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der an die zehntausend neue, überwiegend junge Mitarbeiter ins Unternehmen einbrachte. Dreißigtausend Ingenieure unter einem Dach würden dann bei S&T die Industrien der Zukunft insbesondere in Asien planen. Ich betreute diesen Prozess und war auf Wunsch von S&T intensiv in deren Organisation eingebunden. Ich sollte hinreichend Stallgeruch bekommen und alles genau kennen lernen.

      Seit einer halben Stunde saß ich nun schon mit Brauer zusammen. Und er ging mir gehörig auf die Nerven.

      »Ahh, vergessen’s das bloß mit den Weibern, Herr Hammer. Man darf ja wirklich nix mehr sagen«, protestierte er und suchte den Schulterschluss unter Männern, doch ich betrachtete ihn nur, versuchte, die richtige innere Distanz zu ihm wieder herzustellen, was er auch gleich mitbekam.

      Brauer sei schon ein sensibles Tierchen, hatten sie mir oben in der Human-Ressource-Abteilung von S&T gesteckt, auch wenn sie die Spezies nicht definiert hatten. Schwein? Ratte? Schlange? Wolf? Ich sann über das passende Totem für Brauer nach und fand, dass er am ehesten was von einem Bären hatte. »Nie hab ich einer auch nur einmal…«, brummte der Bär. »Was?«, fasste ich wieder nach, dieses Mal noch schärfer im Ton und wohl zu laut. Brauer fuhr gleich aus seinem Freischwinger hoch. Sein massiger Oberkörper schoss verblüffend schnell nach vorne bis an die Tischkante, als hätte ihn die elastische Stuhllehne katapultiert, und winkte verärgert ab. »Ah! Gar nix! Als hätt ausgerechnet ich Dreck am Stecken«, schnaufte er. Brauer war ein impulsiver Charakter, auch wenn das vielleicht nicht bärentypisch war – oder vielleicht doch. Was wusste ich. Ich sah die Schweißperlen auf seiner Stirn, und die trieb ihm gewiss nicht das wohl temperierte Reizklima dieser modernen Arbeitswelt hier hervor, das in diesem erst vor wenigen Wochen fertiggestellten Bürogebäude herrschte. Die neuen Oberflächen schimmerten noch verheißungsvoll und rochen klar unterscheidbar nach Materialien. Steinboden, Wandfarben, Holz, Metall; sogar das Glas verströmte noch einen spezifischen, nicht von menschlichen Ausdünstungen überlagerten Geruch. Brauer schwitzte, weil es hier nichts anderes zu trinken gab als Wasser, wenn auch unterschiedliche Sorten. Drei Flaschen mit der Aufschrift Plain, Medium und Active standen nebeneinander auf dem Glastisch, eine eigene Edition für S&T. Das Firmenlogo, eine grafische Applikation der beiden Buchstaben, prangte in intensivem Blau auf den puristisch gestalteten Etiketten. Die für die Corporate Identity zuständigen Designer hatten ihren Job schon gemacht. Wem aus diesen Flaschen eingeschenkt wurde, sollte erkennen können, mit welcher Kultur er es in diesem transformierten, oder besser: sich im Transformationsprozess befindenden Unternehmen zu tun hatte.

      Brauer kramte umständlich ein kariertes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche, wischte sich den Schweiß von der rotglänzenden Stirn, faltete es routiniert zusammen und sagte – man hätte es bei diesem bärigen Typen kaum für möglich gehalten – mit schnurrender Freundlichkeit: »Was halten Sie von einer Pause, junger Freund?« Ich konnte mir Brauers verblüffende Verwandlung in einen Schmusekater nur mit dessen dringendem Bedürfnis nach Alkohol erklären.

      Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte eine Stunde Zeit, mit Brauer über seine Zukunft bei S&T zu verhandeln, aber darüber, dass man ihn nach Indien versetzen wollte, hatten wir noch kein Wort verloren. Ich schaute nach draußen. Im Innenhof spiegelte sich der Bambus in der dunkelgrünen Glasfassade. Amazing energizing working environment. We want to energize our people, lobten die Amerikaner das angeblich nach Feng-Shui Regeln gestaltete Gebäude. Brauer war nicht der einzige, dem solche Sprüche auf den Geist gingen, aber er hielt eben die Klappe nicht. In der Vollversammlung neulich hatte er S&T eine amerikanische Marketinggesellschaft mit deutschen Bedenkenträgern und indischen Fleißbienchen genannt. Seine sarkastischen Kommentare kamen inzwischen überhaupt nicht mehr gut an. Früher hatte er auf Betriebsfesten mit kabarettistischen Einlagen für Stimmung gesorgt. Ich hatte Mitleid mit ihm, und das, wusste ich, war gefährlich. Also versuchte ich ihn zu verachten. Brauer erhob sich, ohne eine Antwort abzuwarten. Er war wirklich ein Bär, einer von der gedrungenen, ziemlich breit gebauten Sorte. Im gestärkten weißen Hemd und in von altmodischen Hosenträgern gehaltenen Senioren-Jeans wirkte er geradezu provozierend falsch gekleidet. Ich blieb einfach sitzen und nahm mir heraus, diesen Mann eine Weile zu betrachten, wie es mir beliebte. Diese Demütigung war der Preis, den der Alkoholiker zahlen musste, bevor ich ihn zum Auftanken entließ. Ich ließ ihn schmoren.

      Lang und breit hatte Brauer in der letzten halben Stunde dargelegt, warum es nicht mehr rund lief bei S&T und mich überhaupt nicht zu Wort kommen lassen. Brauer könne vor allem eines nicht, nämlich zuhören, hatten sie mich oben gewarnt. Und er sage Kunden leider auch ungefragt ins Gesicht, wie und wofür sie ihr Geld am besten auszugeben hätten. Und wenn Brauer erst das Wort habe, lasse er es sich nicht mehr nehmen und rede sogar dann noch hemmungslos weiter, wenn alle am Tisch aufstanden, ihre Sachen einpackten und zur Tür rausgingen. Was offenbar vorgekommen war, bei Schweizer Kundschaft, die sich leider seither sehr zurückgezogen habe. Brauer müsse raus aus dem Kundengeschäft, hatte der neue CEO von S&T Deutschland, ein junger Karrierist mit geglättetem bayerischem Akzent, mich geradezu angefleht in typisch bayerischer Übertreibung.

      Denn die Zeit für allmächtige Ingenieure, die den Kunden ihre Meinung diktierten, sei vorbei. Seit der Planet eine einzige riesige Messe sei, auf der alle ständig herumkramten, als sei Schlussverkauf, müsse man vor allem eines können: gut verkaufen nämlich, auch als Ingenieur. Da sei Brauer mit seinem Latein aber sehr schnell am Ende gewesen, ja im Gegenteil. Er habe den Akademiker raushängen lassen und die Kunden vergrault. Non omnia possumus omnes! Ob ich denn wüsste, was das heißt? Ich hatte passen müssen.

      »Na schön, zehn Minuten, aber wirklich nur zehn«, sagte ich schließlich. Brauer marschierte flugs Richtung Tür und nahm sich dann doch noch kurz Zeit, sich an mich zu wenden. Er zauberte ein jungenhaftes Gesicht aus seinen eben noch zerfahrenen Zügen und strahlte mich an. »Sie sind also doch ein Anständiger. Und das müssen Sie unbedingt bleiben, ein Anständiger, denn es gibt kaum mehr Anständige. Und wenn Sie erst in meinem Alter sind, dann werden Sie verstehen, wie ich das meine. Denn das ist das Einzige, was wirklich zählt, Anstand, egal in welchem Alter.« Und dann malte er eine Acht in die Luft. »So lange noch, mein Freund, und ich werde das durchziehen, das hab ich meiner Frau versprochen. Und Sie, mein Freund, werden das auch nicht ändern, auch wenn Sie das sollen und vielleicht sogar meinen, dass sie das wollen, weil die da oben (er zeigte wieder zur Decke) Sie viel zu gut bezahlen, als dass Sie sich noch eine eigene Meinung leisten könnten.« Ein leichtes Zucken in Brauers Gesicht, ein Wimpernschlag. Das war’s. Ich spürte den Blick in meinem Bauch. Brauers Miene verdunkelte sich, als er seine Konzentration von mir abzog. »Wusste ich‘s doch«, brummte er, ging raus und ließ mich allein im Raum zurück. Brauer war trotz seiner Sucht ein erhabener und zutiefst mit seiner Firma verwachsener und auf seine Lebensleistung stolzer Mensch.

      Ich starrte gedankenverloren zu der Stelle, wo die Acht noch spürbar hing und war kurz in Versuchung, aufs Klo zu verschwinden und mir einen runter zu holen. Ich musste dieses Gefühl aufsteigender Ohnmacht aus unterdrückter Aggression so schnell wie möglich loswerden. Ich verfluchte meinen Job, halblaut, wie in Bayern üblich, und brummelte vor mich hin. Das Fluchen war auch eine Art Masturbation. Man besorgte es sich selbst, dachte dabei an andere und genoss eine oberflächliche Entladung von Druck. Ich ging zum Fenster, öffnete es, streckte den Kopf raus, schüttelte ihn aus wie einen Putzlappen und stellte mir vor, wie alle meine negativen Gedanken nach unten in die angepflanzten Büsche sanken. Die kleine Therapie funktionierte erstaunlich gut. Ich verspürte augenblicklich Erleichterung und begann, ein wenig vor dem offenen Fenster zu tanzen, mich zu schütteln und auf den Boden zu stampfen, allerdings nicht zu heftig. Berechtigte Bedenken, dass sie eine Etage tiefer auf die Idee kommen könnten, hier oben habe irgendwer nicht mehr alle Programme in der Cloud, ließen mich diese auf einem Seminar gelernte Methode schnell wieder abbrechen. Meine innere Arbeit über mein Aggressionsthema war ein langwieriger und komplizierter Prozess. Richard coachte mich gelegentlich. Obwohl an allen möglichen Instituten als Berater, Coach, Trainer und sogar als Schamane ausgebildet, schwor Richard auf die ganz einfachen Dinge wie Ausatmen – Innehalten – Ankommen. Er hatte für mich eine Übung entwickelt: Brrr, immer wieder Brrr, bis die Lippen anfingen zu jucken. Richard meinte, mein Krafttier sei das Pferd. Und das drohe eben manchmal mit mir durchzugehen, aber das sei dennoch ein Glücksfall. Zu einem Pferd könne man schließlich ziemlich gut eine innere Beziehung aufbauen. Er selbst

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