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Akademie der Wissenschaften waren eindeutig und Grenoble galt als die weltweit führende Autorität bei diesen Analyseverfahren. Nach einer schnellen Dusche und für ihre Verhältnisse kurzen Sitzung vor dem Schminkspiegel hatte sie sich sofort auf den Weg zu ihrem Chef gemacht, obwohl es erst kurz nach sieben war. Sie wusste, dass er um diese Zeit meistens schon in seinem Büro saß.

      Unterwegs wirbelten unterschiedlichste Gedanken durch ihren Kopf. Sie war regelrecht geflasht von dem, was sie hier miterlebte. Im vergangenen Jahr, als sie in München noch für ihre Studienabschlussarbeit recherchierte, war sie voller Bewunderung für die Forschungsergebnisse anderer. Vieles empfand sie als ›interessant, erstaunlich, beeindruckend‹, manchmal auch ›genial‹. Aber das hier, seit sie in Peking mit Marco zusammenarbeitete, das war wirklich atemberaubend spannend – und sie ein aktiver Teil davon! Tomomi konnte daher ihre Aufregung nicht unterdrücken, als sie nach dem Betreten des Raumes den Tablet-Computer vor ihrem Chef auf den Schreibtisch gelegt hatte.

      Doktor Marco Renke blickte sie noch immer etwas verwundert an. Er schätzte an seiner jüngsten Mitarbeiterin vor allem ihr normalerweise unaufgeregtes Verhalten. Ihr völlig ungewohnter Erregungszustand, der anhand von Lautstärke und Stimmlage unüberhörbar war, machte ihm sofort klar, dass etwas Besonderes geschehen war. Wofür auch die Uhrzeit sprach – meistens war er bis etwa neun Uhr alleine im Büro. Er liebte diese Routine, denn so konnte er ungestört seine kreativste Phase am frühen Morgen nutzen. Renke kratzte sich lächelnd den grauen Dreitagebart und streckte zunächst einmal seinen schlaksigen und von der Schreibtischarbeit etwas steif gewordenen Körper. Er löste sich nur langsam aus der tiefen Konzentration, in die er bis zu dieser Störung wegen einer schwierigen Textstelle in einem Fachartikel versunken war. Mit beiden Händen fuhr er durch seinen noch immer üppigen, grauen Wuschelkopf und antwortete seiner Mitarbeiterin schließlich mit einem Augenzwinkern: »Naja, liebe Tomomi, ich denke um diese Uhrzeit wünsche ich dir erst einmal einen guten Morgen und dann sehen wir weiter. Was hat dich denn so früh aus dem Bett gejagt? Ist dir unser Adler als Geist erschienen?«

      Ein leichtes Erröten breitete sich über ihr Gesicht aus, weil sie vor Aufregung sogar das Grüßen vergessen hatte, aber das starke Make-up überdeckte ihre Verlegenheit.

      Marco überflog die Zahlen und Kurztexte auf dem Touchscreen, zunächst quasi diagonal im Schnelldurchgang, dann ein zweites Mal mit deutlicher sichtbarer Konzentration. Ihre Augen trafen sich.

      »Also doch! Whow, Tomomi, deine Idee war echt super! Das ist wirklich sensationell – und ein wenig gespenstisch!«

      In die sichtliche Anspannung mischte sich bei beiden zunehmend jene erlösende Begeisterung, wie man sie nur bei der unerwarteten Erfüllung wirklich großer Hoffnungen empfindet. Strahlende Augen, breites Lächeln und ein fast spürbares Knistern in Vorfreude auf die plötzlich noch geheimnisvollere Forschungsarbeit.

      Vor einem Monat hatten sie der Elfenbein-Schnitzerei, die im Fokus ihrer momentanen Untersuchungen stand, eine winzige Materialprobe entnommen. Diese war auf Tomomis Anregung hin nach Grenoble zu einer der aufwändigsten und kostenintensivsten chemischen und material-technischen Charakterisierungen geschickt worden, die je einem solchen Objekt zuteil geworden war.

      Das vorliegende Ergebnis der diversen chemischen Spezialanalysen wies selbst bei pessimistischer Auslegung der methodischen Fehlerbreiten eine Herkunft des Elfenbeins aus Westafrika, Zentralafrika und Ostafrika nach. Wohlgemerkt nicht entweder/oder, sondern sowohl/als auch. Dieses Tier musste also den ganzen afrikanischen Kontinent durchwandert haben, wie die Zusammensetzung seines Zahnmaterials eindeutig bewies!

      Ungewöhnlich und bisher unerklärlich war ein extrem hoher Holmium-Wert – dieses seltene Element war bei biologischem Material normalerweise nur in minimalen Spuren vorhanden, in ihrer Elfenbeinprobe jedoch über 10.000fach erhöht. Die Radiokarbon-Altersbestimmung ergab als Todeszeitpunkt des Elefanten das Jahr 1350 +/- 20 Jahre. Die Genanalysen wiesen das Tier als einen damals etwa achtzig Jahre alten, männlichen Elefanten der Art Loxodonta Cyclotis aus. Also als einen üblicherweise kleinwüchsigen Waldelefanten, wie sie früher in den tropischen Regenwäldern Westafrikas heimisch waren. Die spezielle Population, auf welche die Vergleichsdaten der Europäischen Zoologischen Gendatenbank in London hindeuteten, war in Ghana anzusiedeln. Sie galt allerdings nach den Wirren des Westafrika-Krieges seit etwa zehn Jahren als ausgestorben. Diese Artzuweisung widersprach deutlich der aufgrund einer Strukturanalyse abgeleiteten Aussage, dass der Stoßzahn, zu dem die Probe gehörte, vermutlich eine Gesamtlänge von etwa vier Metern hatte. Also doppelt so lang war wie bei dieser Art üblich und auch länger als jeder bislang bekannte Elefantenstoßzahn überhaupt!

      Die weiteren Materialanalysen bewiesen, dass der seltsame Waldelefant, der dieses Elfenbein geliefert hatte, in mehrfacher Hinsicht sehr ungewöhnlich gewesen war. Einzelne DNA-Sequenzen offenbarten eine angeborene Pigmentstörung, er war definitiv ein Albino, also einer der äußerst seltenen weißen afrikanischen Elefanten. Außerdem war das Tier aufgrund genetisch bedingter Wachstumsstörungen wohl ein grotesker Riese unter seinesgleichen, mit vermutlich über vier Metern Schulterhöhe erheblich massiger als es bei Waldelefanten jemals dokumentiert worden war. Was wiederum mit der enormen Stoßzahnlänge gut korrelierte.

      Doch nicht diese an sich zwar interessanten, aber höchstens für Zoologen spektakulären Fakten bewegten die beiden Forscher. Es gab einen ganz anderen, wirklich mysteriösen Grund. Weil Tomomi jener in just diesem Moment wieder deutlich bewusst wurde, verstärkte sich ihre Erregung zu einer wohligen Gänsehaut, die ihr langsam bis in den Nacken hoch stieg.

      Denn die außergewöhnliche Herkunft des Rohmaterials, aus dem dieses Kunstobjekt geschnitzt worden war, hatte jemand bereits in einem fünfzig Jahre alten Essay genau beschrieben. Der Verfasser war in der Darstellung so präzise, als sei er den Spuren dieses Elefanten zu dessen Lebzeiten im vierzehnten Jahrhundert selbst gefolgt!

      Definitiv hatte in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch niemand die technischen Möglichkeiten, solche Details zur Materialherkunft einer Schnitzerei aus siebenhundert Jahre altem Elfenbein herzuleiten. Die hierzu notwendigen Analyseverfahren waren zu jener Zeit noch nicht vorhanden oder benötigten eine Mindestprobenmenge, die unmöglich von einem so kleinen Objekt hätte entnommen werden können. Das war wie Zauberei! Die beiden Wissenschaftler standen somit vor einem Rätsel, das ihre Logik momentan überforderte und ihren Forscherdrang anspornte.

      Marco und Tomomi gingen langsam durch den weitläufigen Büroraum zur in der Wand eingebauten Panzerglasvitrine und blickten, wie schon so oft, fasziniert auf das Objekt ihrer Untersuchungen. Dort stand unter Schutzglas, bei definierter Luftfeuchte und Temperatur sowie durch spezielle LED-Lampen ins rechte Licht gesetzt, eine etwa fünf Zentimeter große Schnitzerei aus Elfenbein. Die Figur stellte in ausgewogenen Proportionen, detailgenau und künstlerisch ausdrucksstark einen sitzenden Adler mit angelegten Schwingen dar, der einen kleinen Affen als Beute in seinen Fängen umklammert hielt.

      Es handelte sich um ein japanisches Netsuke, also einen vollplastisch geschnitzten Gürtelknebel mit zwei Schnurlöchern zur Befestigung kleinerer Gegenstände am Obi, dem breiten Gürtel des Kimonos. Im Japan des siebzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts waren diese kleinen Gürtelschmuckstücke, meistens aus Elfenbein, Hirschhorn oder Holz gefertigt, weit verbreitet. Sie dienten in erster Linie dem praktischen Zweck, Utensilien wie Pillendose, Pfeifenset oder Schreibzeug mittels einer Seidenschnur sicher und dennoch leicht abnehmbar am Obi festzuklemmen, denn die damals übliche Kleidung der Männer hatte keine Taschen. Darüber hinaus boten Netsuke auf elegante Weise die Möglichkeit, den Kunstsinn und Wohlstand des Trägers dezent zur Schau zu stellen. Später hatten sich diese Schnitzereien, insbesondere in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, weltweit zu beliebten Sammlerobjekten entwickelt. Künstlerisch hochwertige, nachweislich von prominenten Schnitzern stammende Netsuke erzielten ab Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts auf Kunstauktionen und im internationalen Antiquitätenhandel enorme Preise. Gute Stücke konnten einen Marktwert von mehreren zehntausend bis zu dreihunderttausend Euro erreichen.

      Dass es sich bei diesem Netsuke hier um ein Spitzenstück handelte, davon konnten die beiden Forscher zweifelsfrei ausgehen. Das belegte ein vor fünf Jahren hausintern durch die Japonika-Experten des UNTACH angefertigtes Gutachten. Bei jeder Neueinlieferung war eine solche Bewertung durch ein Team

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