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die Wut der Kinder, die jahrelang - und nach wie vor - acht Kilometer hin und zurück ins Freibad fahren, ist nicht zu unterschätzen. Es gibt Stellen im Zaun, durch die man die Stege im See sehen kann. Dort kann man nachmittags auch sehen - und vor allem hören -, wie sich die Kinder der „Geldsäcke“ in der ehemaligen Reh-Tränke vergnügen.

      „Der Zutritt des gesamten Areals für Nicht-Anwohner ist verboten“.

      So sahen sich die Neusiedler von Anfang an gezwungen, ihre Kinder mit dem Auto zu Kindergarten, Schule, Flötenunterricht und Ballett zu bringen und anschließend wieder abzuholen. Oder bringen zu lassen.

      Die Angst vor Übergriffen der als gewaltbereit eingestuften Dorfjugend war bei den Neubürgern allgegenwärtig. Nicht verstanden haben sie die Ursachen dieser Polarisierung: Schließlich haben sie Haus und Grund gekauft und ordnungsgemäß bezahlt.

      Bis heute ist es – bis auf kleinere Rangeleien unter Schülern – ruhig geblieben. Aber der bebaute See ist zur Exklave geworden. Auch die „Neuen“ haben untereinander kaum Kontakt gefunden. Zu groß ist wohl die Konkurrenz um Geld und Prestige und zu klein sind die Gemeinsamkeiten.

      * * *

      Um halb sieben wurde Verena nervös. Ihr Lächeln sah gefroren aus, immer häufiger schaute sie zur Uhr. Für sieben Uhr waren die ersten Gäste avisiert. Ich spürte, dass sie etwas sagen wollte, sich aber unsicher war, ob die Zeit dafür schon reif war. Oder sie hoffte, dass ich selbst drauf käme, was zu tun war.

      „Ich geh dann mal nach oben und wünsche Dir einen super-bombig-schönen Abend. Bin sicher, dass alles klappt.“

      Küsschen links, Küsschen rechts – und Abgang.

      So unangenehm die Ereignisse im letzten Jahr auch waren, sie tragen jetzt doch die richtigen Früchte!

      Ich muss, ja darf nicht am „großen Sommerfest am Diamantsee“ teilnehmen, sondern darf mich in mein Arbeitszimmer unterm Dach zurückziehen. Ich habe sozusagen einen richtig freien Abend gewonnen.

      Verena wird mich bei allen entschuldigen. Mit schräg gelegtem Kopf und traurigen Augen wird sie vermelden: „Ihr wisst ja, wie das ist, wenn das Business ruft. Eine unaufschiebbare Sache, sehr filigran, aber: Schweigepflicht! Ich weiß selbst nur ansatzweise, worum es geht. Ganze Existenzen stehen auf dem Spiel. Man mag sich nicht ausmalen, was passiert, wenn das schief geht. Vielleicht drückt Ihr meinem Mann ja die Daumen.“

      Dann sind einige beeindruckt, dass auch so einer wie ich irgendwie wichtig ist. Die anderen haben ähnliche, wenn nicht die gleiche Ausrede auch schon benutzt und haben auf diese Lösung seit dem Desaster im vergangenen Jahr gehofft. Trotzdem: „Schade, dass er nicht dabei sein kann“, „immer eine Bereicherung“ und „aber dann nächstes Jahr wieder ganz bestimmt“.

      * * *

      Ich gehe mit breitem Grinsen durchs Wohnzimmer und nehme noch die Karaffe Whisky mit. Glas finde ich auf die Schnelle keins, man kann auch direkt aus Karaffen trinken. Zumal, wenn Verena es nicht sieht.

      * * *

      Im letzten Jahr durfte ich noch dabei sein. Es fing genauso an wie heute: Audi, Mercedes und auch mal ein Bentley. Dienernde Fahrer, Garderoben-Frau mit Champagner. Begrüßung: „Wie schön“, „ich freue mich so“, „bin so glücklich, dass Du es doch noch einrichten konntest“, „toll siehst Du aus“, bla bla bla.“

      Im Laufe des Abends muss ich wohl zu viel getrunken haben.

      Die Gespräche waren wie immer. Die Zeit wollte und wollte nicht vergehen. Banker, Ökonomen, Juristen, Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater, Anlagespezialisten und alles, was die Wirtschaft sonst noch so hergibt. Kein Handwerker, kein Beamter, kein Naturwissenschaftler und kein Geisteswissenschaftler – nur ich: der Psychologe.

      Der Umgang mit Psychologen ist überall gleich. Sobald man weiß, dass sie’s sind, spricht man sie nicht mehr an. Denn vierzig Prozent der Menschen denken, „die haben selbst die größten psychischen Probleme“. Bei nahezu allen Psychologen in Serien, Krimis und Spielfilmen ist das schließlich auch der Fall. Weitere vierzig Prozent befürchten, dass die Psychologen ihnen hinter die Stirn sehen können, was auf keinen Fall passieren darf. Diese Furcht lässt ahnen, was hinter diesen Stirnen vor sich geht. Die letzten zwanzig Prozent haben entweder gar keine Ahnung, was ein Psychologe ist und tut oder sie verwechseln Psychologen mit Psychiatern und Neurologen, mit Heilpraktikern und - wenn es ganz schlimm kommt - mit Physiotherapeuten.

      Da man mich mied wie der Teufel das Weihwasser, schlenderte ich durch den Garten und versuchte, die Sommerdüfte und die Geräusche der noch im See spielenden Kinder zu genießen. Ich hielt mich an meinem Glas fest. Zuerst an einem. Dann kamen weitere hinzu. Ich wurde mutiger und sprach die Leute direkt an.

      Früher hatte ich immer Erfolg mit meinen Therapie-Storys. Jede Macke anderer Menschen interessiert die Leute eigentlich, da sie ja selber keine haben. Nichts in der Welt ist so gerecht verteilt wie Normalität und Intelligenz: Jeder denkt, er habe mehr als genug davon abbekommen.

      Auch das Elend der Hartz IV-Empfänger kommt normalerweise bei Partygästen immer ganz gut an. Diesmal – auf dem Fest vor einem Jahr – aber nicht.

      „Sorry, ich muss da drüben noch etwas mit dem Andy besprechen“.

      „Das freut mich, dass es Ihnen so gut geht – ach da drüben ist ja Verena“.

      So ungeliebt zu sein, gefällt niemandem und ich muss meine Redebeiträge wohl – so genau weiß ich das leider nicht mehr – um die Schuldfrage am Elend der Menschen erweitert haben. Und auf die rhetorische Frage, wo die Schuldigen denn seien, muss ich wohl um mich herum auf die Anwesenden gezeigt haben.

      Die nachfolgende hitzige Debatte kann ich nur noch wie durch einen Nebel erinnern. Auf jeden Fall wurde es laut. Sehr laut. Ich fürchte, es mündete in meinen Ausruf: „Dieses eure-Armut-kotzt-mich-an-Gehabe ist widerlich, armselig und passt nur zu Primaten wie euch“. Oder so ähnlich.

      Verena hat Monate gebrauch, um das wieder gerade zu biegen: „Er ist halt sehr im Stress“, „Ihr müsst ihm nachsehen“, „…. den ganzen Tag unter solchen Leuten, wer soll das aushalten?“ und so weiter und so weiter.

      Einige Gäste hat es wohl für immer vergrault. Meines Erachtens kein großer Verlust - Verena ist da leider exakt gegenteiliger Auffassung.

      Nach fast einem halben Jahr Schmollen beruhigte sich das Ganze wieder, aber ich musste versprechen, das nächste Mal verhindert zu sein.

      * * *

      So habe ich heute das große Glück, verhindert zu sein, noch vor Anpfiff den Platz verlassen zu dürfen und mit einer Karaffe Whisky in mein Reich unterm Dach verschwinden zu dürfen. Tabak und Blättchen habe ich Anfang der Woche schon besorgt und oben versteckt.

      Mein Arbeitszimmer ist schön und geräumig. Helle Tapete, kurzfloriger Teppichboden, schlichte Möbel vom Tischler, kein Schnickschnack.

      Ich ziehe mich um. Die Wärme des Tages steht noch im Zimmer - aber mit T-Shirt und Shorts lässt es sich gut aushalten.

      Leider habe ich das Zimmer in den letzten Monaten etwas vernachlässigt – genau genommen in den letzten Jahren. Auf den ersten Blick wirkt es bei ehrlicher Betrachtung eher wie eine Abstellkammer.

      Für heute Abend habe ich mir deshalb vorgenommen, alles zu sichten, neu zu ordnen, abzuheften und gegebenenfalls ohne Erbarmen wegzuwerfen. Dazwischen möchte ich an meinem Whisky nippen und - sobald es dunkel wird - eine rauchen. Das geht nur am offenen Fenster, denn Verena darf das auf keinen Fall mitbekommen. Ich hoffe, dass sich auch der Geruch an mir bis morgen verzogen hat. Ich gehe nicht davon aus, dass ich Verena heute noch sehen werde. Und morgen früh ist sie sicher voll mit den Eindrücken des heutigen Abends und wird nicht als erstes an mir herumriechen.

      Leider geht mein Fenster, was eigentlich ganz schön ist, zum See hinaus. Ich habe direkten Blick auf den Steg, auf dem sich im Moment eine Zweier- und eine Dreiergruppe Erfolgsmänner intensiv ins Gespräch vertieft haben. Sollten sie mich am Fenster sehen, wäre die ganze Tarnung aufgeflogen. Später, wenn es dunkel ist und ich das Fenster

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