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LANDEBAHN. Stefan Gross
Читать онлайн.Название LANDEBAHN
Год выпуска 0
isbn 9783347074958
Автор произведения Stefan Gross
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
»Sie irren sich, wenn Sie glauben, wir könnten stets entscheiden, wie wir gerade lustig sind. Aber das können wir nur scheinbar. Und Sie können das nicht verstehen. Noch nicht. Und so treffen Sie ständig falsche Entscheidungen, die Ihnen dann auf die Füße fallen. Sie stolpern im Leben herum und wollen aller Welt glauben machen, die Dinge ließen sich, wenn man nur wolle, stets zum Besseren entwickeln, zu mehr Glück, Erfolg, Gesundheit und einem langen aufregenden Leben, wenn auch nicht unbedingt zu mehr Frohsinn und Gemütlichkeit. Aber wer wir eigentlich sind und was wir im Leben wirklich verloren haben, das wollen Sie nicht wahrhaben. Sie denken, es müsste unbedingt eine Bestimmung geben, eine Wendung zum Besseren. Das ist unsere Tragödie. Wir denken das alle gelegentlich. Aber Sie haben dazu noch Angst, tragisch zu enden und sich nur noch lächerlich zu machen, so wie ich. «Diese Worte schmerzten mich. Brauer war ein Seelenverwandter, ein echter Bruder. Ich antwortete ihm mit dem schiefen Lächeln des Besiegten, der immer noch glaubte, eine Chance zu haben und heuchelte weiter.
»Na gut. Überlegen Sie es sich in aller Ruhe. Es wäre wirklich sehr, sehr schade. Und es wird Ihnen womöglich leidtun. Oder gibt es Gründe, die Sie uns nicht mitteilen können? Hören Sie Herr Brauer, S&T hat ein offenes Ohr für jeden seiner Mitarbeiter.«
Brauer wusste genau, wie er den Nagel zu schmieden hatte. Er dachte gar nicht daran, auf mein Angebot einzugehen, dafür umso mehr auf mich, der seinen Widerwillen für dieses Projekt vor Brauer kaum mehr verbergen konnte. Brauer las meine Gestik, Mimik, Körpersprache, meine innere Haltung und gesamte Verfassung wie ein Hacker den Quelltext eines Programms. Denn ich hatte überhaupt keine Lust auf den Indien-Trip und das lag nicht nur an diesem Mr. Rajshekhar Raji, der ein ganz strammer Hindu war. Einmal hatte ich das Wort Umstrukturierung bei einer Videokonferenz nur kurz erwähnt. Da war er gleich ausgerastet und hatte die Ausstrahlung eines Laborprimaten auf Amphetamin an den Tag gelegt. Seine anschließende Entschuldigung war dann ein willkommener Anlass, sich als guter Patriarch vor seine Belegschaft zu stellen. Er wusste so gut wie ich, dass seine rückständig organisierte Abteilung personell hoffnungslos überbesetzt war. Mir blieb die Rolle des kaltherzigen Rationalisierers, obwohl Raji genau wusste, dass ich ihm letztlich nur einen Gefallen tat.
Vor meiner Zeit als Berater war ich Offizier bei der Bundeswehr und hatte Einsätze in Afghanistan geleitet. Daher wusste ich, dass Choleriker die untauglichsten Soldaten waren, die man sich vorstellen konnte. Sie waren ein echtes Risiko. Ich schätzte Menschen mit einer natürlichen Begabung zur Höflichkeit und Zurückhaltung. Ich war überzeugt, dass sie in den Führungsebenen als Kernkompetenz unerlässlich sei und cholerische Anfälle ausschloss. Doch ich traf ich immer wieder auf Führungskräfte, die eine geradezu gütige Attitüde nach außen an den Tag legten, hinter verschlossenen Türen aber hemmungslos ausrasteten. Ich mochte wirklich keine Choleriker, doch dieser Raji, dessen Vorname und Nachname wohl das gleiche bedeutete (König oder Herrscher, hatte man mir erklärt), war einer. Ich solle Herrn Raji ruhig ein paar gute Flaschen Rotwein vorausschicken, hatte mir eine junge unerschrockene Mitarbeiterin von S&T, die mit in dieser Konferenz war, augenzwinkernd geraten. Ganz sicher genoss er das vergorene Getränk zu saftigen Rindersteaks, die ihm ein verschwiegener muslimischer Koch zur Mitternachtsstunde auf dem Gasflammenherd zu Wagner-Opern zubereitete und träumte dann von Bayreuth. Mich erwarteten in Indien zweifellos einige Machtkämpfe mit ihm, für die ich mich im Moment viel zu erschöpft fühlte. Aber hier und jetzt hatte ich erst einmal Brauer zu versorgen.
»Kommen Sie, Herr Brauer, sehen Sie die Chancen und verabschieden Sie Ihre Bedenken. Springen Sie über Ihren Schatten. Unser Wille zur Veränderung ist es, der uns weiterbringt. Das wissen Sie doch besser als ich. Sie genießen großen Respekt, gerade auch bei den Jungen. Und diese jungen indischen Ingenieursherzen erst. Sie werden Ihnen zufliegen. Wenn Sie wollen, beschaffen wir ihnen einen Praktikanten und Sie schreiben ein Traktat, einen Essay über Ihre Ingenieurskunst, Ihre Philosophie, Ihren Weg. Wir nennen das natürlich anders, es wird Ihre ganz persönliche Agenda, nennen wir es einfach Mein Weg oder Lectures of a German Engineer.« Brauer kratzte sich verlegen im Nacken, als schien er zum ersten Mal wirklich ernsthaft über dieses Angebot nachzudenken. Ich beugte mich vor. »Hören Sie, mein lieber Herr Brauer, wir können offen reden. Man kennt oben ihr Problem. Und verstehen Sie mich bitte richtig: niemand hat mich gebeten, es mit Ihnen zu besprechen. Ich tue es, weil Sie es mir wert sind. Sie können das beenden. Die Geschäftsführung ist da voll auf ihrer Seite. Man gibt Ihnen die Zeit, das hinter sich zu bringen. Es gibt sehr gute Einrichtungen. Und man lässt Sie nicht einfach allein, wenn Sie das hinter sich haben. Sie kriegen einen Coach und den können Sie auch aus Indien jederzeit anrufen. (Jederzeit glaubte ich selbst nicht.)« Brauer schaute mich nur kurz an, seine Augen blitzten jungenhaft, schelmisch, als hätte er gerade die Pointe eines guten Witzes erfasst. Dann erhob er sich ächzend und ging Richtung Tür. Dort blieb er stehen und drehte sich um. »Glauben Sie wirklich, ich trinke aus Verzweiflung? Weil ich nicht anders kann? Weil mir nichts anderes mehr übrigbleibt?« Auch ich erhob mich. »Und wenn es so wäre, wären Sie gewiss kein…« Ich unterbrach mich und winkte ab. »Verzeihen Sie, alles was ich Ihnen sagen könnte, wäre anmaßend.« Brauer streckte mir die Hand zum Abschied hin. Ich ergriff sie mit der Lässigkeit des Betrügers. Brauers weiche, warme Pranke umfasste sanft meine schlanke sehnige Hand und ich spürte den unwiderstehlichen Strom von Brauers Liebe in mich eindringen. »Machen Sie es gut, junger Freund, Sie werden Indien sicher noch lieben lernen, wie alles andere, was Sie sich vorgenommen haben.« Ich fühlte mich von diesem Mann geliebt und betrogen. Brauer ließ mich stehen und ging. Lachte er etwa? Ja, wahrscheinlich lachte er.
Zukunft
Am Tag nach dem Gespräch mit Brauer lud Richard mich in sein Büro ein. Er wollte mit mir über einen Vortrag in Berlin zum Thema Zukunft sprechen. Er wusste von der Sache natürlich schon länger, sprach aber erst jetzt, vier Tage bevor die Veranstaltung stattfinden sollte, mit mir darüber. Ich hatte gleich das Gefühl, dass ich konsequent hätte Nein sagen sollen, denn Vorträge halten war überhaupt nicht mein Ding.
»Welche Zukunft?«, fragte ich. »Meine, deine, unsere, die der Menschheit, die des Planeten oder die des Universums? Gibt es überhaupt so etwas wie Zukunft oder träumen wir da nur von einer besseren Gegenwart? Genauso gut könnte man über die Existenz Gottes spekulieren. Geht’s nicht ein bisschen kleiner und konkreter?«
Richard nahm seine Brille ab, kratze sich im Bart, setzte sie wieder auf und überließ sich seinen sprechenden Gedanken.
»Super, Carl, ganz genau. Die Zukunft hat auch eine spirituelle Dimension, ist vielleicht die spirituelle Dimension überhaupt. Sprich da ruhig über Gott – nein, besser über das Göttliche, sonst denken alle gleich wieder an den weißen Mann mit Bart, den mit dem Finger beim Techtelmechtel mit Adam. Aber viele stellen sie sich inzwischen lieber als große schwarze Göttin vor. Außerdem ist Gott für viele längst tot.
Da muss uns was Besseres einfallen.«
Richards Blick schien mir mittelalterlich verklärt nach innen und oben gerichtet. Er lächelte entzückt, vermutlich visualisierte er das Gewölbe der sixtinischen Kapelle. »Du weißt, was ich meine?« Ich verzog den Mund. Wie konnte Richard annehmen, dass ich das nicht wüsste. Richards Überheblichkeit tat mir manchmal weh wie verdrängte Karies. »Das war – lass mich nachdenken – Michelangelo?« Richard grinste. »Ja klar, aber das meine ich nicht. Sprich über Zukunft und Spiritualität. Das ist konkreter.«
Richards Vorschlag, ein zu großes Thema durch ein noch größeres eingrenzen zu wollen, machte mir Angst. Ich schaute instinktiv zum Fenster, dem Loch in der Wand, die Verbindung nach draußen. Richard beugte sich vor, stützte die Unterarme auf seinen Schreibtisch, faltete die Hände und betrachtete mich. Nein, er betrachtete mich nicht nur, seine munteren Augen fotografierten mich, seine Lider schnappten im Zehntelsekundentakt auf und zu und sein Kopf ging dabei mit, fokussierte meine Augen, Brust, Arme, Hände. Er hatte etwas von einem neugierigen freundlichen Vogel. Ich liebte ihn für diesen Blick und lächelte.
»Ich bin kein Speaker. Ich bin keiner und ich will auch keiner werden. Die vielen Leute, die anonyme Masse, die und die Bühne, ich da