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Ich habe ja wohl doch mitbekommen, dass sie öfter auch hier im Haus mal einen kleinen Joint durchziehe und wie sehr sie mich bewundere für meinen gewissenhaften Umgang mit dem Thema. Ich fühlte mich durchaus geehrt und schlug vor, eine Hausarbeit in Bio über mein Cannabisprojekt zu schreiben, was Sabine aber schnell verhinderte. Das solle ich mir für später aufheben, wenn ich erwachsen sei und studiere. Ich war fünfzehn. Wie lange sollte man denn noch mit dem Studieren warten? Die Berliner Lehrer waren offenbar doch noch nicht ganz so weit. Jetzt jedenfalls wollte sie hier oben einen Joint mit mir rauchen und ich ließ mich breitschlagen. Als Dank bekam ich eine ziemlich erwachsene Umarmung und einen Kuss auf die Lippen. Körperlicher Kontakt zwischen uns war inzwischen selten geworden. Es war ja nicht ganz einfach, mit einer attraktiven Stiefmutter unter einem Dach zu wohnen, wenn man männliche Bedürfnisse hatte, für die man sich schämte.

      Sabine mit ihren dunklen Haaren und ihrem dunklen Teint sah mir ein bisschen ähnlich. Ich mochte ihren Geruch und den Druck ihrer Brüste in der Umarmung. Sie hatte mich daran nuckeln lassen als Säugling, um mir das Gefühl zu geben, meine echte Mama zu sein. Ich habe sie aber wohl nicht besonders gemocht. Sie erzählte mir diese Geschichte bei zig Gelegenheiten und dann sollte ich ihren traurigen Blick aushalten. Ich konnte aber kein Mitleid für Sabine empfinden, dafür, dass sie keine Kinder bekommen konnte und mit mir Vorlieb nehmen musste. Denn mein Schicksal war härter als ihres. Wir waren eine Zweckgemeinschaft, mehr nicht und damit musste auch Sabine sich abfinden. Thomas kam damit wohl besser zurecht. Jedenfalls hat er nie mit mir darüber reden wollen, dass er nicht mein Vater war. Aber Sabine, das spürte ich, wollte mehr von mir, wollte, dass ich ihr richtiges Kind sei. Und je mehr sie das, was ich ihr nicht geben konnte, von mir verlangte, und alles in ihr verlangte danach, desto stärker verweigerte ich mich. Wir hatten also oft Streit und vergossen beide Tränen, nur um uns wieder versöhnen zu müssen, uns umarmen zu müssen, um die Schockwellen zu dämpfen. Und um uns Versprechungen zu machen, in Zukunft besser aufeinander aufzupassen und wenigsten ein paar Zärtlichkeiten und Berührungen zuzulassen, weil wir doch eine Familie sein wollten. Ich brauchte ihren Kontakt, denn mit Thomas hatte ich so gut wie keinen. Ich wusste überhaupt nicht, wie er sich anfühlte. Er hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit mir. Er war ein blasser, hagerer, schlaksiger Riese von knapp zwei Metern Länge und hatte etwas von einem misslungenen Versuch an sich. Er war stets um Haltung und ein wenig Eleganz in seinen Bewegungen bemüht, um nicht gleich lächerlich zu wirken. Wir passten einfach nicht zusammen, aber auch ihn mochte ich irgendwie, ein Irgendwie, über das ich mir zu oft den Kopf zerbrach. Ich kam an diesen seltsamen Riesen einfach nicht ran und hielt mich auch deshalb lieber an Sabine.

      Sabine gab mir ihren Tabak und Blättchen. Ich versuchte, eine Zigarette mit ein bisschen Gras drin zu drehen, stellte mich aber ziemlich unbeholfen an. Ich bevorzugte nämlich Tees mit Gras und wenn ich es rauchte, dann nur aus einer kleinen Graspfeife ohne Tabak. Als ich sie zwischen meinen hektischen Fingern zerkrümelte und das Ding in den Mülleimer schmiss, wir hatten ja genug davon, reagierte sie fast ungehalten. Sie baute sich dann selbst aus drei Blättchen mit einer Geschicklichkeit einen Joint, die mich staunen ließ. Sie rauchte ihn fast alleine. Ich zog nur ein paar Mal kurz aus Höflichkeit. Ich sah die Angelegenheit durchaus wissenschaftlich und handelte verantwortlich. Sabine ging ziemlich ab. Sie sang, tanzte und flippte auf dem Dachboden herum und erzählte mir, so gehe es auch öfter in ihrer Frauengruppe ab. Und sie erzählte Witze, die ich nicht ganz verstand, weil man im bekifften Zustand automatisch vergaß, den anderen den Kontext, in dem man sich gerade über irgendwas kaputtlachte, zu vermitteln. Wie gesagt, ich war an dem Thema durchaus wissenschaftlich dran. Und schließlich setzte sie sich und fragte mich ganz direkt, ob ich nicht Lust hätte, den Anbau ein bisschen zu perfektionieren, nur so, für den Hausgebrauch. Thomas sei auch einverstanden, Thomas käme bei seinen Tai-Chi-Übungen mit ein bisschen was intus viel besser zurecht. Auch bei der Liebe tue ihnen ein bisschen Dope im Kopf ebenfalls ganz gut. Sie fänden es also viel besser, wenn sie sich aus eigenem Anbau versorgen könnten. Das Beschaffen läge ihr nämlich überhaupt nicht und Thomas erst recht nicht. Ich war natürlich einverstanden. Als Dealer hatte man immer ein ganz gutes Standing, aber ich würde daraus nie ein großes Ding machen. Ich war nicht zum Dealen gemacht, ganz anders als Mirko.

      Ein paar Tage danach kam Thomas mit einem ziemlich großen Paket zu mir und wir bauten eine Homebox auf, ein kleines Gewächshaus aus weißem Polyestergewebe, ausgestattet mit Pflanzenlampen und einer kleinen Lüftungsanlage. Auf der Verpackung war ein hübsches Foto von dem Ding in Betrieb zu sehen, mit Tomatenstauden, Basilikum und Schnittlauch auf drei Ebenen. Ich musste es auf zwei Ebenen umbauen, aber sonst war es perfekt.

      Das war die Zeit, als meine Welt in dem Haus in Lankwitz mit Sabine und Thomas unter einem Dach weitgehend in Ordnung war und ich die grundsätzlichen Umstände meines Lebens nicht weiter belastend fand. Ich begann, aus den Blüten Öl zu destillieren. In der Küche der Souterrainwohnung bastelte ich mir eine Destillationsanlage und praktischerweise stand dort auch die Gefriertruhe. Mit dem Öl machte ich intensive Versuche. Ich verdünnte es so lange mit Olivenöl, bis es endlich so subtil wirkte, wie ich es haben wollte.

      Und dann lernte ich am Anfang der Sommerferien Annie kennen und alles änderte sich. Sie war nicht an meiner Schule in Lankwitz, sondern am Droste-Hülshoff Gymnasium in Zehlendorf und wollte später unbedingt Pianistin werden. Ich hatte sie beim Schwimmen in der Krumme Lanke kennen gelernt. Meine halbe Klasse war dort, aber Annie schien niemanden zu kennen. Sonst ginge sie eher zum Schlachtensee, behauptete sie. Wasser war mein Element und Annie schwamm auch wie ein Fisch. Ich schwamm die Krumme Lanke längs durch. Annie ließ sich nicht abhängen, sie versuchte sogar, mich zu überholen und lächelte mich triumphierend an, als sie auf meiner Höhe war. Dann schwammen wir synchron zum Ufer. Noch bevor wir an Land gingen, wussten wir, dass wir herausfinden wollten, wie das mit uns und dem Sex war. Das ging, wie wir beide gleich fanden, nur auf Basis einer echten Beziehung. Also verliebten wir uns. Mein erstes Mal mit Annie war ein voller Erfolg. Und dann verliebte ich mich richtig mächtig und echt in sie. Nach drei Wochen Liebe, auf der alles nochmal ganz anders war als auf Gras, wollte ich sie Sabine und Thomas vorstellen und kündigte sie stolz an. Annie war Lehrerkind wie ich – und wie sich herausstellte, die Tochter von Sabines Rektor. Sabine war total aufgeregt. Thomas sagte nicht viel, nur okay, du bist ja auch schon ziemlich weit, so körperlich und auch sonst. Und er brachte die Sache mit dem Kindermachen nicht zur Sprache, was ich ihm hoch anrechnete und wie eine Auszeichnung empfand. Natürlich musste er darüber nicht mehr mit mir sprechen.

      Aber ich musste beiden schwören, alles, was auch nur im Entferntesten mit Cannabis zu hatte, auf den Dachboden zu befördern und die Stiege hochzuklappen, damit Annie gar nicht erst auf die Idee kam, dass ein Dachboden überhaupt existierte. Das habe mit der beruflichen Konstellation der beteiligten Erwachsenen zu tun, erklärten Sabine und Thomas sehr sachlich. Und bevor sie endgültig ja sagten, schaute Sabine mir eine Ewigkeit lang in die Augen. Ich war mir sicher, sie tat das nur, um herauszufinden, dass ich Annie nichts über die Cannabisgärtnerei und schon gar nichts über ihren inzwischen recht unbekümmerten Konsum ausgeplaudert hatte. Und als sie sich sicher war, fragte sie mich auch ganz unschuldig. Ich hatte, seit ich Mirko nichts mehr abkaufen musste, mit niemandem darüber gesprochen, auch mit Mirko nicht und Mirko dachte wohl, ich sei völlig clean.

      Drei Tage bevor Annie kommen wollte, fing Sabine an, das Haus zu putzen, mit einem Eifer, als käme der Kultusminister mit Amtskollegen aus ganz Europa persönlich zu Besuch. Sie backte sogar einen Erdbeerkuchen und als Annie dann Audienz bei ihr hatte, bekam ich einen ersten Eindruck als persönlich Betroffener davon, wie es war, wenn Mütter und ihre potenziellen Schwiegertöchter um die Gunst des Prinzen rangen, um die Macht im Beziehungssystem. Sie unterhielten sich über die Pet-Shop-Boys, Franziska van Almsick und H&M, aber das war nur verschlüsselt. In Wirklichkeit sprachen sie über Eifersucht und Mordphantasien oder über einen generationsübergreifenden Dreier in Form einer religiösen Handlung, das hing ganz von der Perspektive ab. Ich hatte sehr eigenartige Gedanken, als ich die beiden beobachtete. Ohne Annie wäre es vielleicht gut ausgegangen mit Sabine, aber was konnte man im Nachhinein schon sagen. Natürlich war Sabine hin und weg von Annie. Bei Annie spürte ich Respekt in der Art, wie sie sich sehr gekonnt mit Sabine unterhielt, sogar über Schulpolitik. Dabei blieb sie superhöflich und artig wie ein sehr erwachsenes Kind. Annie war zwei Monate älter als ich und wirkte wohl schon sehr reif, obwohl sie ziemlich klein war und mir nur knapp über die Schulter

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