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wieder nach zwei (gefühlt hundert) Minuten. Und dann regelmäßig. Mein Puls beschleunigte sich deutlich, das lautstarke Gezänk rechts, links und vor mir wurde zu einem reinen Hintergrundrauschen.

      Als die elendige Show endlich vorbei war, traf ich sie vor den Toiletten. Sie kam aus der Damentoilette und ich war auf dem Weg in die für Herren.

      Wir sahen uns an und es passierte das, was ich einmal zum Thema „Liebe auf den ersten Blick“ gelesen oder in einer Fernsehdokumentation gesehen hatte. Dort hieß es: „Auslöser sind Blickkontakte, die oft nur Bruchteile von Sekunden länger dauern, als es normalerweise der Fall ist“. Ich fühlte mich wie Obelix, als er sich in Falbala verliebte: In meiner Sprechblase tauchte ein rotes Herz auf, das langsam immer größer wurde.

      Sie redete frisch darauf los; was sie sagte, weiß ich nicht mehr, weil ich nur noch zum Teil online war. Es muss so etwas wie: „Da sind wir wohl nicht ganz auf der gleichen Linie“ oder „schön, wenn man sich noch so streiten kann“ gewesen sein – vielleicht aber auch nicht.

      Ich stammelte deutlich weniger frisch so bedeutende Aussagen wie: „Ähhh…., ich glaube eigentlich…. hmm – weiß nicht genau… ähh… oder doch? Wenn Du…. und ich kenn die beiden gar nicht so… also schon… aber…“.

      Ich weiß nicht mehr, wie lange dieses Elend dauerte. Als ich mich wieder fand, stand ich immer noch mit hängenden Armen zwischen den Toilettentüren, die Augen auf unscharf gestellt. Heinz und Werner hatten mich in ihre Mitte genommen, aber von den weltbewegenden Ereignissen augenscheinlich wieder einmal nichts mitbekommen.

      „Ganz schön anstrengend, der Klassenkampf“ meinte Heinz und Werner fügte hinzu: „so schlecht waren wir doch gar nicht - aber du siehst aus, als hättest Du gerade die vernichtende Endphase des Kapitalismus durchlebt.“

      „Nö, nö“ murmelte ich, „vielleicht eher so etwas wie das Gegenteil.“

      „Muss ich nicht verstehen“ grummelte Werner, „ich brauch Hopfenkaltschale – D12, hoch dosiert“.

      Wir verließen das Etablissement und liefen die wenigen hundert Meter zu Pidos „Hinkebein“. Unterwegs fiel mir mit Schrecken ein, dass ich vergessen hatte, sie nach ihrem Namen oder zumindest ihrer Telefonnummer zu fragen. Mist – wie gewonnen, so zerronnen.

      Zum ersten Mal schmeckte das Bier nicht, die Themen waren langweilig und die beiden Typen waren mir irgendwie fremd. Die Zeit wollte und wollte nicht vergehen.

      Ich benutzte irgendeine Ausrede und ging früh nach Hause. Einschlafen funktionierte überhaupt nicht und ich drehte mir noch eine Zigarette und setzte mich ans offene Schlafzimmerfenster.

      „Ich bin ein Verlierer und kann nicht mal die primitivsten Dinge der Welt – zu dumm für alles. Kann nichts draus werden, aus so einem!“

      Um halb eins klingelte das Telefon. Auch das noch! „Ja?“ meldete ich mich lustlos.

      „Hallo, hier ist Verena; Du weißt, von heute Abend“.

      „Na, klar… ähh…, das ist aber schön“.

      Nur nicht wieder grobe Fehler machen, konzentrieren, nichts Falsches sagen, nicht noch dümmer wirken als sowieso schon!

      „Woher hast Du meine Telefonnummer?“

      „Hast Du mir doch selbst vor knapp drei Stunden gegeben – und ich musste versprechen, dich um Punkt halb eins anzurufen. Und: Voila!“

      Ha! Ich Held! Ich Casanova! Das schafft außer mir keiner!

      Das Gespräch dauerte knapp zwei Stunden. Weil es ein „Ortsgespräch“ war – das gab es damals noch – kostete es, obwohl es Gold wert war, nur zwanzig Pfennig.

      * * *

      Unser erstes Treffen fand im Schlosscafe statt. Wir tranken Martini – ich zum allerersten Mal – und wir erzählten uns unsere jeweilige Geschichte.

      So jemanden wie mich hatte sie noch nie kennengelernt. Die ganze Welt, aus der ich kam, war ihr zutiefst fremd. Aber sie empfand auch eine gewisse Faszination.

      Groß geworden bin ich im ersten Stock eines Reihenendhauses im Vorort einer Kleinstadt in Nordrhein Westfalen und bin das einzige Kind meiner Eltern. Mein Vater war Tiefbauarbeiter, der jeden Tag schwer schuften musste, um das nötige Geld an die Burg zu bringen. Er ging früh aus dem Haus und kam in der Regel erst zurück, wenn es bereits dunkel wurde. Jede bezahlte Überstunde war ihm recht.

      Das Geld gab es noch bar in einer Lohntüte. Die Männer hatten einen Trick herausgefunden: Die Tüte wurde vorsichtig am unteren, unverdächtigen Ende geöffnet und ein paar Mark herausgeschüttelt. Die wurden dann gemeinsam mit den Kollegen in einer der vielen Eckkneipen in Bier und Korn investiert.

      Der Lohntüten-Trick war ein kleines Geheimnis, das aber jeder kannte. Insbesondere auch die Ehefrauen, die zum einen riechen konnten und zum anderen generell nachzählten, ob das Geld in der Tüte auch dem Betrag auf der beigefügten Abrechnung entsprach.

      Ich glaube, jede von ihnen hätte auf den Pfennig genau sagen können, wieviel der Gatte abgezweigt und „verflüssigt“ hatte.

      Vermutlich wussten das wiederum auch die Männer. Aber dieser „Deal“ – wie man heute sagen würde – machte allen Beteiligten Spaß und hielt eine Ehe auch in schweren Zeiten zusammen.

      Mein Vater hätte es schön gefunden, wenn ich frühzeitig eine Lehre absolviert und dann schnellstmöglich entweder Geld nach Hause gebracht hätte oder ausgezogen wäre, um ihnen nicht länger auf der Tasche zu liegen.

      Meine Mutter sah das genau anders. Sie war als Kind eine sehr gute Schülerin und ihr Lehrer hatte sich dafür eingesetzt, dass sie eine weiterführende Schule besuchen sollte. Dieses Vorhaben scheiterte aber an ihrem Vater – meinem Großvater. Sein einziger Kommentar soll „alles Quatsch, ist doch nur ein Mädchen“ gewesen sein.

      So wurde sie „nur“ Hausfrau und Mutter. Wissen und Bildung stellten aber für sie lebenslang die bedeutendsten Güter dar. Sie hätte alles dafür gegeben – auch den letzten Pfennig für Nachhilfe, wenn es nötig gewesen wäre – dass ich eine vernünftige schulische Ausbildung und, wenn irgend möglich, ein Studium absolvierte.

      Immer versuchte sie, von dem Geld aus der Tüte etwas für schlechtere Zeiten und für mein Studium zurückzulegen. In fast jedem Jahr machten ihr Vaters Arbeitslosigkeit im Winter und das damit verbundene „Stempelgeld“ – wie das Arbeitslosengeld damals noch hieß – oder das karge Schlechtwettergeld einen Strich durch die Rechnung und dezimierten das gerade angesparte Guthaben wieder auf ein Minimum.

      Dennoch geschah es, dass ich in der langen Reihe meiner Ahnen, mütterlicherwie väterlicherseits, der erste Student und der erste Akademiker wurde.

      Drei Tage bevor sie an Krebs starb, durfte meine Mutter noch erleben, dass ich mein Vordiplom in Psychologie mit hervorragenden Noten bestand.

      Mein Vater war auch stolz, konnte aber mit dem Begriff „Psychologe“ nie richtig viel anfangen. „Elektriker“ hätte ihm mehr zugesagt, zumal man den in verschiedensten Lebenslagen gebrauchen kann. So wie auch Frisör oder Maler.

      Und in der Tat hat er bis zu seinem Tod ein paar Jahre nach meiner Mutter Elektriker, Frisöre und Maler häufig benötigt. Psychologen nie.

      Für Verena war jemand, der mit Ofenheizung groß geworden ist und erst mit sechzehn mit Messer und Gabel essen lernte, wie jemand aus einer anderen Welt.

      Das Schicksal muss Humor haben, um zwei so unterschiedliche Menschen zusammenzubringen. Ich stelle mir vor, es lehnt sich dann zurück und hofft, es gibt etwas zu lachen – oder etwas Spannendes.

      Und da hat es nicht umsonst gehofft, das Schicksal…

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