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Als Schöpfer war also jener Meisterschnitzer belegt, der im achtzehnten Jahrhundert in Kyoto wirkte und in Standardwerken über Netsuke als einer der künstlerisch herausragenden Meister seiner Zeit galt.

      Es gab noch weitere Belege für die außergewöhnliche Qualität dieses Netsuke, die aus wissenschaftlicher Sicht gleichermaßen hoch zu bewerten waren. So existierte eine alte, auf Dezember 1989 datierte Einschätzung eines deutschen Auktionshauses in Köln. Dessen Experten waren auf Asiatika spezialisiert und seit zwei Generationen in der Fachszene als eine der höchsten Instanzen bei der Bewertung dieser Gürtelknebel bekannt. Außerdem fand sich die Abbildung und Dokumentation exakt dieses Netsuke in einem anerkannten Standardwerk über japanische Kleinkunst aus dem Jahr 2018. Die Identität des Stücks war hierin zusätzlich optisch abgesichert durch mehrere stark vergrößerte Detailaufnahmen der Signatur ›Masanao‹ sowie weiterer charakteristischer Schnitzdetails. Es war unzweifelhaft genau dieses Netsuke, das im Original vor ihnen lag, sie beide in den vergangenen Wochen so intensiv in ihren Bann gezogen hatte und in den kommenden Monaten weiter beschäftigen würde.

      Als Tomomi, wie immer seltsam gebannt und fasziniert beim Anblick der Schnitzerei, schon wieder ein seltsames Kribbeln am Körper spürte, wurde der kleine Adler in ihren Gedanken regelrecht lebendig, so sehr berührte seine Aura ihre Fantasie. Im Innersten glaubte die Japanerin fast zu hören, wie es aus der Vitrine in sie drang und säuselte: ›So löst doch endlich mein Rätsel und gebt mir meinen Frieden zurück.‹

      Tomomi riss sich zusammen, rief ihre Gedanken wieder zu logischer Ordnung und war sich bewusst, dass es eigentlich nicht nur das Netsuke selbst war, das ihnen so große Rätsel aufgab. Es war vielmehr auch der Inhalt jener seltsamen Schatulle, die zu diesem Netsuke zu gehören schien und von der Marco Renke immer recht geheimnisvoll sprach.

      Die junge Chemikerin hatte nur ein einziges Mal einen Blick auf diese ungewöhnliche Beigabe werfen können, denn ihr Chef hielt diese stets in dem kleinen Tresorraum verschlossen, der an sein Büro angrenzte. Sie erinnerte sich aber gut an die mit Schnitzereien verzierte Holzschatulle von der Größe eines Pilotenkoffers. Diese öffnete sich mittig und die beiden dann zugänglichen Hälften ließen sich ein weiteres Mal nach außen aufklappen, sodass vier gleich große flache Behältnisse nebeneinander vor dem Betrachter lagen, durch kunstvolle Messingscharniere miteinander verbunden. Diese einzelnen Abteile waren jeweils weiter untergliedert, teilweise in Dokumentenfächer, teilweise in mit Samt ausgepolsterte Behältnisse und Futterale, manche mit Deckeln oder Befestigungen versehen.

      Der Koffer schien nur teilweise gefüllt zu sein mit Schriftstücken und kleinen Objekten. Zumindest soweit sie es damals sehen konnte, als ihr Marco einen kurzen Blick auf seine ›Schatztruhe‹ gönnte, wie er ihn ironisch nannte. Er hatte Tomomi bei dieser Gelegenheit auf zwei Details des Inhalts näher hingewiesen, bevor er die Schatulle wieder zusammenklappte und wegschloss: Auf ein Dokument, das er einem der flacheren Fächer entnahm und ihr vor die Augen hielt, sowie auf eine im Koffermittelteil integrierte Miniaturvitrine, die aus dickem, glasklarem Kunststoff bestand. Im Zentrum dieses kleinen aufklappbaren Quaders war eine exakte Negativform des Adler-Netsuke zu erkennen, ausgekleidet mit einer dünnen, weichen Silikonschicht. Dies stellte einen sicheren und maßgefertigten Aufbewahrungsort für das kleine Prachtstück dar.

      »Nun hast du auch das Original gesehen – nicht, dass du glaubst, ich will dich zum Narren halten.«

      Er hatte es damals mit einem Schmunzeln gesagt, aber sein Blick drückte etwas anderes aus. Es ging ihm ernsthaft darum, sie ins Vertrauen zu ziehen und sicherzustellen, dass sie sich der Seriosität ihrer gemeinsamen Nachforschungen trotz derart skurriler Umstände bewusst war.

      Den Text auf dem handgeschriebenen, leicht vergilbten Dokument kannte sie bereits aus einem Scan, den ihr Marco einige Tage zuvor spät abends überraschend zum Lesen gemailt hatte. Normalerweise belästigte er seine Mitarbeiter nicht in ihrer Freizeit, so gut kannte sie ihn schon. Sein Begleittext in der Mail lautete damals: ›Was hältst du von diesem netten Stück Prosa? Viel Spaß bei der Lektüre, ich freu' mich auf dein Feedback in den nächsten Tagen.‹

      Sie hatte den Text sofort gelesen, anfangs eher verwundert und amüsiert, dann plötzlich alarmiert und schließlich hellwach. In der folgenden Stunde studierte sie die wenigen Seiten dann intensiv und hinterfragte einzelne Aussagen darin mittels diverser Internet-Recherchen. Zunächst erschien es ihr völlig abwegig, dass diese Kurzgeschichte tatsächlich einen realen Bezug zur Herkunft des Elfenbeins haben sollte, aus dem Masanao dieses Netsuke geschaffen hatte. Aber wenn sie die rein logische Bewertung der Sachlage ignorierte, räumte sie intuitiv ein, dass an dieser Geschichte vielleicht doch etwas dran sein könnte. Irgendeine Verbindung musste es geben, schließlich hatte jemand jene Schatulle anfertigen lassen, um genau diese Schnitzerei zusammen mit genau diesen Schriftstücken, unter anderem dem Dokument mit der Überschrift ›Tod in Afrika‹ als eine Einheit aufzubewahren.

      Die merkwürdige Erzählung war Tomomi, während sie mit Marco schweigsam vor der Wandvitrine stand, wieder sehr präsent. Es kam ihr fast beängstigend vor, dass der Inhalt dieses Dokuments mit der Datumsangabe ›Fünfter Mai 1986‹ so perfekt mit ihren neuesten Forschungsergebnissen übereinstimmte. Damals beim ersten Lesen hatte sie sich anfangs ein süffisantes Schmunzeln aufgrund des etwas schwülstigen Schreibstils und der blumigen Darstellung nicht verkneifen können. Das Ende allerdings ernüchterte sie und der letzte Satz wirkte wie ein kleiner Schock.

       Tod in Afrika

      Er strotzte vor Kraft und strahlte Gelassenheit und Zielstrebigkeit aus, als er den durch Felsen verengten Eingang des ausgetrockneten Flussbetts passierte. Aber sein Leben sollte hier bald ein Ende finden.

      Die Herde, in der er vor vielen Jahrzehnten aufgewachsen war, hatte ihn bereits im Alter von acht Jahren verstoßen, also lange vor der für die Separierung von Jungbullen üblichen Zeit. Denn er war anders. Er war viel größer und kräftiger als seine Altersgenossen und überragte schon in jungen Jahren die ausgewachsenen Elefanten in seiner Herde. Seine Haut war fast rosa-weiß, was ihn im dichten, grünen Dschungel an den Ufern des großen Flusses, den man später Volta nennen sollte, wie einen Fremdkörper wirken ließ. Seine Augen, die mit deutlich verminderter Sehkraft ausgestattet waren, funkelten blutrot aus dem unförmigen hellfarbenen Kopf. Der Schädel war bei dem Jungtier grotesk erhöht im Vergleich zu seinen Spielgefährten, die eigentlich keine waren für ihn – er blieb von Anfang an ein Einzelgänger und wurde ausgegrenzt von einer artspezifischen Sozialisierung im Herdenverbund. Im Gegensatz zu den anderen besaß er nur einen einzigen wirklichen Stoßzahn, aber was für einen! Während der linke verkümmert und kaum eine Handspanne lang war, ragte der rechte schon bald über einen Meter aus seinem mächtigen Oberkiefer heraus und zwang seinen jungen Nacken, sich immer wieder und immer tiefer zu beugen. Im dichten Wald war dies anfangs ein Problem für den rasch heranwachsenden Jungbullen, denn sein sperriger Stoßzahn verfing sich oft in den Schlingpflanzen und im Unterholz, zumal er leicht nach außen gebogen war, nicht wie bei seinen Artgenossen nach innen. Während diese sich flink und problemlos durch den Urwald bewegen konnten, musste er sich halbblind seinen Weg mit brachialer Gewalt durch das Dickicht bahnen, um mit ihnen Schritt zu halten. Doch mit wachsenden Kräften und seltsam geschärften anderen Sinnen für seine Umgebung gelang ihm dies zunehmend besser.

      So wenig wie ihn die Natur bei der Geburt begünstigt hatte, als sie ihn mit derartigen genetischen Absonderlichkeiten versah, so wenig meinte es auch das weitere Schicksal gut mit ihm. Noch keine fünf Jahre alt verlor er seine Mutter und Tanten durch einen verheerenden Waldbrand, der die halbe Herde in Panik in einen Abgrund stürzen ließ. Nachdem er so auf einen Schlag seine direkte Protektion und sein vertrautes Habitat verloren hatte, war es nur eine Frage weniger Jahre, bis die Herde ihn vollends ausgrenzte und er schließlich seiner eigenen Wege ging.

      Es war jedoch nicht nur dieser Gruppendruck, der auf ihm lastete. Da wirkten auch seltsame Antriebskräfte in seinem Innern, die ihn auf die äußeren Umstände plötzlich und willig eingehen ließen. Vielleicht könnte man das, was in seinem Körper und Gehirn vorging, mit den geheimnisvollen Sinnen und Leitprozessen von Zugvögeln vergleichen. Oder mit jenen von Fischen, die – durch Instinkte und uralte Prägungen getrieben – zu fernen Laichplätzen aufbrechen, an denen die Vorfahren einst geboren worden waren. Es zog den Elefanten

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