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Entenbootweltbürger und andere Erzählungen aus Südkorea. Park Min-gyu
Читать онлайн.Название Entenbootweltbürger und andere Erzählungen aus Südkorea
Год выпуска 0
isbn 9783706930123
Автор произведения Park Min-gyu
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Den Augenblick, als mein erster Zug einfuhr, werde ich nie vergessen. Von wegen Zug, es war ein grausiges Monstrum, ein Untier. Es wälzte sich in die Station herein und ließ seine Flanke aufplatzen, und – ein Luftholen, ein Ausatmen: „Phhha, Hhhha!“ – die Menschen spritzten heraus wie Erbrochenes, wurden von der Bestie ausgekotzt. Ganz unwillkürlich löste sich aus meinem Innern ein tiefer Seufzer: „Mein Gott!“ Bei einem Dammbruch gab es sicher ähnliche Bilder. Und mir war, als schwappe die Brühe mir durch die Augen, die Ohren und die Nase in den Kopf, um dort alles zu überschwemmen. „He!“ Womöglich wäre ich der Bestie noch selber zum Fraß geworden, hätte Coach nicht so herübergeschrien. Ich erfing mich und sah dem Untier zu, wie es scheinbar dabei war, über seine offene Flanke den Schwall des Erbrochenen wieder in sich hineinzusaugen. Als wollte es sich so mit Energie aufladen. „Los!“, schrie Coach jetzt. Daraufhin wurde ich zum Berserker, griff wahllos mal in was Schwabbeliges, mal in was Festes, und schob wild drauflos. Was das war, daran kann ich mich bis heute nicht erinnern. Oder doch, aber darf ich mich wirklich zur Aussage versteigen, es sei die Menschheit gewesen?
Als der Zug abfuhr, kam Coach gleich zu mir herüber, um meine Moral zu stärken: „Nicht schlappmachen!“ ‒ „Schon gut!“, erwiderte ich. Aber auch wenn ich noch so tief durchatmete, zitterten mir doch die Beine. „Die Fahrgäste darfst du nicht als Menschen sehen. Ich meine, sieh sie als Frachtgut an oder was weiß ich! Verstehst du? Kapiert?“ Coach hatte gerade mal sein „Kapiert?“ fertig artikuliert, da fuhr auch schon der zweite Zug ein, und wir mussten uns wieder gefechtsbereit machen. Dieser zweite Zug war einer von denen, die tatsächlich bis zur äußersten Endstation fuhren. Vielleicht war es deshalb, auf jeden Fall strömten scheinbar doppelt so viele Menschen heraus wie beim ersten. „Phhha, Hhhha!“ War das nun nicht wirklich schon die komplette Menschheit?
In dieser Tonart verging gut eine Stunde. In einem Moment der Klarheit fand ich mich schwerfällig auf meinem Hintern sitzend wieder, diesseits der Sicherheitslinie, also ausreichend „zurückgetreten“. Vor meinen Augen lagen da drei Krawattennadeln, zwei Knöpfe und ein abgebrochener Brillenbügel. Der stammte von einer Hornbrille und erinnerte mich irgendwie an einen Blindenstock. Als ich diese Fundsachen der Menschheit einsammelte, merkte ich erst, dass ich am ganzen Körper klatschnass war. Na eben, ein Marsianer müsste man sein, dann hätte man’s bestimmt besser, viel besser.
Eine Woche verstrich. Morgens war ich immer Augenzeuge am gnadenlosen Menschheits-Schlachtfeld, am späteren Vormittag war dann Zeit für einen kurzen Schlummer zu Haus, danach machte ich meinen Tankwartjob, und den Abschluss bildete die Nachtschicht im Minisuper. Nachdem mir nach dem ersten Mal den ganzen Tag Head, shoulders, knees and toes höllisch wehgetan hatten, waren es am nächsten Tag Head, shoulders, knees and toes, knees and toes und noch einmal die Knie, und am Tag darauf war’s dann soweit, dass mir praktisch à la Head, shoulders, knees and toes, knees and toes and eyes and ears and mouth and nose sowieso schon alles wehtat. „Also echt ... Sollte man dafür pro Stunde nicht mindestens drei Zehntausender kriegen?“ Einmal mehr packte mich der Frust, aber es war richtig, was Coach sagte: „Wenn du jetzt alles hinschmeißt, hast du dich ganz umsonst gequält.“ Darum biss ich die Zähne zusammen und trat weiter jeden Morgen zum Dienst an. Am Ende war ich damit gar dem geheimen Erfolgsrezept beim Pyramidenbau auf der Spur. „Hör ich jetzt auf, war der bisherige Aufwand umsonst“, rechnete ich mir nämlich immer vor; und ähnlich, aber noch einfacher, ging wahrscheinlich die Kosten-Nutzen-Rechnung der seinerzeitigen ägyptischen Sklaven: „Schuften wir eben weiter. Kommt ja doch nur ein Blödsinn raus, wenn wir sagen, wir wollen nimmer.“
Es war merkwürdig. Während ich mich da mit eisernem Willen durchboxte, fand ich allmählich Gefallen an der Arbeit. Die Schmerzen und das Stechen in Head, shoulders, knees and toes, knees and toes gaben sich, und, wahrhaftig, die Sache machte sogar irgendwie Spaß. Bei Tagesanbruch war es selbst im Sommer angenehm kühl. Wenn ich in Gaebong im U-Bahnhof eintraf, stand da meist schon Coach, eine Zigarette im Mund. Vom Chef – so nannte Coach den Bediensteten am Fahrkartenschalter – bekamen wir dann eine Gratis-Fahrkarte ausgehändigt. Mit der betraten wir den Bahnsteig, um uns dann ganz vorn, an der Spitze des zu erwartenden Zugs, aufzupflanzen, als hätten wir ein Privileg darauf. Als gewöhnlicher Fahrgast hatte ich mich zum Warten immer dort postiert, wo eine Bodenmarkierung besagte, dass da der achte Waggon zu halten habe; kostete mich einfach die wenigsten Schritte, wenn ich von zu Hause über „meine“ Stiege in die Station geschlurft kam. In diesem Sommer aber war ich nun mal in Amt und Würden ‒ also vorspaziert zur Nummer eins. Wenn ich mich dann mit Coach vor dem Fahrer zum höflichen Gruß verbeugte, öffnete uns der meistens die Seitentür zu seiner Kabine. Solche Sachen waren wirklich fein.
„Für die Leute da draußen sind wir schon lebende Legenden.“ Die Ansprachen oder Predigten, oder wie auch immer, des „Regisseurs“ im Aufenthaltsraum waren ein eigenes Vergnügen. Alter, Berufserfahrung, Kraft im Ärmel, kompromisslose Professionalität und abgedroschene Lebensphilosophie – er war uns einfach in allem über, und so war er zu seinem Spitznamen gekommen. In der Realität war er eine Art Sprecher und Anführer von uns Pushmännern, und insofern galt uns, was er sagte, zwar nicht absolut als das Evangelium, aber nichtsdestoweniger konnte man ihm stets nur beipflichten: „Aha, genau, stimmt, ja, klar!“ Sein Hauptpunkt war immer: Wir sind eine Stütze der Wirtschaft unseres Landes. Wir sind gleichsam wie jener berühmte holländische Knabe, ihr wisst schon, dieser Achtjährige, der Haarlem vor der Flut rettet, weil er zufällig ein Loch im Deich entdeckt und es beherzt mit seinem Finger zustopft (denn jedes kleine Loch wird schnell ein großes); er harrt dann frierend die ganze Nacht aus, bis am Morgen endlich wer vorbeikommt. Genauso opfern wir uns auf, damit das Verkehrssystem nicht zusammenbricht. Und wir Pushmänner von Sindorim, dem ärgsten Knotenpunkt von allen, sind überhaupt die größten Helden unserer ganzen Zunft. „Hört, hört!“
Für bloß drei Tausender pro Stunde wollten wir nicht unbedingt gleich so weit gehen wie der kleine Holländer, aber mit einer Aussage des Regisseurs waren wir alle vorbehaltlos einverstanden, nämlich der, dass wir die Crème de la crème darstellten. Unablässig predigte er es uns vor: Wer nicht zur Elite gehörte, zu den Auserlesenen, zur Crème de la crème eben, der hat nicht das Zeug zum Pushmann in der Station Sindorim. Außerdem hatte er Tricks für uns, wie man die Leute noch effektiver schob, brachte uns bei, wie man einen Fahrgast rettet, dessen Fuß in den Spalt zwischen Waggon und Bahnsteigkante gerutscht ist und sich dort verkeilt hat, wusste, wie viele Leute wirklich in einen Waggon hineingehen und dergleichen Sachen. Und urplötzlich kam er einem mit so was wie: „Da sind jetzt neue Kekse am Markt, heißen Oh yes. Hab sie schon probiert, wirklich lecker. Auf was stehst du mehr: Choco pie oder Oh yes?“ Damit brachte er jeden aus dem Konzept, das war eine Extrabegabung von ihm. Pflichtschuldig lachten wir dazu immer ganz herzlich.
Im Übrigen passierte so allerhand. Einmal hatten wir ein Kind, das, eingezwängt unter lauter Erwachsenen, in Ohnmacht gefallen war. Was waren das für Menschen, die ihr Kind in der Stoßzeit mit der U-Bahn fahren ließen? Aufgeregt ließ der Regisseur die Eltern ausrufen. Aber es war absehbar, dass Rabenmutter und Rabenvater sich nicht in der Station befanden. Im Bereitschaftsraum kam das Kind wieder zu sich und weinte bitterlich. Es müsse doch zum Mathematik-Wettbewerb, Mutter werde schimpfen. Der Regisseur wollte dem Häufchen Elend, das vom andern Ende der Stadt, aus Bucheon, gekommen war, eine Cola und ein Oh yes schenken. Er beauftragte mich mit dem Einkauf und gab mir das nötige Geld: „Du bist der Jüngste, sei so gut.“ Ich nahm die dreißig Minuten seines Lebens und sagte bloß, dem Ernst der Situation entsprechend, also nüchterner als sonst: „Kein Problem.“
Und einmal stand da eine hübsche Frau vor mir: „Ich flehe Sie an! Ich bin doch schon viel zu spät dran.“ Damals fiel es mir immer noch sehr schwer, bei einem weiblichen Körper einfach aufs Geratewohl hinzugreifen und draufloszuschieben.