwischen den Gebäuden gegeben, sondern nur schiffbare Kanäle.

      Im Verlauf der nächsten Stunden konnte Julie mitverfolgen, wie das Wasser weiter anstieg und die Gebäude immer tiefer in den Fluten versanken. Dort wo vorher die Themse geflossen war, trieb der Orkan hunderte losgerissener Boote und große Schiffe und Lastkähne aus dem Hafengebiet vor sich her. Sie wurden gegen die Gebäude links und rechts des Themse-Ufers geschleudert und zerstörten deren Außenmauern. Als auch die beiden äußeren Festungsmauern des Towers of London auf ihrer gesamten Länge und samt den Türmen von einer ganzen Kaskade riesiger Wellen eingerissen wurden, fingen ihre Knie an

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